Remote Work – die Zukunft des Lebens

Von   Gerlinde Weidt   |  Freie Autorin und Selbstständige Kommunikationsberaterin   |  Gerlinde Weidt
29. April 2021

Vor gut einem Jahr kehrte pandemiebedingt unerwartet Ruhe ein. Seither reihen sich weltweit mehr oder minder strenge Phasen von Lockerungen und erneutem Lockdown aneinander. Vor allem die Arbeitswelt geriet gehörig durcheinander, Scharen von Mitarbeitern verlagerten ihren Arbeitsplatz ins Homeoffice. Dabei war Remote Work Ende 2019 noch ein exotischer Trend: durchaus bekannt, aber als praxistaugliches Arbeitsmodell eher für experimentierfreudige Start-ups als für etablierte Großunternehmen geeignet. Heute zeichnet sich ab, dass das standortunabhängige Arbeiten in vielen Bereichen bleiben und Teil einer Strategie zur Risikovorsorge wird.
Unternehmen mussten sich Hals-über-Kopf mit einer völlig veränderten Arbeitswelt auseinandersetzen, neue Strukturen aufbauen, Mitarbeiter motivieren, die Unternehmenskultur anpassen, das Geschäft am Laufen halten. Mittlerweile haben die meisten das Gröbste geschafft, doch die Feinjustierung erfordert nach wie vor Konzentration und Weitsicht. Dabei hilft es mitunter, die Meinung erfahrener Remote-Pioniere einzuholen, die dieses Modell seit vielen Jahren erfolgreich betreiben. Ein Blick auf deren prognostizierte Trends für das laufende Jahr kann helfen, die eigenen Planungen dafür besser auszurichten.

Ein gutes Beispiel dafür ist GitLab, eines der weltweit größten All-Remote Unternehmen, das seit seiner Gründung 2014 keinen festen Firmensitz hat, 1.300 Mitarbeiter in rund 66 Ländern beschäftigt und Remote Work von Beginn an zum Herzstück seiner Unternehmenskultur gemacht hat. Welche Entwicklungen erwarten Remote-Spezialisten wie Darren Murph, Head of Remote bei GitLab und anerkannter Experte für Remote Work mittelfristig? Welche Chancen und Risiken sehen sie beim standortunabhängigen Arbeiten und Führen? Für 2021 haben sie folgende Entwicklungen ausgemacht, die das Arbeitsleben und damit auch das Leben der Menschen insgesamt verändern werden.

1. Remote Work ist der neue Job-Filter

Remote Work demokratisiert den öffentlichen Diskurs über die Flexibilität am Arbeitsplatz. Dies wird in der Digitalwirtschaft 2021 für hochqualifizierte Fachkräfte zu einem Hauptkriterium bei der Jobsuche. Unternehmen, die das nicht unterstützen, werden zu Verlierern auf der Suche nach den besten Talenten. Dies führt auch dazu, dass Mitarbeiter kürzer in einem Unternehmen bleiben, weil die Hürden für einen Jobwechsel sinken. Wechselwillige Angestellte nutzen die neuen Freiheiten – auch weil sie sich an kein Präsenzbüro gebunden fühlen. Unternehmen sollten deshalb ihre Einstellung gegenüber sogenannten „Job-Hoppern“ überdenken.

2. Remote Work ist mehr als gute Tools

Einige der Unternehmen, die unter dem Druck der Pandemie das standortunabhängige Arbeiten eingeführt haben, werden in den nächsten ein bis zwei Jahren wieder umschwenken und das Präsenzbüro priorisieren. Warum? Weil so viel mehr dazugehört, was für die Aufrechterhaltung einer Remote Work Kultur erforderlich ist und über das reine technische Equipment für die Kommunikation untereinander hinausgeht. Letztlich geht es um einen Wandel in der Unternehmenskultur. Einen guten Einblick dazu bietet z.B. Gitlab`s Guide to All-Remote.

3. Wachsender Talente-Pool

Es werden verstärkt hochqualifizierte Fachleute aus großen Städten und Metropolregionen wegzuziehen. Der Standort eines Mitarbeiters wird nicht mehr gleichbedeutend mit einer gut bezahlten Anstellung oder Karriere sein. Menschen werden weniger bereit sein, hohe Mieten und große Entfernungen zu ihren Familien in Kauf zu nehmen. Remote Work gibt ihnen die Möglichkeit, sich dort niederzulassen, wo sie tatsächlich leben wollen. Demnach steigen auch die Job-Chancen für jene, die nicht umziehen wollen oder können.

