Folgt die (Gen)AI-Revolution der Logik vorheriger industrieller Revolutionen?

(Generative) Künstliche Intelligenz (KI) gilt bereits als vierte Industrielle Revolution. Laut UBS werden die Umsätze der KI-Industrie bis 2027 um das 15-Fache steigen. Auf Grundlage von KI entstehen neue Geschäftsmodelle und Berufsbilder, andere verschwinden. Die Meinung der Expert:innen ist in diesem Fall einhellig und die Revolution ist bereits im Gange. Die Nutzung von generativen KI-Anwendungen hat an Fahrt aufgenommen. Die Anbieter sogenannter Large-Language-Modelle (LLMs) bieten sich einen harten Wettbewerb um Leistung und (Unternehmens-)Kunden. Mit dem EU AI Act wurde nun der erste Rechtsrahmen mit verbindlichen Regeln verabschiedet. Angesichts der zu erwartenden Umbrüche in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik stellt sich die Frage, was sich anhand vorheriger technologischer Revolutionen ableiten lässt – und was diesmal anders sein könnte? Die These lautet: Menschen und Unternehmen überschätzen die kurzfristigen (punktuellen) Mehrwerte neuer Technologie, aber unterschätzen die langfristigen, tiefgreifenden Potentiale.
Von   Maximilian Harms   |  Leitung Business Transformation Advisory Team   |  Dataiku
12. August 2024

Folgt die (Gen)AI-Revolution der Logik vorheriger industrieller Revolutionen?

 

 

 

(Generative) Künstliche Intelligenz (KI) gilt bereits als vierte Industrielle Revolution. Laut UBS werden die Umsätze der KI-Industrie bis 2027 um das 15-Fache steigen. Auf Grundlage von KI entstehen neue Geschäftsmodelle und Berufsbilder, andere verschwinden. Die Meinung der Expert:innen ist in diesem Fall einhellig und die Revolution ist bereits im Gange. Die Nutzung von generativen KI-Anwendungen hat an Fahrt aufgenommen. Die Anbieter sogenannter Large-Language-Modelle (LLMs) bieten sich einen harten Wettbewerb um Leistung und (Unternehmens-)Kunden. Mit dem EU AI Act wurde nun der erste Rechtsrahmen mit verbindlichen Regeln verabschiedet. Angesichts der zu erwartenden Umbrüche in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik stellt sich die Frage, was sich anhand vorheriger technologischer Revolutionen ableiten lässt – und was diesmal anders sein könnte? Die These lautet: Menschen und Unternehmen überschätzen die kurzfristigen (punktuellen) Mehrwerte neuer Technologie, aber unterschätzen die langfristigen, tiefgreifenden Potentiale.

 

Eine These, die sich etwas gewagt anhören mag, wenn man berücksichtigt, dass die Vorläufer von generativer KI bis ins Jahr 1976 zurückreichen. Damals entwickelte das Handelsunternehmen L.L. Bean ein Recency-Frequency-Monetary-Value-Modell, um sieben Millionen Kunden einzuteilen.

Doch dies waren eben nur die Vorläufer. Richtig Aufsehen „im Mainstream“ erregte generative KI erstmal durch ChatGPT Ende 2022 und während des letzten Jahres. 2023 wird sicherlich als das „Jahr des Experimentierens mit KI“ in die Geschichtsbücher eingehen. Experimentieren im großen Stil wohlgemerkt.

Das zeigt ein Blick auf die Zahlen. Denn verglichen mit Instagram benötigte ChatGPT nur 7% der Zeit, um eine Millionen Nutzer zu erreichen. Bei Facebook dauerte es 50 mal so lange. Bereits jetzt arbeiten Call-Center-Mitarbeitende dank LLMs 35% produktiver, Programmierer 60 bis 120 %.

Um diesen Durchbruch historisch im Kontext einzuordnen: James Watts Modifizierung der Dampfmaschine, wie von Thomas Newcomen erfunden und 1712 erstmals kommerziell eingesetzt, machte diese schlussendlich viermal effizienter.

Wenn wir auf KI blicken, reichen die Vorläufer der Technologie bis in die 1950er Jahre zurück. Erstmalig debattierten Forscher auf der Doe Dartmouth-Konferenz über das Potenzial. Alan Turing stellte 1950 den nach ihm genannten Test vor. In der unternehmerischen Praxis kamen Recency-Frequency-Monetary-Value-Modelle (RFM) erstmals in den 1970er Jahren zum Einsatz – und sparten teils immense Ressourcen ein. In den 1990er Jahren erkannten neuronale Netze bereits frühzeitig einen möglichen Kreditkartenbetrug. IBMs Deep Plue gewann 1997 gegen Schachweltmeister Garry Kasparov.  In den nächsten Jahren folgen etliche weitere Anwendungen (also fortgeschrittene KI-Lösungen für komplexe Aufgaben) und neue Entwicklungen. Zum Massenphänomen wird KI dann aber erst schlagartig Ende 2022 durch ChatGPT.

