Wofür brauchen wir das überhaupt?

Von   Alexander Geibig   |  Data Scientist   |  scoutbee GmbH
24. Mai 2018

Die Themen Künstliche Intelligenz und Machine Learning haben in den letzten Jahren einen ungeahnten Aufschwung erlebt. Enorme Fortschritte im Bereich der Rechenleistung, die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen durch große Konzerne und das rasante Wachstum frei verfügbarer Open Source Bibliotheken haben aus den einst akademischen und konzerneigenen Forschern vorbehaltenen, eher abstrakt wirkenden Modellen massentaugliche Werkzeuge gemacht. Ich möchte das Thema in diesem Post aus der Sicht eines deutschen KI-Startups im Bereich Einkauf bzw. Supply Chain Management beleuchten. Dabei werde ich weniger auf fachliche Details eingehen, sondern eher auf die fundamentalen Auswirkungen, die der KI-/ML-Boom mit sich bringen wird.
Nun werden Worte wie “Standardabweichung” oder “Lineare Regression” bei dem einen oder anderen Leser ohnehin eher unangenehme Erinnerungen an längst vergangene Statistik-Vorlesungen wecken. Und tatsächlich ist der Schritt von der klassischen Statistik, hin zum Maschinellen Lernen ein nicht allzu großer. Der wesentlichste liegt in meinen Augen in der Herangehensweise und Zielsetzung. Erstere konzentriert sich vornehmlich darauf, einen zugrundeliegenden Prozess vollständig zu analysieren, zu verstehen und (theoretisch) zu modellieren, bevor die Frage gestellt wird, wie man diese Erkenntnisse umsetzen kann. Im Bereich des Maschinellen Lernens dagegen erinnert vieles eher an den wilden Westen der Statistik. Beinahe täglich werden neue Erkenntnisse in irgendeinem Unterbereich veröffentlicht, entstehen neue Modelle und Bibliotheken. In den meisten Fällen wird versucht, real existierende Probleme zu lösen – natürlich leicht abstrahiert, um wissenschaftlichen Standards zu genügen und eine Vergleichbarkeit mit anderen Arbeiten zu gewährleisten. Es werden verschiedenste Modelle, Optimierungsalgorithmen und Parameterkombinationen getestet, um schließlich die beste Konstellation zu finden. Anschließend wird die Frage gestellt, warum mache Ansätze besser funktionieren, als andere.

Das mag für einige Menschen – insbesondere im akademischen Bereich – unbefriedigend sein, für uns als KI-Startup ist das jedoch eine der wichtigsten Voraussetzungen. Anders als noch vor einigen Jahren wird ein Großteil der Forschungsartikel frei veröffentlicht, sodass keine teuren Zeitschriften-Abos nötig sind, um sich dieses Wissen anzueignen. Forschungsergebnisse werden zudem auch deutlich niedrigschwelliger, in Form von Blogposts oder auch nur Forenbeiträgen publiziert. Diese Öffnung für die breite Masse hat die aktuelle Entwicklung überhaupt erst möglich gemacht, denn auch wenn einige Beiträge und Autoren mit Bedacht konsumiert werden sollten: Ohne die unzähligen Softwareentwickler, Hobbyprogrammierer und anderweitig Interessierten wäre der Wissensschatz, von dem jeder profitiert, der in diesem Feld tätig ist, nicht ansatzweise so groß. Dies gilt insbesondere auch für die phantastische Bibliotheken (insbesondere in Python), mit denen die aktuell besten Modelle nachgebaut oder sogar direkt angewendet werden können.