4. Kostenerstattung für Remote Work wird zur Norm

Unternehmen überdenken und erweitern aktuell ihre Regularien für Remote Work. Sie stellen ihren Mitarbeitern Budget für die Einrichtung eines ergonomischen Arbeitsplatzes zur Verfügung und erstatten sogar laufende Kosten z.B. für Strom, etc. Gleichzeitig werden immer weniger Unternehmen die Kosten für Co-Working Arbeitsplätze übernehmen, wenn sie ein Präsenzbüro zur Verfügung stellen. Diese Organisationen stellen sich zunehmend auf das Arbeiten vom Homeoffice ein und weniger auf das standortunabhängige Arbeiten.

5. Arbeiten vom Ausland aus

Immer mehr Mitarbeiter, deren Unternehmen offen gegenüber Remote-Arbeitsmodellen sind, haben den Wunsch, für einige Zeit vom Ausland aus zu arbeiten. Teneriffa oder die Kanarischen Inseln z.B. entwickeln sich zu einem wahren Paradies für Remote Worker in Europa. Mittlerweile gibt es weltweit Länder und Regionen, die aktiv daran arbeiten, für Remote Worker attraktiv zu werden. In HR-Netzwerken zum Beispiel fragen sich zunehmend mehr Manager, wie sie mit diesem sich verstärkenden Trend umgehen sollen.

6. Remote Work wirkt sich auf die Nachhaltigkeit aus

Virtuelle Meetings haben zwar nach wie vor nicht die gleiche Qualität, wie persönliche Treffen, doch die positiven Auswirkungen auf die Umweltbelastung überwiegen in vielen Fällen die tatsächlichen Reisekosten. Da dem Reisen auf absehbare Zeit nicht mehr die gleiche Bedeutung zukommt wie vor der Pandemie, wird Remote Work einen großen Beitrag dazu leisten, die Umweltbelastung vom Wirtschaftswachstum zu entkoppeln und damit im Rahmen der Nachhaltigkeitsbemühungen zunehmend eine wichtigere Rolle einnehmen.

7. Verunsicherte Führungskräfte und Manager

Zu den größten Herausforderungen zählt, Manager dazu zu bringen, sich bei der Führung von Remote-Teams wohl zu fühlen. Unternehmen brauchen dazu Lösungen, die Manager dazu befähigen, ihre Führungsarbeit unter den neuen Bedingungen bestmöglich zu erledigen. Im Fokus steht deshalb die Evaluierung geeigneter Management-Tools, die sie bei der Bewältigung dieser Herausforderung unterstützen.

In diesem Zusammenhang sieht Antonio Mimmo, Senior Field Marketing Manager Europe bei GitLab und Leiter eines 25-köpfiges Teams von Remote Workern, eine verstärkte Nachfrage nach Weiterbildung, Trainings und regem Expertenaustausch: „Unternehmen werden verstärkt nach Möglichkeiten suchen, um standortunabhängiges Arbeiten auf respektvolle und zugewandte Art und Weise zu ermöglichen. Deshalb wird der Bedarf an neuen Lösungen, geeigneten Tools und Plattformen für Remote Arbeiten und Remote Führen steigen.“

Diese Prognosen basieren u.a. auf den Erkenntnissen der Befragung Out of the Office: How the world adapted to working remotely in 2020 [1] . Er zeigt, wie sehr sich Menschen zwischenzeitlich an die neue Realität angepasst haben, alte Prämissen wie Wohnort und feste Arbeitszeiten überdenken und neue Schritte wagen – weg von einer starren Büro-Mentalität hin zu einer zunehmenden Individualisierung des Arbeitsplatzes. Mit dem immer länger währenden Lockdown wird der Ruf nach einer baldigen Rückkehr an den Arbeitsplatz aktuell zwar wieder lauter, ein Zurück zu alten Mechanismen wird es jedoch nicht mehr geben.