Chat GPT-4 und andere proprietäre als auch open-source GenAI Modelle werden immer leistungsstärker und multimodaler. Im November 2023 nutzte laut statistischem Bundesamt jedoch nur jedes achte Unternehmen in Deutschland KI – ob nun generative oder “traditionelle” KI. Bei Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitenden sind es immerhin noch knapp ein Drittel. Interessant ist: Bezogen auf die Nutzung von KI, um Produkte herzustellen oder Serviceleistungen zu erbringen, schneiden die USA deutlich schlechter ab. Hierfür nutzten laut Census Bureau im Februar 2024 nur 8% der Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitenden KI.

In jedem Fall gelingt es den meisten Unternehmen nicht, die herangereifte Technologie sinnvoll für sich anzuwenden, um damit Wertschöpfung und Ertrag zu steigern. In der Umfrage des statistischen Bundesamts geben die Vertreter:innen der Unternehmen als wesentliche Ursache dafür “fehlendes Wissen” an.

Was jenseits dessen die eigentlichen Gründe dafür sind, dass vielerorts das Potenzial von KI in Unternehmen nicht ausgeschöpft wird? Ein Blick auf die drei vorangegangenen industriellen Revolutionen zeigt Muster auf, wie Unternehmen mit Innovationen umgehen.

Die erste Revolution basierte auf der Dampfmaschine, die zweite auf der Elektrizität und die dritte auf der Halbleitertechnik. In allen Abläufen finden sich einige archetypische Innovationspfade und vor allem lassen sich Schemata dafür entdecken, was erforderlich ist, damit neue Technologien akzeptiert werden. Ein differenzierter Blick auf diese Revolutionen lohnt sich daher, um zu analysieren, ob und wie sich Künstliche Intelligenz in denselben Mustern entwickelt – und was uns das über den Umgang mit der sogenannten vierten industriellen Revolution verrät.

 

Punktuelle Lösungen, Applikationen und Systeme

 

  Jahr der Erfindung Im Mainstream Angekommen Ausschlaggebende punktuelle Verbesserungen
Dampfmaschine 1712 1776 James Watt steigert die Effizienz des Verbrennungsmotor
Elektrizität 1752

 

 

1830er Neuartige Applikationen, die jenseits von Licht Strom erfordern, kommen auf den Markt
Halbleiter 1947 (Transistor) Kontinuierlich steigende Verbreitung neuer halbleiter Technologien Stetige Innovation und kontinuierlich zunehmende Anwendung (von Transistorradio über Taschenrechner zu PC und zum e-Commerce bis Smartphone)
Künstliche Intelligenz 1956 2022 Einfache Handhabung via ChatGPT – schlagartiger Anstieg der Anwendung

 

Die Dampfmaschine

 

Thomas Newcomen stellte 1712 die erste kommerzielle Dampfmaschine vor, die in erster Linie dazu diente, Wasser aus Kohleminen zu pumpen. Die Frage nach Effizienz stellte sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, denn für diesen Anwendungsfall lag der Brennstoff buchstäblich überall auf dem Boden herum. Mit zunehmender Verknappung der Kohleressourcen musste früher oder später allerdings gehaushaltet werden. Vierundsechzig Jahre später änderte James Watt daher die Konstruktion von Newcomen, indem er eine Kammer zur Kühlung des Dampfes erfand, die die Effizienz des Verbrennungsmotors um das Vierfache steigerte und die erste industrielle Revolution einleitete.

Was soeben beschrieben wurde, ist eine sogenannte punktuelle Lösung, eine direkte Verbesserung oder sogar ein Ersatz früherer Energieversorgungen, wie der Ersatz einer Wassermühle durch eine Dampfmaschine.

Solche punktuellen Lösungen sind in ihrer Effizienzsteigerung jedoch begrenzt. Wann immer also das Maximum an Wertsteigerung aus einer Technologie herausgeholt wurde, mussten gänzlich neue technologische Applikationen her, mit denen Unternehmen ihre Tätigkeiten um ein Vielfaches schneller skalieren konnten. Der Umstieg von Pferdekutschen auf  Eisenbahnlokomotiven und Dampfschiffe kann beispielhaft für einen solchen Umbruch herangezogen werden. Die neuen technologischen Applikationen eröffnen dann wiederum gänzlich neuartige Geschäftsmodelle –  sogenannte Systeme –  wie das Kataloggeschäft von Sears & Roebuck: Das Unternehmen machte sich die neu entwickelten Zugschienen zu Nutze, um das Material für ganze Häuser bis zu den Endkunden zu transportieren, die sich eines von 370 Modellhäusern zuvor bequem aus dem Katalog bestellt hatten.

