Jenseits der Effizienz:
KI als Infrastruktur für eine nachhaltige Gesellschaft
„Technologie ist nur so viel wert wie die Werte, die wir ihr mitgeben. Die wahre Herausforderung liegt nicht im Fortschritt, sondern in der Richtung, die wir ihm geben.“
– Shoshana Zuboff, Professorin an der Harvard Business School
„Nicht alles, was zählt, ist messbar, und nicht alles, was messbar ist, zählt.“
– Albert Einstein
Der aktuelle Diskurs um Künstliche Intelligenz ist von einer zunehmend datengetriebenen Effizienzlogik durchdrungen. KI wird heute vor allem als technologisches Werkzeug begriffen, das Prozesse beschleunigt, Ressourcen schont und Problemlösungen optimiert. Doch diese Fixierung auf Effizienz und messbare Ergebnisse wirft die Frage auf, ob wir möglicherweise an den tieferen Potenzialen der Technologie vorbeisehen. Kann KI nicht mehr sein als ein reines Instrument der Prozessoptimierung? Ist es möglich, sie so zu gestalten, dass sie nicht nur Effizienz, sondern auch Werte wie Autonomie, Verantwortung und das menschliche Potenzial fördert?
Diese Fragen finden im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs zunehmend Resonanz. Philosophen wie Hans Jonas betonen die ethische Verantwortung, die jede neue Technologie mit sich bringt, besonders im Hinblick auf künftige Generationen. In der Kognitionswissenschaft spricht John Vervaeke von „Relevanzrealisierung“ als einer Schlüsselfunktion menschlicher Intelligenz, die hilft, komplexe Zusammenhänge zu erfassen und sinnvoll zu bewerten – Fähigkeiten, die auch eine nachhaltige KI-Infrastruktur fördern könnte. Stafford Beer und andere Systemtheoretiker heben die Bedeutung von Selbstregulation in komplexen Systemen hervor, um auf Wandel flexibel zu reagieren und Resilienz zu schaffen.
In diesen Stimmen zeigt sich eine Perspektive auf KI, die über den reinen Nutzen hinausgeht. Es ist ein Ansatz, der Technologie als Infrastruktur für eine nachhaltige Gesellschaft versteht, die eine ethische Grundlage bietet und auf langfristige Resilienz abzielt. Diese Überlegungen führten zu der Idee der Infosomatischen Ausrichtung, die ich in meiner Forschung entwickelt habe: ein Konzept, das KI als ethische Infrastruktur versteht, die den Menschen in seiner Potenzialentfaltung unterstützt und Räume für selbstbestimmte Entscheidungen eröffnet. Dieses Modell zielt darauf ab, eine Technologie zu schaffen, die die Möglichkeit bietet, nicht nur auf kurzfristigen Nutzen abzuzielen, sondern das Fundament einer menschenzentrierten Zukunft zu legen.
Effizienz als Ausgangspunkt, nicht als Ziel
Die Effizienzorientierung technologischer Systeme ist ein pragmatischer Ausgangspunkt, verliert jedoch an Relevanz, wenn sie ohne eine fundierte Zweckorientierung bleibt. KI kann zwar Kosten senken, Produktionszeiten verkürzen und Datenflüsse beschleunigen, doch diese Optimierungen stehen häufig in einem Spannungsfeld zu tieferen gesellschaftlichen Bedürfnissen und ethischen Überlegungen. In den Worten des Kybernetikers Stafford Beer besteht ein funktionales System nicht nur aus optimalen Prozessen, sondern aus Strukturen, die in der Lage sind, auf komplexe, sich verändernde Umwelten flexibel zu reagieren und sich anzupassen.
Die Infosomatische Ausrichtung schlägt deshalb eine KI vor, die nicht nur ein „Werkzeug“ der Effizienz ist, sondern als Struktur fungiert, die Wahlmöglichkeiten bietet und das menschliche Urteilsvermögen erweitert. Solche Systeme könnten uns ermöglichen, aktiv und mit Sinn zu handeln, anstatt uns rein reaktiv zu verhalten.
