Der umfassende digitale Zwilling als Grundlage für die digitale Transformation
Der digitale Zwilling wird allgemein als virtuelles Abbild eines physischen, realen Objekts oder Produkts verstanden. Dieses virtuelle Abbild kann Konstruktions-, Simulations- und andere Modelle beinhalten, die sich im Laufe der Zeit und mit Reifung des Produkts, Prozesses oder anderer physischer Objekte weiterentwickeln und verändern. Der digitale Zwilling lässt die virtuelle mit der realen Welt verschmelzen, dadurch verschwimmen die Grenzen zwischen den Bereichen Engineering und Prozess.
Dieses Konzept des digitalen Zwillings ist allerdings zu eng gefasst, wenn man es in Beziehung zu den Herausforderungen setzt, vor denen Unternehmen heute stehen: wachsende Komplexität, steigende Kosten und wechselnde Personalzusammensetzung in den Konstruktions- und Produktionsteams. Diese Herausforderungen zu meistern, verlangt deutlich nach einer umfassenden Digitalisierung, also einem viel weiter gefassten Konzept als dem, was der digitale Zwilling ist und was er kann.
Die Lösungen für die Zukunft werden von einem umfassenden digitalen Zwilling abhängen, der alle bereichsübergreifenden Modelle und Daten beinhaltet, von der CAD- und CAE-Software der Mechanik bis zum Softwarecode, zu Stücklisten, Arbeitsplänen usw.
Dieser umfassende digitale Zwilling (Comprehensive Digital Twin, CDT) hat die folgenden Eigenschaften:
- Er bietet ein genaues virtuelles Abbild des Produkts oder Prozessablaufs, das exakt der physischen Form, den Funktionen und dem Produktverhalten und seinen Konfigurationen entspricht.
- Über den Produkt- und Prozesslebenszyklus hinweg trägt der digitale Zwilling zur Simulation, zur Voraussage und Optimierung von Produkt und Fertigungssystem bei, die für die Produktumsetzung eingesetzt werden.
- Er speist die Betriebsdaten aus der realen Welt zurück ins Produktdesign und die Produktion während des gesamten Lebenszyklus des Produkts, um kontinuierlich die Qualität zu verbessern, die Effizienz zu steigern und schnell auf Kundenanforderungen oder Marktbedingungen reagieren zu können.
Der umfassende digitale Zwilling entwickelt sich ständig weiter und reift sozusagen im Gleichschritt mit dem Produkt selbst, im Zuge seiner Funktionsverbesserung, der kompletten Durchführung von Simulationen, der Erfassung von Testergebnissen und der Umsetzung von Konstruktionsänderungen. Durch die Verbindungen zu IoT und cloudbasierter Datenanalytik fungiert der umfassende digitale Zwilling auch als Teil eines geschlossenen Regelkreissystems zwischen dem Produktdesign, dem Fertigungssystem und dem Produkt im Feld, dem realen Produkt. Es entsteht ein integriertes System, mit dem das Verhalten zwischen physischen Anlagen und dem umfassenden digitalen Zwilling validiert, verglichen und optimiert wird.
Das bringt nicht nur kurzfristige Vorteile mit sich, denn die ständige Weiter- und Wiederverwendung der Daten kann Abläufe wie Konstruktionsbewertung (Design Assessment) und Tradeoff-Analysen beschleunigen und damit schneller zu wichtigen Entscheidungsfindungen führen. Darüber hinaus können Unternehmen mit dem umfassenden digitalen Zwilling neue Produktgenerationen schneller und kostengünstiger denn je entwerfen, fertigen und optimieren. Dabei kommen sie mit weniger Prototypen und weniger Tests aus und es fällt weniger Ausschuss in der Produktion an. Im Ergebnis bedeutet das einen klaren Wettbewerbsvorteil, wenn ständig wachsende Verbraucheransprüche an höhere Leistungsfähigkeit und smartere Features befriedigt werden können. Gleichzeitig werden auch Herausforderungen wie wachsende Komplexität, wechselnde Teambesetzungen und Einhaltung des Nachhaltigkeitsprinzips leichter bewältigt.