Wir sehen in der ersten industriellen Revolution ein Muster, das es zu bestätigen gilt: Punktuelle Lösungen steigern die Effizienz bis zu einem gewissen Grad. Wenn diese Lösungen ausgereizt sind, müssen neuartige Applikationen her, die die Geschäftsmodelle von Unternehmen fundamental  – also nicht-punktuell – ändern und somit neue, noch effizientere Arbeitsweisen eröffnen. Mit diesen neuen Applikationen gehen dann oftmals auch gänzlich neue Systeme für die Interaktion zwischen Unternehmen und Verbrauchern einher.

 

Elektrizität

 

Erkennen wir dieses Muster auch in der zweiten industriellen Revolution wieder? Es scheint so, denn mit der Einführung der Elektrizität ersetzen Glühbirnen Kerzen und Öllampen eins zu eins, wodurch sich die Lumen pro Dollar um das Vierfache erhöhten.

Eine zusätzliche Erkenntnis: Große Kosteneinsparungen motivieren die Menschen, auf eine neue Technologie umzusteigen, reichen aber in der Regel nicht aus, um die „Kluft“ zu einer breiten Akzeptanz zu überwinden. Der allgemeine gesellschaftliche Umstieg auf die Elektrizität erfolgte beispielsweise erst mit neuartigen Applikationen wie Staubsaugern und Elektromotoren. Es braucht also greifbare Erleichterungen des Alltags für Verbraucher, damit Technologie allgemeinen Anklang findet. Ist diese Akzeptanz erlangt, steht das technologische Fundament, auf dessen Basis neue Systeminnovationen durchzusetzen sind. Beispielhaft hierfür steht natürlich das bewegliche Fließband von Ford, das mit einem siebenfachen Produktivitätszuwachs deutlich wertschöpfender arbeitete als alle vorherigen elektrischen Anwendungen.

 

Halbleiter

 

Halbleiter haben die dritte industrielle Revolution nach einem ähnlichen Muster vorangetrieben. Portable Transistorradios ersetzten Tischradios (und waren viermal stromsparender), und Personal Computer (PCs) ersetzten Schreibmaschinen. Neue Applikationen wie das Videospiel Pong und die Tabellenkalkulation VisiCalc brachten ganz neue Branchen hervor. Das Internet bedeutete die Ablösung (punktuelle Lösung) von Papierkatalogen im Einzelhandel durch E-Commerce-Plattformen wie globale Online-Marktplätze, oder Mode-Plattformen und Zeitungskleinanzeigen durch darauf spezialisierte Online Portale. Neuartige Applikationen von führenden Online-Reise-Portalen, Dating-Portalen, sozialen Netzwerken oder Videospielenführten indes zu neuen Systemen wie iPhones und Uber, die sich radikal von den ursprünglichen vorherigen Lösungen unterscheiden.

 

Künstliche Intelligenz

 

KI, die vierte industrielle Revolution, scheint dem uns mittlerweile bekannten Muster zu folgen: FICO-Scores haben Kreditsachbearbeiter ersetzt und eine kollaborative Code-Plattform ersetzt Stack Overflow als lineare Lösung. Neue Applikationen wie innovative KI-Plattformen, personalisierte Feeds in sozialen Medien und Produktempfehlungen auf Online-Makrtplätzen treiben die Skalierung voran. Wir haben jedoch aus den vorherigen industriellen Revolutionen ebenfalls gelernt, dass für die Entstehung neuer Systeme die breite Akzeptanz einer neuen Technologie notwendig ist – also massentaugliche, verbrauchernahe und erprobte Applikationen angeboten werden müssen. Ein vertiefender Blick in die Mechanismen der Technologieadaption zeigt auf, worauf es bei der Akzeptanz von KI ankommt:

 

 

Keine (KI-) Revolution ohne Adaption

Menschen mögen keine Veränderungen, da sie in der Regel teurer sind als erwartet. Daher ändern sie ihre Arbeitsprozesse erst dann, wenn sie die Vorteile einer neuen Technologie erkennen und die Stagnation der bisherigen Arbeitsweisen nicht mehr von der Hand zu weisen ist. Dieser Umstand liegt in der menschlichen Natur und ändert sich nicht. Mathematiker bezeichnen ein solches Verhaltensmuster als skalenfrei: Ein Muster, das sich auf alle verschiedenen Ebenen gleichermaßen anwenden lässt, von Mikro zu Makro: also vom Einzelfall über den Branchenstandard bis hin zur industriellen Revolution. Im Falle von KI könnte das über verschiedene Größenordnungen und Anwendungsbereiche wie folgt aussehen:

