Industrielle Wertschöpfung im Wandel

Die disruptiven Veränderungsprozesse in der Industrie gehören zu tiefgreifendsten Veränderungen der wirtschaftlichen Geschichte. Getrieben wird dieser Wandel insbesondere durch grundlegende Fortschritte zentraler Schlüsseltechnologien. Dazu gehören digitale Plattformen und sich daraus entwickelnde Ökosysteme, Künstliche Intelligenz, das Internet der Dinge oder auch die Blockchain, die sich allesamt in rasanter Geschwindigkeit entwickeln.
Von   Uwe Kubach   |  Vice President und Chief Product Expert in der Abteilung Digital Supply Chain und Manufacturing   |  SAP SE
27. März 2024

Industrie 4.0: Revolution der Wertschöpfung

Die Entwicklungssprünge der Digitalisierung und der damit einhergehende Wandel von Industriebranchen über innovative Geschäftsmodelle gewinnen stetig an Dynamik. Auch Megatrends wie Nachhaltigkeit, Resilienz, Mensch-zentriertheit sowie Fairness in industriellen Lieferketten oder Wertschöpfungsnetzwerken bzw. -prozessen rücken darüber hinaus verstärkt in den Fokus. Damit steigt der Druck auf die Industrie, sich weiterzuentwickeln und somit Akzeptanz für die Wertschöpfung aus der Gesellschaft zu erhalten. Die Herausforderung einer nachhaltigen Transformation ist dabei unter anderem die Entkoppelung des Wachstums vom Verbrauch natürlicher Ressourcen.

Industrie unter Transformationsdruck

Ein großer Teil des wirtschaftlichen Wandels in der Industrie ist nach wie vor technologiegetrieben. Mit Schlüsseltechnologien können nicht nur vorhandene Wertschöpfungsprozesse zum Beispiel im Hinblick auf Verarbeitungszeit, Kosten und Emissionen zum Teil erheblich verbessert werden. Auch grundlegend neue Geschäftsmodelle spielen dann eine zentrale Rolle, wenn diese Technologien darüber hinaus genutzt werden sollen, um neue Geschäftsfelder und Märkte zu erschließen oder um im globalen Wettbewerb mit innovativen und attraktiven Angeboten bestehen zu können. Gemeinsam ist diesen Geschäftsmodellen häufig, dass sie sich stärker am individuellen Bedarf der Kundinnen und Kunden orientieren und spezifische, personalisierte Angebote und Lösungen bereitstellen und somit Differenzierungspotenzial bieten.

Ausgehend vom Status quo ist der Innovations- und Transformationsdruck auf die Unternehmen enorm. Die bestehenden Geschäftsmodelle vieler Unternehmen könnten schon in naher Zukunft nicht mehr wettbewerbsfähig sein. Neue Optionen und Chancen in der Wertschöpfung müssen deshalb auch aktiv verfolgt werden, um weiter bestehen zu können und neue Differenzierungs- sowie Wachstumspotentiale zu heben. Für die Industrie bedeutet dies, dass neue Bedarfe für Forschung und Entwicklung existieren, für die eine enge Kooperation sowohl mit der Wissenschaft als auch mit politischen Akteuren notwendig ist.

