Um die Digitalisierung in Deutschland zu befeuern lohnt sich der Blick gen Norden

Hélène Podsadni Nilsson ist Head of Northern Europe des dänischen Fintech Pleo – Jens Leucke ist ihr Pendant bei Pleo für die DACH-Region. Gemeinsam diskutieren beide über die Herausforderungen der Digitalisierung in Deutschland und in welchen Aspekten sich die hiesige Wirtschaft und Politik etwas von Finnland, Schweden und Co. abschauen können.
Interview von DIGITALE WELT – Fremd Autorschaft
11. Mai 2023
Interviewpartner
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Die Digitalisierung ist in Deutschland ein oft hitzig diskutiertes Thema. Unter anderem zeigt das aktuelle Beispiel der notgedrungen verschobenen Abiturprüfungen in NRW, dass es noch großes Optimierungspotenzial gibt. Wie beurteilen Sie denn den Status Quo des Digitalisierungsprozesses hierzulande? 

Jens Leucke: Ich stimme zu, dass es in diesem Bereich noch viel Luft nach oben gibt – insbesondere wenn man Deutschland mit anderen europäischen Ländern vergleicht. Es gibt viele Unternehmen, die als Leuchttürme herausstechen und mit progressiven Methoden ihr Business bereits auf das nächste Level gehoben haben. Aber insgesamt sehe ich noch immer großen Handlungsbedarf. Zwar hieß es in den letzten Monaten und Jahren stets, dass die Corona-Pandemie als Ausnahmesituation wie ein Digitalisierungsbeschleuniger gewirkt hätte – und das mag in bestimmten Punkten stimmen – aber gerade auf struktureller Ebene wurden meiner Meinung nach viele Chancen ausgelassen, eine umfassende Trendwende anzustoßen.

Sie haben jetzt eben angesprochen, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern hinterher hinkt. Was genau meinen Sie damit, beziehungsweise woran machen Sie das fest?  

Jens Leucke: Nun, das Gute ist, dass wir uns bei diesem Thema nicht ausschließlich auf unseren subjektiven Eindruck berufen müssen. Denn wirft man beispielsweise einen Blick Analysen der Bundeszentrale für politische Bildung, zeigen diese deutlich, dass Deutschland sich im europäischen Vergleich im unteren Mittelfeld bewegt. Der Index für digitale Wirtschaft und Gesellschaft der Europäischen Kommission zeichnet ein ähnlich negatives Bild. Klar ist natürlich auch, dass es wenig Sinn ergibt, jetzt alles von Grund auf aufbauen zu wollen. Um einen produktiven Beitrag zu leisten und wirklich voranzukommen, müssen wir stattdessen einen Blick auf die positiven Erfahrungen jener Länder werfen, die uns voraus sind – und schauen, was wir eventuell nach Deutschland übertragen können. Besonders spannend ist es, gen Norden nach Schweden, Finnland und Dänemark zu schauen.

Weshalb sind es vor allem die genannten nordischen Länder, von denen man sich in puncto Digitalisierung viel abschauen kann? 

Hélène Podsadni Nilsson: Ich möchte mit einem prominenten Beispiel einsteigen: Insbesondere Finnland und Schweden stehen an der Schwelle hin zur bargeldlosen Gesellschaft oder zumindest schaffen sie die notwendigen Verhältnisse, in dem bargeldloses Bezahlen jederzeit und überall als gängige Option zur Verfügung steht. In Deutschland ist so etwas noch absolut undenkbar; stattdessen dreht sich die Diskussion vielmehr darum, warum man das Bargeld nicht abschaffen dürfe. Dabei läuft dieser Ansatz in die komplett falsche Richtung: Denn so bremst man sich aus, parallel zur vorhandenen Bargeldnutzung ein umfassendes, funktionierendes System für progressives, kontaktloses Bezahlen zu implementieren. Die Gründe, weshalb so eine Transformation in Finnland und Schweden besser klappt als in Deutschland, sind vielfältig. Da spielen kulturelle, politische und wirtschaftliche Faktoren eine Rolle.

Könnten Sie bitte auf die Gründe ein wenig mehr spezifizieren? 

Hélène Podsadni Nilsson: Erstmal grundsätzlich betrachtet: Diese Länder konnten ein gesellschaftsübergreifendes Umdenken anstoßen und Verständnis dafür schaffen, dass die Digitalisierung auf politischer und wirtschaftlicher Ebene vorangetrieben werden muss, um den Status einer progressiven und wettbewerbsfähigen Gesellschaft beizubehalten. Es sind eben nicht nur die politischen Entscheider*innen, bei denen die Verantwortung verortet ist, sondern auch die Privatwirtschaft trägt ihren Teil dazu bei. Das zeigt sich beispielsweise bei der schulischen Bildung: Die nordischen Länder haben generell ein sehr gutes Schulsystem, wie auch die letzte Pisa-Studie bestätigt hat – wobei deren Ergebnisse auch nicht der Weisheit letzter Schluss sind und immer kritisch hinterfragt werden sollten. Was sehr viel eindrücklicher ist: Wir können beobachten, dass die dortigen Schulsysteme den Kindern von Anfang an neue Technologien näher bringen, diese fester Bestandteil des Lehrplans sind und notwendigen Fähigkeiten im Umgang mit diesen nicht nur punktuell, sondern umfassend beigebracht werden. Dadurch wird zum Beispiel eine mehr als solide Basis der Programmierkenntnisse geschaffen, die durch zusätzliche Förderprogramme der Wirtschaft weiter ausgebaut werden. In Dänemark gehen Tech-Unternehmen etwa direkt in die Schulen, Expert*innen aus der Praxis stellen sich den Fragen der Schüler*innen, teilen ihre Erfahrungen und geben Einblicke in ihre tägliche Arbeit. In Schweden gibt es zahlreiche privatwirtschaftliche Initiativen, die Kinder und Jugendliche ganz gezielt in Sachen Informatik fortbilden.