Fünf Prinzipien für eine nachhaltige KI-Infrastruktur
Um eine solche nachhaltige KI-Infrastruktur zu entwickeln, stelle ich fünf Kernprinzipien vor, die auf dem kybernetischen Denken basieren und durch interdisziplinäre Forschungsarbeiten untermauert sind. Diese Prinzipien bieten eine Grundlage für KI, die mehr ist als ein „Effizienz-Beschleuniger“ – sie ermöglichen eine Art des Technologiedesigns, die tiefere Werte wie Selbstregulation und Potenzialentfaltung berücksichtigt.
- Temporale Potenzialität: Zeit als Möglichkeit zur Entfaltung
Die herkömmliche Perspektive betrachtet Zeit als knappe Ressource, die effizient genutzt werden muss. Doch wenn wir Zeit als Medium der Potenzialentfaltung begreifen, wird sie zur Voraussetzung für langfristige Entwicklung und Bedeutungsschaffung. Ein KI-System, das auf temporaler Potenzialität basiert, könnte den Menschen darin unterstützen, seine Beziehung zur Zukunft aktiv zu gestalten und seine individuelle wie kollektive Entwicklung zu fördern.
Praktisches Beispiel: Im Gesundheitswesen ermöglichen präventive KI-Systeme langfristige Gesundheitsstrategien. Solche Systeme könnten nicht nur auf aktuelle Symptome reagieren, sondern durch kontinuierliche Analyse die Grundlage für präventive Entscheidungen schaffen, die den Menschen befähigen, autonom und verantwortungsbewusst zu agieren.
- Universelle Verkörperung: Der Mensch als integraler Teil des Ganzen
Technologische Ansätze betrachten den Menschen oft als Nutzer, der KI zur Effizienzsteigerung instrumentalisiert. Das Prinzip der universellen Verkörperung hingegen betont die Integration des Menschen in ein größeres, selbstregulierendes System. Die KI würde nicht den Menschen optimieren, sondern ihn in einem kooperativen, nachhaltigen Verhältnis zu seiner Umwelt unterstützen.
Anwendungsfeld: Projekte im Bereich der Nachhaltigkeit, bei denen KI als Plattform für klimabezogene Entscheidungen dient. Sie integriert individuelle und kollektive Verantwortungsübernahme, indem sie umweltbezogene Entscheidungen fördert, die auf gemeinschaftlicher Verantwortung basieren.
- Selbstgesteuerte Bedeutung: Sinn entsteht im Tun
In einer zunehmend digitalisierten Welt droht die Gefahr, dass Sinn und Zweck durch standardisierte Prozesse und Algorithmen nivelliert werden. Selbstgesteuerte Bedeutung setzt auf eine KI, die dem Menschen ermöglicht, eigene Sinnstrukturen zu schaffen, anstatt ihm feste Werte vorzugeben. Dies wäre eine KI, die Kontexte erkennt und dem Menschen Spielraum gibt, aus individuellen Wertvorstellungen heraus zu handeln.
Beispiel: Bildungsplattformen könnten durch KI-gestützte Lernpfade individualisierte Lernprozesse fördern. Statt Wissen standardisiert zu vermitteln, würde die KI Lernziele flexibel gestalten und Raum für persönliche Interessen schaffen, um kreative Selbstentfaltung zu unterstützen.
- Selbstregulation über Kontrolle: Anpassung statt starrer Vorgaben
Das kybernetische Prinzip der Selbstregulation, wie von Heinz von Foerster und Niklas Luhmann beschrieben, plädiert für Systeme, die sich dynamisch an ihre Umgebung anpassen können. Anstatt den Menschen durch zentrale Steuerung und Kontrolle zu beschränken, könnte KI eine Infrastruktur der Autonomie schaffen, die durch flexible Anpassungsmechanismen Wahlmöglichkeiten vergrößert.