Wirtschaftlicher Wandel der Wertschöpfung

Eine der zentralsten Herausforderungen im Zuge der digitalen Transformation stellt der wirtschaftliche Wandel der Produktion dar. Schon jetzt lässt sich an neuen Technologien und Rahmenbedingungen erkennen, welche Entwicklungen in der Industrie zukünftig zum Erfolg am Markt führen können. Zu den bedeutendsten Trends gehören nicht nur die Plattformökonomie und sich entwickelnde digitale Ökosysteme, sondern auch bekannte Maßstäbe wie Skalierung, Marktsouveränität, Kompatibilität und Interoperabilität mit anderen Systemen sowie Dezentralisierung. Essenziell sind der souveräne Zugang bzw. Austausch sowie die Fähigkeiten zur Analyse und Auswertung von Daten. Nicht nur im Bereich Software bieten neue Methoden, Modelle und Technologien Geschäfts- und Erlösmöglichkeiten, die bisher gegebenenfalls noch außerhalb des Kerngeschäfts liegen. Open Source-Lösungen etwa oder die Autonomie von Produkten bzw. Systeme eröffnen für Unternehmen große wirtschaftliche Chancen. Ein zentrales Konzept in diesem neuen Wertschöpfungssystem ist aufgrund der zunehmenden Komplexität von Produkten und durch das Aufkommen der Plattformökonomie die sogenannte Servitisierung. Dieser Begriff bezeichnet den Trend einer vollständigen Umkehr in der Produktionslogik bisheriger Unternehmen. Zum Kern des Geschäftsmodells wird anstelle der Herstellung und dem anschließenden Verkauf eines Produkts, das Anbieten einer Dienstleistung als kundenindividueller Service. Das Produkt bzw. die Hardware ist dabei lediglich Teil bzw. Voraussetzung der Leistung, die je nach Geschäftsfeld unterschiedlichste andere Services beinhalten kann, etwa die Wartung oder digitale Reparaturen.

Ökologisch nachhaltige Wertschöpfung

Im Jahr 2020 war die Industrie für 7,9 % der Treibhausemissionen in Deutschland verantwortlich.[1] Nicht darin enthalten sind weitere 16,2 %, die entstehen, um den Energiebedarf der Industrie zu decken. Damit ist die Industrie die zweitgrößte Emissionsquelle und entsprechend groß sind die Einsparpotenziale in diesem Sektor. Seit der Novellierung des Klimaschutzgesetzes im Jahr 2021 verfolgt die Bundesregierung das politische Ziel einer Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 65 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990. 2045 soll Deutschland schließlich klimaneutral sein.[2] Der politische Druck auf die Industrie, die Produktion und die Lieferketten in Zusammenarbeit mit Partnerunternehmen klimaneutral umzugestalten ist damit ebenfalls sehr hoch. Hierbei kann Industrie 4.0 ein wichtiges Werkzeug sein. Es besteht ein großes Potential, insbesondere bei der Steigerung der Ressourceneffizienz.

Neue Technologien und dynamische Entwicklungen in der industriellen Wertschöpfung können in erster Linie als enorme Chance für die ökologische Transformation betrachtet werden. Industrie 4.0 kann durch eine vertikale Integration innerhalb eines Unternehmens eine erhöhte Transparenz über Ressourcenbedarfe schaffen und so neue Optimierungs- und Automatisierungsmöglichkeiten bieten. Eine horizontale Integration innerhalb eines Wertschöpfungsnetzwerks kann helfen, eine bessere Balance zwischen Angebot und Nachfrage herzustellen und so Überkapazitäten und unnötige Transporte vermeiden. Nicht zuletzt ist Industrie 4.0 ein wichtiger Enabler für die Kreislaufwirtschaft und kann so helfen, Produkte und Materialien einer Zweit- bzw. Wiederverwendung zuzuführen um auf dieser Basis innovative, ökologisch nachhaltige Geschäftsmodelle zu entwickeln und zu implementieren. In der Industrie 4.0 spielt jedoch auch der zunehmende Einsatz erneuerbarer Energien eine zentrale Rolle, insbesondere die Steigerung der Ressourceneffizienz, sowie die verstärkte Anwendung von Nachhaltigkeitsbewertungen. Neben der ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit stehen im ganzheitlichen Umbau der Industrie jedoch auch soziale Faktoren im Fokus.

[1] Vgl. Umweltbundesamt 2021.
[2] Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz 2022.