Der umfangreiche digitale Zwilling bildet die Schnittstelle zwischen physischer und virtueller Welt, verbindet die reale mit der digitalen Welt und bietet damit die materielle Grundlage für Produkte, Prozesse und andere Daten, die in der virtuellen Welt gehalten werden. Auf dieser Grundlage sorgen weitere Schlüsseltechnologien dafür, die Leistungsstärke des umfangreichen digitalen Zwillings zu optimieren, die Reichhaltigkeit der verfügbaren Daten zu vergrößern und sogar neue Formen der Zusammenarbeit zu ermöglichen.
Fünf Trends und Technologien für die Zukunft
An erster Stelle steht das Software- und Systems-Engineering (SSE). Mit der SSE-Methodik wird ein Entwicklungsprozess als Bindeglied zwischen den einzelnen technischen Bereichen geschaffen, in dem die Ingenieure ihre Produkte gemeinsam und nicht jeder für sich alleine entwerfen und konstruieren. Damit entsteht ein robuster digitaler roter Faden aus Konstruktionsdaten, Testergebnissen, Simulationen und anderen Artefakten der Produktentwicklung, der gewährleistet, dass alle diese Daten verfügbar sind, wann und wo sie gebraucht werden. Mit wachsendem Software-Anteil in allen möglichen Produktarten wird sich Software- und Systems-Engineering als entscheidendes Element für die Datenhaltung über den gesamten Produktentwicklungszyklus hinweg erweisen.
An nächster Stelle steht das Zusammenwachsen, die Integration von Informations- und Betriebstechnik, IT und OT, das Herzstück der Ökosysteme Fertigung und Konstruktion. Diese IT/OT-Integration bietet größere Flexibilität und Sichtbarkeit, die es den Herstellern erlaubt, fundierte Entscheidungen auf der Basis einer Produktionsprozessüberwachung in Echtzeit zu treffen. Durch das Zusammenwachsen aus IT und OT können Führungskräfte auch die geschäftlichen Auswirkungen einzelner Fertigungsvorgänge besser einschätzen. Es unterstützt und fördert die Zusammenarbeit und steigert die Effizienz über die gesamte Kette hinweg – vom Planen und Disponieren bis hin zur Standort-Performance.
Je mehr Daten generiert und in das Konstruktions- und Produktionsökosystem einfließen, desto eher können Unternehmen aussagekräftige Erkenntnisse aus Datenmanagement und -analyse gewinnen. Die künstliche Intelligenz (KI) kann die Verarbeitungsgeschwindigkeit und den Datendurchsatz entscheidend steigern und damit sowohl Produkt- und Prozessbeurteilung als auch Innovation beschleunigen. Heute kann die KI mit der Erledigung alltäglicher Aufgaben die Ingenieure entlasten und ihnen mehr Zeit geben, sich auf die Lösung von Konstruktionsthemen zu konzentrieren. In Zukunft wird die KI zunehmend komplexere Aufgaben automatisieren und eine größere Wirkung in den Bereichen Entwurf und Optimierung zukünftiger Produkte erzielen.
Schließlich zeigt das industrielle Metaversum (IM) weiterhin Potential für die Neuerfindung dessen auf, wie Produkte entworfen, gefertigt und gewartet werden. Wenn wir, kritisch betrachtet, die meisterlich in den CDT umgesetzte Physik auch auf das industrielle Metaversum anwenden, können wir damit eine gemeinsame und immersive Umgebung schaffen, in der schneller und intuitiver gelernt wird, Konstruktionskonzepte leichter verstanden werden und zudem neue Gedanken schnell und gründlich untersucht werden können, um Innovationen für die Zukunft voranzubringen.
Die oben beschriebenen Technologien und Trends sind für sich genommen alle Bestandteil eines weiter und größer gefassten Vorstoßes in die digitale Transformation. Mit einer erfolgreichen Synthese aus diesen Technologien können Unternehmen ihren Weg auf der digitalen Reise fortsetzen, höhere Reifegrade erzielen und ihre Leistungsfähigkeiten in Bereichen wie der generativen Gestaltung und Regelkreisoptimierung erweitern und stärken.
Die Komplexität der Produktentwicklung, Fertigung und Geschäftsprozesse wird weiter zunehmen. Unternehmen, die die digitale Transformation umfänglich auf den Weg bringen, werden in der Lage sein, die Herausforderungen am Horizont zu meistern und sich schnell vom Wettbewerb abzuheben.
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