„Nahezu grenzenlose Chancen für Blockchain“ – Ein Über- und Ausblick, der viel verspricht

Die rasante Entwicklung der Digitalisierung zeigt, dass Blockchain jetzt schon ein vielseitiger Enabler für neue Technologien sein kann. Jens Hermann Paulsen leitet bei Deloitte das Blockchain Institute, das bereits 2016 gegründet wurde, um auf der Höhe der Zeit zu sein. Das Institut ist ein interdisziplinäres Kompetenzteam aus Fachkräften, die sich ausschließlich mit der Technologie, ihren Chancen, Risiken und immer weiterwachsenden Anwendungsfeldern beschäftigen. Mittlerweile wurden über 250 Projekte in verschiedensten Industrien umgesetzt und dabei nicht nur das Kompetenzteam, sondern auch der Kreis der sowohl inhaltlich als auch technisch versierten Mitarbeiter wurde sukzessive erweitert.
Interview von DIGITALE WELT – Fremd Autorschaft
19. August 2022
Interviewpartner
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Was sind die Chancen der Blockchain-Technologie?

Auch wenn es pathetisch klingen mag, so sind die Chancen der Technologie nahezu grenzenlos. Immer öfter fällt im Zusammenhang mit Blockchain – oder besser: Distributed Ledger-Technologie – auch der Begriff Web 3.0, und auch wenn vielen noch nicht klar ist, was sich dahinter verbirgt, so geht es um nichts anderes als die Evolution des Internets von einer zentralistischen Infrastruktur. Diese war bislang maßgeblich auf den Austausch von Informationen ausgerichtet und entwickelt sich immer mehr hin zu einem durch die Endnutzer kontrollierten Ökosystem. Themen wie Smart-Contracts, Decentralised Finance (DeFi) und NFTs sind hierbei nur die Spitze des Eisbergs, und die Blockchain-Technologie bildet eines der entscheidenden Puzzleteile für diese Evolution.
Gleichzeitig ist das Web 3.0 jedoch nur eine der Chancen. Auch die Zusammenarbeit über Unternehmensgrenzen hinweg wird durch eine Technologie, welche eine demokratische Datenhaltung ermöglicht und gleichzeitig Standards vorgibt, die nicht noch erarbeitet werden müssen, drastisch vereinfacht.

Was sind die Risiken der Blockchain-Technologie?

Die Risiken der Technologie liegen vor allem in der Fehlinterpretation der Möglichkeiten oder dem falschen Einsatz als in der Technologie selbst. Ein Kernelement der Technologie ist eine erhöhte Transparenz in (Geschäfts-)Transaktionen. Zum einen erfolgt dies durch eine ggf. völlig transparente Nachvollziehbarkeit der Transaktionen, zum anderen aber durch eine Unveränderbarkeit. Setzt man diese mehrwerthaltigen Elemente falsch ein, birgt dieses durchaus Risiken – zum Beispiel im Fall der Transparenz im Bereich GDPR, oder aber bei unveränderlichen Smart Contracts, die Geschäftsprozesse exekutieren. Ist hier der Code falsch oder unsauber, lassen sich Prozesse gar nicht oder nur sehr schwer stoppen oder umkehren. Es gilt also sorgfältig mit diesen Bestandteilen umzugehen.

Wie bewerten Sie das Verhältnis zwischen Potenzial und der direkten Umsetzungsfähigkeit? Wo stehen wir aktuell bei der Integrierung von Blockchain-Technologien in der breiten Wirtschaft?