Praxisanwendung: Verkehrssysteme, die auf Echtzeit-Daten basieren, reagieren dynamisch auf Verkehrsbedingungen und geben den Fahrern mehr Entscheidungsspielraum, indem sie alternative Routen in Echtzeit berechnen. Hier fungiert die KI als unterstützende Infrastruktur, die Flexibilität und persönliche Wahlmöglichkeiten bietet.
- Überwindung von Schwarmdynamiken: Von der Reaktion zur Reflexion
Die zunehmende Vernetzung führt zu einem Anstieg reaktiver Schwarmdynamiken. Entscheidungen werden häufig auf der Basis impulsiver oder modischer Trends getroffen, was die individuelle Entscheidungsfreiheit beeinträchtigen kann. KI könnte als unterstützendes System fungieren, das bewusste Reflexion anstelle von reaktivem Verhalten fördert.
Anwendungsfall: Ein KI-gestütztes Informationssystem, das durch kontextsensible Filterung die individuelle Urteilsbildung stärkt. Indem es Trends und Meinungen nicht blind wiedergibt, sondern gezielt Informationen aufbereitet, unterstützt die KI den Menschen in seiner autonomen Entscheidungsfindung und schafft Raum für tiefere Reflexion.
Anwendungen in der Praxis: Gesundheit und Klimawandel
Die Prinzipien der Infosomatischen Ausrichtung finden bereits in verschiedenen gesellschaftlich relevanten Bereichen konkrete Anwendungsmöglichkeiten.
Im Gesundheitswesen: Selbstregulierende KI-Systeme können individuelle Gesundheitsvorsorge durch kontinuierliche Datenanalyse unterstützen und dabei helfen, die Resilienz des Menschen zu stärken. Sie fördern eine aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Gesundheit und schaffen so eine Plattform für Prävention, die auf Selbstverantwortung und nicht auf fremdbestimmter Kontrolle basiert.
Im Bereich der klimatischen Resilienz: Eine auf Selbstregulation basierende KI könnte nicht nur Emissionswerte erfassen, sondern durch adaptive Steuerung Maßnahmen zur Klimaanpassung auf lokaler Ebene fördern. Anstatt nur zentrale Vorgaben zu machen, ermöglicht ein solches System, dass Akteure auf verschiedenen Ebenen aktiv zur Nachhaltigkeit beitragen und eigenverantwortlich handeln.
Ausblick: Perspektiven einer ethischen KI-Infrastruktur
Das Ziel einer ethisch fundierten KI-Infrastruktur besteht darin, den Menschen in seiner Potenzialentfaltung zu unterstützen und ihm Wahlmöglichkeiten zu eröffnen. Eine KI, die auf den Prinzipien der temporalen Potenzialität, der universellen Verkörperung, der selbstgesteuerten Bedeutung, der Selbstregulation und der Reflexion beruht, könnte dazu beitragen, dass Technologie nicht nur Prozesse beschleunigt, sondern zu einer Basis für langfristige soziale und individuelle Resilienz wird.
Dieser Ansatz, der auf interdisziplinären Einsichten aus der Kybernetik, Philosophie und Systemtheorie basiert, stellt das Potenzial einer KI infrage, die bloß auf Effizienz setzt. In der „Infosomatischen Ausrichtung“ entfaltet sich eine Perspektive, in der KI ein Instrument zur Förderung des Menschlichen und nicht zur bloßen Produktivitätssteigerung wird. Die Integration dieser Prinzipien in die Entwicklung und Implementierung von KI könnte den Grundstein für eine „Zivilisation der Bedeutung“ legen – eine Gesellschaft, die das Zusammenspiel von Technologie und Menschheit in einer Weise gestaltet, die auf ethischen Prinzipien und nachhaltigen Werten basiert.
Quellenliste
- Beer, S. (1981). Brain of the Firm. London: Wiley.
– Stafford Beer beschreibt in seinem Werk das Viable System Model (VSM), das die Selbstregulation und dynamische Anpassungsfähigkeit von Systemen betont und für die ethische Infrastruktur von KI als Orientierung dienen kann. - Capra, F. (2022). The organization of the living: Maturana’s key insights. Constructivist Foundations.
