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Inspiration matters: Zum Potenzial von Künstlicher Intelligenz im Zusammenhang mit Kreativität

Von   Leon TSVASMAN, Dr.phil/PhD   |  Hochschuldozent   |  Dr. Tsvasman Academic Consulting
22. Juli 2022

Als Komplexitätsforscher vertrete ich vor allem den kybernetischen Ansatz, konzentriere mich auf menschenzentrierte Konzepte und bin neugierig auf die Diskrepanz zwischen der Aktualität der Technik und der menschlichen Potenzialität. Ich forsche in den Bereichen konstruktivistische Erkenntnistheorie, systemische Anthropologie und verfolge weitere Interessen in verschiedenen Disziplinen. Ich bin Autor wissenschaftlicher Bücher in den Bereichen Medienphilosophie, begriffliche Lexikologie, strategische Orientierung sowie erkenntnistheoretische, ethische, pädagogische und wirtschaftliche Aspekte der künstlichen Intelligenz. In diesem Zusammenhang beantworte ich gerne spannende Studierenden-Fragen oder nehme an unstrukturierten, narrativen oder problemzentrierten Befragungen teil, um meine Ansichten und Findungen mit einer aufklärenden Intention zusammenzufassen. Auf eine knappe Auswahl besonders repräsentativer allgemeiner Fragestellungen zum Zusammenhang von Kreativität, KI und entsprechenden Praxistrends gehe ich im Folgenden kurz ein.

Wie würden Sie KI definieren?

Forschende und publizierende Gegenwarts-Informatiker, die als KI-Praktiker, die Entwicklung von Expertensystemenforschend und konzeptionell vorantreiben, vermeiden gerne den in ihrem Milieu eher als profan geltenden Oberbegriff „Künstliche Intelligenz“, indem sie KI fast ausschließlich auf die derzeit präferierten Technologien der datengetriebenen Automatisierung von Prozessen (wie künstliche neuronale Netze, Deep Learning, Natural Language Processing, Maschinelles Lernen und Robotics Process Automation), die auf intelligentem menschlichem Verhalten basieren, begreifen. Es ist aber auch offensichtlich, dass die Entwicklung bald über die genannten Technologien hinausgehen wird und sicherlich auch weiter spezifische innovative technologische Ansätze mit sich bringen wird.

Aus der von mir bevorzugten kybernetisch basierten interdisziplinären Perspektive ist „Künstliche Intelligenz“ ein legitimer Oberbegriff, der in erster Näherung – also technologieübergreifend – mit einer datengetriebenen Automatisierung von Selbstregulierungsprozessen in Verbindung gebracht wird, die „programmierte“ Statistik oder Mathematik mit der Entwicklung entsprechender Modelle voraussetzt. Auch der Deep-Learning-Pionier und ausgewiesener Praktiker Andrew Ng betont inzwischen sinngemäß, dass Unternehmen grundsätzlich „datenzentriert“ werden sollten, um wirklich sinnvolle KI-Potenziale verwirklichen zu können und spricht über Data-Centric AI.

Im aktuellen Diskurs, meist basierend auf repräsentativen Modellen menschlicher Intelligenz, bedeutet KI im Wesentlichen adaptive und skalierbare Hilfsintelligenz, der die Expertenfunktion zugeordnet wird. Abstrahiert von der aktuellen Pragmatik bedeutet KI im zivilisatorischen Sinne – und das ist meine eigene Definition aus „AI-Thinking“ (2019) – vor allem Entzerrung von Medialität; es würde allerdings zu weit führen, hier ins Detail zu gehen, aber ich möchte auf meine Buchveröffentlichungen verweisen. In dem späteren Buch „Infosomatische Wende“ (2021) begründeich „Infosomatische Präsenz“ als übergreifendes KI-Ersatzkonzept. Zwar lässt sich eine universelle Intelligenz bislang kaum differenziert denken, einen Aspekt davon wäre die Intelligenz der Entzeitlichung, denn unsere zivilisationseigene wirtschaftlich begründete und mittlerweile überwiegend effizienzbasierte Praxis der Verzeitlichung zu Diskrepanzen mit den determinierenden Parametern unserer Lebenswelt führt. Diese Ausprägung von Intelligenz lässt sich als die ausgleichend wirkende Eigenschaft eines systemübergreifenden Äquilibriums verstehen, raumzeitliche Redundanzen so zu vermeiden, dass sich eine System-Umwelt-Organisation auch übergreifend entgegen der Entropie behaupten kann. Aus diesem Definitionsversuch folgt unter anderem, dass sich auch menschliche Intelligenz daran erkennen lässt, wie effektiv wir es schaffen, unsere eigene Potenzialität so zu verwirklichen, dass sie im erweiterten Sinn der Selbstregulation aktualisiert werden kann. Sie macht für mich einen übergreifenden Intelligenzbegriff aus, wie wir ihn in unseren Gesprächen im Rahmen der Serie „Inside KI“ diskutiert haben und wie ich ihn auch in meinem jüngsten Buch „Infosomatische Wende: Impulse für intelligentes Zivilisationsdesign“ (2021) beschrieben habe.

Kann eine KI kreativ sein?