Soziale und faire nachhaltige Wertschöpfung

Um den Wandel ganzheitlich zu gestalten, ist die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz neuer Wertschöpfungssysteme in der Industrie zentral. Diese Systeme müssen sozial, fair bzw. ethisch angemessen gestaltet werden. Ein wichtiger Aspekt ist die faire, Mensch-zentrierte Digitalisierung und eine entsprechende Ausrichtung bzw. Gestaltung von Arbeitsplätzen und -strukturen. Darauf gilt es das Organisationsgefüge ebenso auszurichten wie Art und Weise des Leaderships bzw. Managements. Durch Angebote für ein lebenslanges Lernen muss sichergestellt werden, dass der Wandel der Arbeit für alle Beschäftigten angstfrei und ohne unnötige Belastungen vollzogen wird. Zugleich sollten Dynamik und Innovationsfähigkeit der Unternehmen am Markt gestärkt werden, indem beispielsweise flexiblere Arbeitsmodelle eingeführt werden. Das lebenslange Lernen sollte sich auf zukunftsweisende Kompetenzen konzentrieren, wie beispielsweise die Fähigkeit zur Mensch-Maschine-Interaktion, einschließlich der Zusammenarbeit mit kollaborativen Robotern.  Solche Maßnahmen haben auch das Potential, die Attraktivität der Arbeitsplätze für die Mitarbeitenden zu verbessern. Ein Beispiel kann die Abnahme schwerster körperlicher Arbeit durch solche kollaborativen Roboter in einem hybriden Mensch-Maschine-System sein. Bei den Chancen und Potentialen gilt es jedoch direkt auch Herausforderungen im Hinblick auf die Fairness mitzudenken und auch in den entstehenden Märkten ethische Prinzipien zu wahren. Unternehmen können Industrie 4.0-Ansätze auch nutzen, um eine höhere Transparenz in ihren Lieferketten zu schaffen und dabei ebenso eine bessere Fairness bei der Beschaffung von Rohstoffen und Komponenten sicherstellen.
Gleichzeitig gilt es, Diskriminierungsfreiheit und ein hohes Maß an Nachvollziehbarkeit und Transparenz bei der Nutzung von KI-Systemen – z. B. zur Bewertung von Zulieferern, Kunden und Mitarbeitenden – zu gewährleisten. Diese Zielsetzung muss sowohl von den Unternehmen aber auch seitens des Gesetzgebers verfolgt und umgesetzt werden.

Im Auf- und Ausbau von digitalen, datengetriebenen und plattformzentrierten Ökosystemen ist es darüber hinaus ebenso erforderlich, die sich im Zuge der Realisierung von Skalierungspotenzialen und (direkten/indirekten) Netzeffekten ebenso entwickelnden Monopolisierungstendenzen zu beobachten. Auch hier gilt: Neben der Eigenverantwortung der Plattformbetreiber, nach ethischen Grundsätzen zu handeln, ist darüber hinaus bei Notwendigkeit durch den Gesetzgeber sicherzustellen, dass Lock-in-Möglichkeiten nicht dazu ausgenutzt werden, über Monopolstellungen den Zugang zu bzw. die Nutzung von digitalen Plattformen und somit die Erreichbarkeit von Daten und Kontakten nach Belieben zu beschränken.  Schließlich ist die neutrale Bereitstellung von Kommunikationsinfrastruktur im Kontext von Industrie 4.0 elementar. Allen Unternehmen und Akteuren – unabhängig von Größe oder Herkunft – ist ein diskriminierungsfreier Zugang zu gewähren, um funktionierende Märkte sicherzustellen.

Dr. Uwe Kubach ist Vice President und Chief Product Expert in der Abteilung Digital Supply Chain und Manufacturing der SAP SE in Walldorf. Zuvor war er verantwortlich für die Internet Of Things Services in der SAP Technologieplattform und leitete das SAP Forschungszentrum Dresden. Er ist Mitglied im Forschungsbeirat Industrie 4.0 und seit der Gründung ein aktiver Unterstützer. Darüber hinaus steht er in regelmäßigem Austausch zur praktischen Verwertung von Forschungsergebnissen mit Organisationen wie VDI, Fraunhofer Gesellschaft, BMBF und der EU. Er promovierte in Informatik an der Universität Stuttgart und erwarb einen Executive MBA an der Universität Mannheim und der ESSEC Paris. 2012 wurde er zum Honorarprofessor an der Technischen Universität Dresden berufen, wo er bis 2017 tätig war.

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