– Capras Werk beleuchtet die Erkenntnisse von Humberto Maturana zur Selbstorganisation und Autopoiesis lebender Systeme und betont die Bedeutung der Selbstregulation, die für eine zukunftsorientierte KI-Infrastruktur relevant ist. - Einstein, A. (1941). Science, Philosophy, and Religion: A Symposium. New York: Conference on Science, Philosophy, and Religion.
– Einsteins Gedanken zur Wissenschaft und deren gesellschaftlicher Verantwortung bieten eine ethische Grundlage, um die Rolle der KI in einem größeren sozialen und philosophischen Kontext zu betrachten. - Foerster, H. von (2003). Understanding Understanding: Essays on Cybernetics and Cognition. New York: Springer.
– Heinz von Foersters Kybernetik-Theorie zur Wahlvergrößerung und zur Selbstregulation bildet eine wesentliche theoretische Basis für die Infosomatische Ausrichtung und die Autonomieunterstützung durch KI. - Jonas, H. (1984). Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
– Jonas entwickelt eine Ethik der Verantwortung, die zukünftige Generationen berücksichtigt und die Frage aufwirft, wie KI langfristig gesellschaftlichen Mehrwert bieten kann, ohne ethische Werte zu vernachlässigen. - Kahneman, D. (2011). Thinking, Fast and Slow. New York: Farrar, Straus and Giroux.
– Kahneman beschreibt kognitive Prozesse und Biases, die auch im Kontext der Entscheidungsfindung und der Gestaltung von KI eine Rolle spielen und wertvolle Anregungen zur Relevanzrealisierung geben. - Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
– Luhmanns Theorie der sozialen Systeme und der Autopoiesis in Gesellschaften bietet eine tiefgehende Perspektive auf die Dynamik von Selbstorganisation, die in die Konzeption einer ethisch fundierten KI-Struktur einfließen kann. - Maturana, H. & Varela, F. (1980). Autopoiesis and Cognition: The Realization of the Living. Dordrecht: Reidel.
– Maturana und Varela führten das Konzept der Autopoiesis ein, das sich mit der Selbsterschaffung und -erhaltung lebender Systeme befasst und wichtige Impulse für selbstregulierende KI-Systeme bietet. - Tao, T. (2024). The limits and potential of AI. The Atlantic.
– Terence Tao beschreibt in diesem Artikel die Herausforderungen und das Potenzial von KI im Umgang mit Komplexität und bietet wertvolle Perspektiven für die Frage, wie KI jenseits reiner Effizienz als gesellschaftliche Infrastruktur gedacht werden könnte. - Vervaeke, J. (2019). Relevance realization and the cognitive science of intelligence. Cognitive Science Review.
– Vervaekes Konzept der Relevanzrealisierung ist ein Schlüsselprinzip der Kognitionswissenschaft und dient als Basis für die Idee, KI so zu gestalten, dass sie kontextrelevante Entscheidungen unterstützt und somit menschliche Autonomie fördert. - Tsvasman, L. (2019). AI-Thinking: Dialog eines Vordenkers und eines Praktikers über die Bedeutung künstlicher Intelligenz. Ergon Verlag.
– Tsvasmans Werk bietet einen Diskurs über die ethische Dimension und das Potenzial von KI als unterstützende Infrastruktur zur Potenzialentfaltung, die als Grundlage der Infosomatischen Ausrichtung dient. - Tsvasman, L. (2022). Infosomatische Wende: Impulse für intelligentes Zivilisationsdesign. Ergon Verlag.
– Dieses Werk beschreibt die Infosomatische Ausrichtung, einen Ansatz, der KI als ethische, selbstregulierende Infrastruktur versteht, die den Menschen in seiner Autonomie stärkt und ihn auf dem Weg zu einer nachhaltigen, zukunftsfähigen Gesellschaft begleitet.
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