Remote Work bleibt

Eine Studie der BitKom[2]vom Beginn dieses Jahres zeigt, dass vier von zehn deutschen Mitarbeitern gern wieder ins Büro kommen wollen. Das bedeutet auch, dass sechs von zehn Mitarbeitern gerne größtenteils abwechselnd im Homeoffice und im Präsenzbüro arbeiten wollen. Schließlich haben viele Mitarbeiter seit Beginn der Pandemie ihr Leben mit Remote Work zugunsten einer besseren Lebensqualität umgestaltet.

37% der Befragten haben jetzt mehr Zeit für Freunde und Familie, 30% verbringen mehr Zeit in der Natur und weitere 26% haben ihren Zeitplan zugunsten von mehr persönlichem Freiraum gestrafft. Kurzum: Mitarbeiter schätzen die Flexibilität, mit der sie ihre Arbeit in ihren Lebensplan einpassen können. Gleichzeitig gelingt es 59% der Befragten in ihrer Arbeitszeit produktiver zu sein. 39 % der Befragten gaben an, Remote Work überwiegend positiv gegenüber zu stehen. Dabei wird ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Angebot von Remote Work und Mitarbeiterbindung deutlich: 74 % der Teilnehmer sehen darin einen Grund, den derzeitigen Arbeitgeber nicht zu wechseln. Visionär Sid Sijbrandij, CEO und Mitbegründer von GitLab geht noch einen Schritt weiter und sagt:  „In Zukunft wird Remote-Arbeit nicht so sehr als Vorteil gesehen, sondern vielmehr als Lebensstil.“ [GW1] Soll heißen, ein Teil der Arbeitnehmer strebt weg von der Büro-Mentalität hin zur Lifestyle-Mentalität.

Unternehmenskultur ist aktives Handeln

Bleibt noch die Frage, wie Unternehmen den Balanceakt zwischen den veränderten Bedürfnissen der Mitarbeiter, unternehmerischen Notwendigkeiten und den volatilen Herausforderungen einer anhaltenden Pandemie-Situation möglichst gut meistern.

„Ohne Anpassung der Unternehmenskultur an die neuen Gegebenheiten geht es nicht“, sagt Arne Sjöström Senior People Scientist beim Startup Culture Amp, einer datenbasierten Plattform für Mitarbeiterfeedback und Unternehmenskultur. Schließlich sind die psychologischen Auswirkungen der neuen Arbeitssituation auf den Einzelnen, auf das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie auf die Beziehung zwischen den Kollegen enorm.“  Die Arbeit an der Unternehmenskultur im Sinne von Culture First ist eines wichtigsten Instrumente überhaupt, um Organisationen nachhaltig erfolgreich am Markt zu etablieren.

Gefragt ist jetzt mehr denn je eine neue Kultur des Zuhörens, um die Mitarbeiterfahrung stetig zu verbessern: Führungskräfte in Unternehmen müssen verstärkt kommunizieren, ein offenes Ohr für die Sorgen und Gesundheitsthemen der Mitarbeiter haben, Empathie zeigen und mit gutem Beispiel vorangehen. Unternehmen sollten ihren Managern all das zur Verfügung stellen, was sie in die Lage versetzt, den Team jene Unterstützung zu bieten, die sie brauchen, um ihre Arbeit bestmöglich zu erledigen und sich weiterzuentwickeln. Zudem müssen Manager lernen, den verschiedenen Rollen gerecht zu werden, die sie einnehmen – als Ratgeber, als Mentor und als Coach, der die richtigen Fragen stellt. Regelmäßiges, datenbasiertes Mitarbeiterfeedback ist eine gute Möglichkeit, um Veränderungen bei der Wahrnehmung und Meinung der Mitarbeiter zu messen und damit auch die Wirksamkeit von Maßnahmen zu überprüfen. Mitarbeiter, die sich in diesen schwierigen Zeiten unterstützt fühlen, können zu Champions ihrer Unternehmenskultur werden und dafür sorgen, dass der notwendige kulturelle Wandel nicht als übergestülptes Korsett sondern als positiver, dynamischer Prozess verstanden wird.

Quellen und Referenzen:

[1] https://about.gitlab.com/out-of-the-office/

[2] https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Nach-Corona-lieber-ein-Einzelbuero

ist freie Autorin und selbstständige Kommunikationsberaterin. Sie schreibt über New Work, Digitalisierung und Technologiethemen.

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