Oftmals nähert man sich dem Thema mit einer viel zu technischen Brille und verliert sich in deren Details, anstatt vorerst über die Möglichkeiten der Technologie zu sprechen. Bei anderen Technologien, welche ggf. leichter zu fassen sind, erleben wir, dass viel weniger Nachfragen zu technischen Details und Ausgestaltungen in den Vordergrund gestellt werden. Gleichzeitig führt diese kritische Haltung auch zu einer Zurückhaltung in der Umsetzung. Infolge dessen werden bestehende Potenziale, die auch rechtlich möglich wären – zum Beispiel im Finanzwesen – trotz bestehendem regulatorischem Rahmen und klaren Kostenersparnissen oft nur zögerlich umgesetzt.
Grundsätzlich kann man sagen, dass Blockchain neue Formen der Kollaboration von Unternehmen ermöglicht und auch bereits jetzt nicht nur das Potenzial, sondern auch die Reife besitzt, Geschäftsprozesse entscheidend zu verändern und intermediäre abzulösen. Gleichzeitig erfordert dies aber auch ein neues Denken im Bereich der Zusammenarbeit mit Industriepartnern oder Konkurrenten. Ein solcher Prozess ist nicht nur eine technische, sondern vor allem organisationale Herausforderung und braucht Zeit.

Kann Blockchain ein digitaler Enabler sein für eine nachhaltige Infrastruktur? Wenn ja, wie? Sind gegenwärtige Blockchain-Technologien nicht sehr energieaufwändig?

Eine Herausforderung in diesem Bereich sind die Terminologien. So wird Blockchain oftmals mit Bitcoin gleichgesetzt, wobei letzteres nur ein Anwendungsfall der Technologie ist. Bei beiden handelt es sich um Ausprägungen der Distributed Ledger-Technologien, welche oftmals eigentlich gemeint sind, wenn wir über Blockchain sprechen. Dies führt zu Konfusion und sorgt dafür, dass Merkmale des einen auf alle übertragen werden. Es stimmt, dass das so genannte Proof-of-Work-Verfahren, welches im Falle der Bitcoin-Blockchain genutzt wird, energieaufwändig ist. Doch dieses Verfahren kommt bei den meisten Plattformen nicht (mehr) zum Einsatz. Insofern kann die Technologie sehr wohl ein Enabler für eine nachhaltige Infrastruktur sein, indem sie z. B. die Einhaltung von Nachhaltigkeitskriterien innerhalb von Lieferketten kontrolliert.

Wie kann Blockchain im deutschen Gesundheitswesen zum Einsatz kommen? Wo tut es das schon?

Ein weiterer Anwendungsfall auf Blockchain-Basis ist die SSI: Gemeint ist hiermit eine „Self Sovereign Identity“, also eine selbstbestimmte digitale Identität, welche der Nutzer selbst verwaltet, ohne von einem zentralen Identitätsdienstleister abhängig zu sein. Gerade bei sensiblen Daten im Gesundheitswesen könnte sich dies als ein Konzept erweisen, welches Datensicherheit und Interoperabilität, in der notwenigen Digitalisierung des Gesundheitswesens gewährleistet. Das Potenzial für das Gesundheitswesen ist hoch, jedoch sehen wir bisher wenige Projekte wie das PharmaLedger-Projekt, wo man an einer Blockchain-basierten Lösung für klinische Studien arbeitet.

Gibt es auch Anwendungsbeispiele von Blockchain für die Automobilbranche?

Durchaus! So setzt BMW die Blockchain beispielsweise zur Lieferketten-Transparenz für die Rückverfolgbarkeit von Bauteilen und kritischen Rohstoffen in komplexen internationalen Lieferketten ein. Ein weiteres Beispiel ist die Digitalisierung des Führerscheins auf Basis von SSI, das sowohl im Flotten-Management als auch im Car-Sharing einige Vorteile ermöglicht. Nicht fälschbare Fahrtenbücher und Scheckhefte sind weitere diskutierte Anwendungsfälle.

Thema Cyber-Security: In Zeiten der globalen Cyberkriminalität – kann gerade hier Blockchain der Schlüssel zur Internet-Sicherheit sein?