All das führt zu einer “Demokratisierung” dieser Technologien, so wie sie bereits zuvor in anderen Bereichen stattgefunden hat. Noch in den 1960er Jahren war die Nutzung von Computern eine überaus schwierige, kostenintensive Angelegenheit und die klügsten Köpfe der Welt waren nötig, um überhaupt einen zu betreiben. Der technische Fortschritt und die einsetzenden Kostenvorteile machten den PC massentauglich und lösten damit eine Revolution aus. Auch damals hatten viele Menschen Berührungsängste. Neben einer mentalen Umstellung erforderte der Umgang mit den neuen Geräten auch eine gewisse Lernbereitschaft, da deren “Denkweise” erst einmal verstanden und angenommen werden musste. Heute machen sich die meisten Menschen bei der Nutzung – zumindest solange alles fehlerfrei funktioniert – keine großartigen Gedanken mehr. Mit einem Klick werden E-Mails und Chat-Nachrichten verschickt, Daten in das ERP-System eingepflegt oder Excel-Tabellen befüllt. Die wenigsten verbinden mit dem Computer oder dem Smartphone eine angsteinflößende, bedrohliche Technologie.

Ähnlich wird es sich mit der Künstlichen Intelligenz – beziehungsweise dem, was im Allgemeinen darunter subsumiert wird – verhalten. Die meisten Menschen werden niemals ein entsprechendes Programm schreiben, genauso wenig, wie sie bisher Grafik-, Textverarbeitungs- oder Buchhaltungsprogramme geschrieben haben. Es wird weiterhin eine Spezialisierung stattfinden und für die meisten Probleme wird es maßgeschneiderte Produkte und Dienstleistungen geben, so wie auch wir sie entwickeln. Die Frage die sich hinsichtlich des Einsatzes Künstlicher Intelligenz stellen wird, ist daher nicht “Ja-oder-Nein”, sondern lediglich “Make-or-Buy”. Sofern KI nicht die Kernkompetenz eines Unternehmens ist, wird die Entscheidung bei den meisten Problemen auf “Buy” fallen, da die Entwicklung einer marktreifen, funktionierenden und Nutzen generierenden Lösung – trotz aller Euphorie angesichts der jüngsten Entwicklung – alles andere als trivial ist.

Denn ja, Sie brauchen die Spezialisten, die Mathe-Freaks und Programmierer-Nerds, die Geeks, die Dorks, die dort weitermachen, wo es über die oft erwähnten 30 Zeilen Code für ein Deep Learning Modell mit Keras hinausgeht. Die Anzahl der benötigten Mitarbeiter steigt überproportional mit der Komplexität des Gesamtsystems, da die Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Komponenten wachsen und mit zunehmender Skalierung der Daten- und Nutzerzahl selbst Kleinigkeiten zu echten Herausforderungen werden, die bei der Entwicklung eines Prototypen noch selbstverständlich erscheinen.

Aufgrund der Skaleneffekte, die insbesondere im IT-Sektor mit der Spezialisierung einhergehen, wird sich die eigenständige Entwicklung für die meisten Unternehmen nicht lohnen. Stattdessen sollten sie – und natürlich auch ihre Mitarbeiter – derartige Technologien als Werkzeuge betrachten. Ja, in manchen Fällen mag es sinnvoll sein, seinen eigenen druckluftbetriebenen Schraubendreher zu entwickeln. Für den Großteil der Fälle ist das Produkt eines darauf spezialisierten Unternehmens jedoch besser und billiger als die Eigenentwicklung und für den Anwender ist es nur wichtig, zu wissen, wie er mit dem Werkzeug richtig umgehen muss. Maßgeschneiderte KI-Lösungen sind ein wertvolles Hilfsmittel, das in wenigen Jahren so alltäglich sein wird, wie heute Excel zu öffnen und eine Tabelle zu erstellen – und in vielen Fällen noch einfacher. Alleine das Bewusstsein für die enormen Vorteile, die solche Dienste mit sich bringen, sowie die Bereitschaft, eine Off-The-Shelf Lösung einer Eigenproduktion vorzuziehen, sind noch nicht überall vorhanden – wenngleich sich beides dank der Omnipräsenz des Themas bereits deutlich gewandelt hat.