 

  • Nehmen wir als Beispiel die Autoversicherung für Einzelverbraucher. Eine punktuelle Lösung durch KI könnte den Sachbearbeitern eine Prognose (und Analyse) der Kosten liefern. Eine neuartige KI-Applikation, die den Prozess verändert, könnte den Kunden automatisch Kostenvoranschläge und Werkstattempfehlungen für leicht abzuschätzende Schäden liefern, ohne dass ein menschlicher Sachbearbeiter eingeschaltet wird. Ein ganz neues System, das sich gerade entwickelt, ist eine umlagefinanzierte Versicherung, die auf den persönlichen Fahrgewohnheiten basiert.

 

  • Eine punktuelle Lösung für das Wealth-Management könnte Finanzberatern personalisierte Empfehlungen für die nächstbeste Handlung am Markt geben. Eine neuartige Applikation könnte hingegen einige Handlungsempfehlungen automatisch direkt an die Kunden und den Berater weiterleiten. Ein neues KI-System in dieser Branche könnte Kunden, Kunden der Kunden und den Kunden der Lieferanten die nächstbesten Handlungsempfehlungen geben. Ein großer Investmentfondsanbieter experimentiert bereits heute damit, um Marktanteile zu gewinnen.

 

  • Schließlich könnte eine lineare Lösung für das Lieferkettenmanagement die Ankunftszeit einer Sendung voraussagen. Eine neuartige KI-Applikation könnte Informationen über voraussichtlich stark verspätete Sendungen automatisch an einen Mitarbeiter weiterleiten, der am ehesten in der Lage ist, das Problem zu lösen. Bereits heute verfügen viele Unternehmen über KI-Systeme, die den Preis von Rohstoffen absichern, von denen sie abhängig sind. So erwirtschaftet das Unternehmen Cargill and Lane Processing teilweise mehr Geld mit dem Handel von Getreide als mit dessen Lieferung oder der Verfütterung an Hühner.

 

Den Nutzen revolutionärer Technologie frühzeitig erkennen

Aus den vorigen industriellen Revolutionen lernen wir, dass der technologische Fortschritt dem menschlichen Willen zur Adaption in der Regel einige Schritte voraus ist. Das gilt auch für Unternehmen: Wer die KI-Revolution nicht verschlafen will, muss dafür sorgen, dass unter dem eigenen Dach Verständnis und Akzeptanz für neue Technologien herrschen. Nur so können aus punktuellen Lösungen durch KI neue KI-Applikationen und sogar neue Geschäftsmodelle entstehen, die letztendlich zukunftsfähige Wertschöpfungssysteme hervorbringen.

 

Quintessenz für KI in Unternehmen:

Das Potential generativer KI für Unternehmen ist enorm. McKinsey geht von 1-9% des Unternehmensumsatzes aus – je nach Industrie. Gleichzeitig nutzen diese Technologie aktuell nur einige wenige % aller Unternehmen. Um Verständnis, Akzeptanz und letztlich den Einsatz zu fördern, müssen Unternehmen folgende Herausforderungen adressieren:

 

  • Förderung und Einbindung von Mitarbeitenden über die Daten/KI Spezialisten hinaus – Mit der frühzeitigen Einbindung von Facharbeitern in die Entwicklung werden die Lösungen relevanter, besser und i. d. R. eher genutzt. Darüber hinaus werden Facharbeiter an das Thema KI herangeführt, können sich zu “Citizen Data Scientist” weiterentwickeln und bald selbst kleinere Lösungen umsetzen.
  • Sicherheit und Datenschutz – die Nutzung generativer KI stellt besondere Anforderungen. Datensicherheit muss sichergestellt und die Erstellung toxischer beziehungsweise falscher Inhalte vermieden werden – insbesondere bei Lösungen, die mit Dritten außerhalb des eigenen Unternehmens interagieren.
  • Auswahl und Unabhängigkeit – die generative KI-Landschaft ändert sich schnell. Seien es neue Anbieter von Vektor Datenbanken oder LLMs – Unternehmen sollten die bestmöglichen, aktuellsten Technologien für ihre jeweiligen Anwendungsfälle nutzen können (einige Anwendungen nutzen auch heute schon verschiedene LLMs).
  • Kostenkontrolle – meint ein Unternehmen es ernst und möchte generative KI skalieren, kann das mit tausenden von Mitarbeitenden und Millionen von Kunden schnell teuer werden (ob API-Kosten für proprietäre oder Infrastrukturkosten für Open-Source Modelle). (Technologische) Kostenkontrolle beziehungsweise eine solide Kosten/Nutzen Rechnung sind daher essentiell.

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