Wenngleich Blockchain vermutlich nicht der eine Schlüssel als Antwort auf die Cyberkriminalität ist, so kann die Technologie doch einen Bestandteil liefern, welcher die Interaktion mit Daten sicherer machen kann. Die Verlagerung der Datenhoheit auf verschiedene Quellen und der Verzicht auf zentrale Datenspeicherung könnten Ziele weniger angreifbar machen, indem sie die Angriffsflächen minimieren und sich weniger auf zentrales Vertrauen stützen.

Sie haben auf Ihrer Website auch einen Artikel zur Verbindung zwischen Blockchain und der Medienindustrie veröffentlicht. Wie hängen diese zwei Bereiche zusammen?

Wenngleich sich die Technologie seit Veröffentlichung dieses Artikels durchaus weiterentwickelt hat, so bleiben die 2017 von uns beschriebenen Möglichkeiten, gerade im Bereich von Content-Verteilung und Monetisierung, höchst aktuell. Gerade der aktuell doch auch stark gehypte Bereich von Non-Fungible-Token (NFTs) bietet Künstlerinnen und Medienschaffenden die Chance, neue Märkte mittels Tokenisierung zu erschließen und erstmalig eindeutige digitale Güter zu schaffen. Außerdem könnte diese Entwicklung den Markt von In-Game-Assets im Bereich der Videogames revolutionieren.

Wie bewerten Sie die aktuellen politischen Fördermöglichkeiten in der Bundesrepublik Deutschland was das Thema Blockchain betrifft?

Die Bundesrepublik Deutschland ist seit 2019 weltweit eines der wenigen Länder mit einer dezidierten Blockchain-Strategie, auf die laufend durch Projekte und Gesetzgebung eingezahlt wird. Auch wenn dies noch nichts über Fördermöglichkeiten aussagt, so zeigt es doch, dass der Stellenwert der Technologie erkannt wurde. Sowohl Bund als auch Länder haben in der Vergangenheit Förderprogramme aufgelegt. Dennoch würde ich mir hier noch mehr wünschen.

Wie schätzen Sie den aktuellen technischen Stand Deutschlands hinsichtlich Blockchain im Vergleich zu anderen Ländern der europäischen Union und im globalen Vergleich ein?

Deutschland steht sowohl technisch als auch regulatorisch nicht nur im europäischen, sondern auch im globalen Vergleich gut da. Während in der Vergangenheit technische Innovationen maßgeblich von großen Spielern aus dem Silicon Valley getrieben wurden, verhält es sich hier anders. Viele der Kernentwickler befinden sich in Deutschland und Europa. Ohnehin passt der dezentrale Ansatz ideal zu unserem föderalen Modell.
Zentrale Weiterentwicklungen stammen aus unserem Wirtschaftsraum, dennoch dürfen wir uns hierauf nicht ausruhen, sondern müssen weiter an günstigen Rahmenbedingungen arbeiten, um den aktuellen Entwicklungsvorteil langfristig nutzen zu können.

Was würden Sie einem Klein- oder Mittelstandunternehmen raten, das sich kurz- oder mittelfristig mit neuen Blockchain-Technologien beschäftigen will?

Ganz klar: nicht das Rad neu zu erfinden. Die Technologie ermöglicht es sowohl neue Geschäftsfelder zu erschließen als auch Prozesse effizienter zu gestalten. Der Lösungsmarkt ist zwar noch jung, jedoch viel reifer als gemeinhin angenommen. Passend zur Technologie welche grundsätzlich auf Zusammenarbeit ausgelegt ist, wäre meine Empfehlung, entsprechende Lösungsanbieter zu begutachten und Partnerschaften sowie Kooperationsmodelle innerhalb der Industrie zu beleuchten. Kurzum: Es geht darum, an einem passenden Ökosystem zu arbeiten und nicht isoliert einzig auf Basis der Protokolle seine Eigenlösungen zu entwickeln.

Interview geführt durch:

Extern geführte und eignereichte Experten-Interviews rund um unsere Themenschwerpunkte. DW prüft und untersagt werbliche Inhalte, nimmt sonst aber keine redaktionellen Korrekturen oder Eingriffe vor.

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