Wir bei scoutbee können innerhalb weniger Minuten mehr Firmen analysieren, als ein einzelner Einkäufer in seinem ganzen Leben. Dabei führen wir grundsätzlich alle Schritte durch, die dieser bisher auch durchläuft. Wir grenzen die Menge interessanter Unternehmen ein und gleichen ab, wer das gewünschte Produkt auch tatsächlich produzieren kann. Außerdem überprüfen wir Qualitätsstandards sowie die Verlässlichkeit des Unternehmens und können anschließend den gesamten Verhandlungs- und Bietprozess über unsere Plattform abwickeln. Bei jedem dieser Schritte nutzen wir enorme Mengen an Daten aus verschiedensten Quellen, die strukturiert, gesäubert und aggregiert werden müssen, um sie überhaupt nutzen zu können. Danach erfolgen mehrere Stufen, in denen sie weiter transformiert und analysiert werden, bevor letztendlich die für den Kunden eigentlich relevante Frage beantwortet werden kann: Welcher Lieferant ist der richtige für mich?

Auch wenn die Tragweite all dieser Entwicklungen für die meisten Menschen heute noch nicht vollständig absehbar ist, fürchten viele um ihren Arbeitsplatz. Und ja, vermutlich werden viele Aufgaben, die heute noch von Menschen erledigt werden, bald von “intelligenten” Computerprogrammen erledigt werden. Doch wird das das Ende menschlicher Arbeit bedeuten? Lassen Sie mich diese Frage mit einer Gegenfrage beantworten: Hat die Einführung des Computers menschliche Arbeit überflüssig gemacht? Oder die Einführung der Dampfmaschine?

Die Antwort ist ein eindeutiges “Nein, aber…”. Die Menschen – oder besser die Menschheit – muss sich weiterentwickeln und den Veränderungen anpassen. Genauso, wie in heutigen Wissensgesellschaften jeder Mensch lesen lernt, muss künftig jeder in der Lage sein, moderne Technologien wie spezialisierte Suchmaschinen effektiv zu nutzen oder die von ihm produzierten Daten so zu gestalten, dass diese möglichst problemlos weiterverarbeitet werden können. In einem Punkt sind wir uns jedoch sicher: KIs werden auf absehbare Zeit nicht kreativ arbeiten und denken können. Dies bleibt (zunächst) dem Menschen vorbehalten, weshalb sich Arbeitnehmer künftig mehr auf “kreative Aufgaben”, wie beispielsweise die finale Auswahl eines Lieferanten fokussieren können. Eher repetitive und oftmals extrem zeitaufwändige Aufgaben, wie das Durchleuchten globaler Märkte nach potentiellen Lieferanten, werden dagegen von der Maschine übernommen. Die Frage ist dabei nicht ob dies stattfindet, sondern ob schon dieses oder erst nächstes Jahr.

Eine Verweigerung mag kurzfristig der bequemere Weg sein, weil man sich nicht mit einer komplizierten Materie auseinandersetzen muss, oder weil man eine Technologie abwehrt, die sonst die Frage aufwerfen würde, warum man überhaupt bezahlt wird. Mittelfristig wird diese Einstellung jedoch zu unangenehmen Konsequenzen führen. Persönliche, weil man irgendwann möglicherweise nicht mehr Schritt halten kann mit Mitbewerbern. Unternehmerische, weil die Produktivität der Konkurrenz steigt, während man selbst es “macht wie man es schon immer gemacht hat”. Gesellschaftliche, weil andere Länder auf der Welt sich einen kaum einholbaren Vorsprung erarbeitet haben und sich so die wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse verschieben.

Wenn Sie sich nun in Ihre Statistik-Vorlesung zurückversetzen, so erinnern Sie sich sicherlich an einen Satz, der mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,99 % in jedem Semester mindestens einmal gefallen ist: “Wofür brauchen wir das überhaupt?”. Heute ist die Antwort klarer als je zuvor:

Um die Welt zu verändern!

Alexander Geibig ist Data Scientist und Python-Softwareentwickler bei dem AI-Startup scoutbee GmbH. Zuvor arbeitete er neben seinem betriebswirtschaftlichen Studium mit Schwerpunkt Finance und Ökonometrie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg an verschiedenen IT & Machine Learning Projekten, wodurch seine Leidenschaft für diesen Bereich geweckt wurde.

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