Jens Leucke: Ich denke, was wir dabei auch nochmal betonen und hervorheben sollten: Der Wert, der hier für die Gesellschaft geschaffen wird, ist nicht zu unterschätzen. Denn egal ob Schweden, Finnland oder eben auch Deutschland: All diese Länder sehen sich mit einem enormen Fachkräftemangel konfrontiert. Diesen spüren wir schon jetzt und dessen negativer Effekt für diese Wirtschaftsstandorte wird in den nächsten Jahren vehement zunehmen. Wir müssen also sicherstellen, zumindest die Fachkräfte, die uns zur Verfügung stehen, bestmöglich auszubilden und auf die tatsächlichen Herausforderungen der sich verändernden Industrien und damit verbundenen Jobprofile vorzubereiten. Länder, denen dies nicht gelingt, werden klare Wettbewerbsnachteile erleiden.

Welche weiteren Faktoren neben dem Bildungssystem fallen noch ins Gewicht? 

Hélène Podsadni Nilsson: Die genannten nordischen Länder haben äußerst stabile politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Das hilft natürlich, den notwendigen Rückhalt aus der Bevölkerung zunächst zu bekommen und dann auch aufrechtzuerhalten. Länder wie Schweden ernten jetzt die Früchte ihrer jahrzehntelangen Vorarbeit. Beispielsweise gab es 1998 eine groß angelegte „Heim-Computer-Reform”, im Rahmen derer Angestellte – steuerlich subventioniert – Computer für ihr Zuhause erhielten. Die Resonanz war riesig: Über eine Million Schwed*innen nahm das Angebot wahr. Ein Digitalisierungsboost sondergleichen! Den Ankündigungen und Plänen der Regierung folgten Handlungen, deren Effekt die Bevölkerung im täglichen Leben erlebte. Dass Staat und Wirtschaft erfolgreich Hand in Hand arbeiten, wird auch an einem anderen Beispiel deutlich: Denn nicht nur Banken und andere kommerzielle Anbieter nutzen mittlerweile in Schweden mehrheitlich BankID, sondern auch staatliche Einrichtungen, wodurch sich bürokratische Prozesse verschlanken lassen. Zur Erklärung: Bei BankID handelt es sich um einen digitalen Identitätsnachweis auf dem Vertrauensniveau von Ausweis oder Führerschein, der den Nutzer*innen nicht nur ein sehr hohes Level an Sicherheit garantiert, sondern eben maßgeblich zur breitflächigen Prozessdigitalisierung beigetragen hat.

Zum Ende kurz auf den Punkt gebracht: Wie gelingt uns in Deutschland die Kehrtwende? 

Jens Leucke: Ganz wichtig aus meiner Sicht ist eine große Portion Pragmatismus und dieser muss sich durchziehen von den Entscheider*innen bei kleinen und mittelständischen Unternehmen bis hoch zu den verantwortlichen Regierenden. Wir alle müssen das übergeordnete Ziel einer breitflächigen Digitalisierung teilen und unterstützen – vor allem auch kommunikativ gegenüber der allgemeinen Bevölkerung. Wir müssen verständlich erklären, weshalb diese konkreten Maßnahmen notwendig sind und weshalb dafür mehr investiert werden sollte. Neben diesem Blick auf die Meta-Ebene sollten wir gleichzeitig eine Strategie der kleinen, aber mutigen Schritte in die Praxis umsetzen und währenddessen die Fortschritte regelmäßig kritisch hinterfragen. Nur dann können wir angemessen reagieren und die getroffenen Maßnahmen optimieren. Ohne zu pessimistisch klingen zu wollen: Es ist ein Dauerlauf und kein Sprint, den wir da vor uns haben, denn dieser Prozess wird nicht zum Zeitpunkt X abgeschlossen sein. Das Positive: Als eine der führenden Industrienationen verfügen wir über beste Voraussetzungen, die digitale Transformation zu realisieren.

Interview geführt durch:

Extern geführte und eignereichte Experten-Interviews rund um unsere Themenschwerpunkte. DW prüft und untersagt werbliche Inhalte, nimmt sonst aber keine redaktionellen Korrekturen oder Eingriffe vor.

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