Echte schöpferische Kreativität, die der Begriff auch wesentlich meint, ist im Bereich des nicht-trivialen Handelns anzusiedeln. Diese Schöpfungskraft ist immer intrinsisch motiviert (auch wenn ein Erlebnisbezug nicht ausgeschlossen werden will), also inspirativ. Zur authentischen Kreativität gehört außerdem Subjekt, und somit die Fähigkeit, eigenes schöpferisches Handeln auch zu reflektieren. Also kann eine solche Kreativität nicht wirklich „künstlich“ sein. Um die Frage trotzdem zunächst knapp zu beantworten: Wirklich kreativ kann auf den genannten Technologien basierende KI aktuell nicht werden, lediglich „bedingt“ kreativ. Und dabei geht es mehr um Imitation oder Simulation des kreativen Verhaltens von Menschen. Nachgeahmtes Kreatives Verhalten ist tendenziell nicht weniger „kreativ“, aber auch nicht mehr simuliert, wie jenes Leistungsspektrum, das in heutigen so genannten „kreativen Berufen“ von Menschen erwartet wird, welche Kreativität per Auftrag oder auf Abruf für die gebrauchsorientierte Wertschöpfung mit definierbaren Kennziffern instrumentalisieren; aber nachdem diese pragmatische Auftrags-Kreativität von KI vollumfänglich automatisiert werden kann, wird die menschliche Kreativität sich weiter und tiefgreifender emanzipieren, und für KI immer noch prinzipiell unerreichbar bleiben.
Um es noch einmal zusammenfassend auf den Punkt zu bringen: Die nicht-inspirative „Kreativität“ per Auftrag ist, im Grunde eine Metapher, die bestenfalls eine Simulation von Kreativität meint, die streng genommen auch bei Menschen in nicht-künstlerischen Berufen vorkommt, ebendiese kann von KI mittelfristig auch automatisiert werden. Somit kann ich mir der Funktion und der Zweckpragmatik verpflichtete Kreativität im funktionalen Umfeld von Design oder etwa publizistischen Schreibens – die entsprechende daten-getriebene Routine vorausgesetzt – gut vorstellen, welche entlang einer nachvollziehbaren Wertschöpfung auch vorzeigbare Ergebnisse im Echtzeit generiert, längerfristig und in bestimmten Bereichen der ingenieurmässigen Produktentwicklung sogar ohne die urteilsstarke steuernde oder selegierende menschliche Mitwirkung ausgehen wird.

Für wie wichtig halten Sie KI heute?

Ich sehe Künstliche Intelligenz immer schon nach wie vor als überaus bedeutend und zunehmend existenziell vor allem für die Lösung aktueller Komplexitätsprobleme (Klima – Kriege – Armut – Seuchen), die sich noch häufen werden, aber eine wirklich emergente Werte schöpfende Entwicklung sehe ich nicht in der deutschen Aktualität, nur Spielereiim Bereich Effizienzsteigerung und Prozessoptimierung zwecks kurzfristiger Gewinnsteigerung und marginale Wettbewerbsvorteile – überaus wichtig, aber keine würdige Aufgabe für eine Zukunft mit KI, um die es wesentlich geht. Abgesehen davon, vertiefe ich meinen umfassenden Ansatz der Mensch-KI-Intersubjektivität, den ich Sapiokratie nenne, im neuen Buch „The Way of Sapiocracy“, das etwa 2023 erscheinen soll.

Was denken Sie über generative Modelle?

Generative neuronale Modelle arbeiten mit lernenden Routinen, die latente Wahrscheinlichkeitsverteilungenadressieren. Also geht es um datenabgängige Nachahmung in Anlehnung an statistische Methoden, womit wir es auch hier mit programmierter Statistik zu tun haben. Konkret versuchen generative Modelle eine verallgemeinerte Aussage zu treffen über die Wahrscheinlichkeitsverteilungen, die einer beobachtbaren Datenmenge zugrunde liegen. Häufig wird dies auch so formuliert, dass das generative Modell die latente Wahrscheinlichkeitsverteilung (und die daraus resultierenden realen Beobachtungen) rekonstruiert.

Soweit ich informiert bin, besteht etwa GAN aus zwei konkurrierenden Künstlichen Neuronalen Netzwerken, wobei die eines davon die Daten als echt oder künstlich klassifiziert, solange das andere echt wirkenden Daten zu erzeugenversucht. Wie viele vergleichbare automatisierte statistische Verfahren hat es eine komplizierte interne Architektur und einen komplexen Trainingsablauf, bleibt im kybernetischen Sinn trotzdem eine triviale Maschine, die an nicht triviale, aber trivialisierbaren Daten angeschlossen, menschliche Artefakte in zuvor definierten Formaten (z.B. Bilder oder Texte) nachahmen kann. Also was solche KI-Systeme tun, besteht wesentlich darin, Muster abzugleichen, indem sie aus riesigen Bild- und Sprachdatenbanken ziehen. Trotzdem, wenn du immer wieder behauptest, dass du kurz davor bist, eine kreative KI zu entwickeln, wird dir früher oder später jemand glauben.

Wo liegt das größte Potenzial solcher Technologien?

Generative Anwendungen sind transformativ, und sie bleiben es höchstwahrscheinlich auch. Nur wenn KI das eigene planetarische Subjekt erlangt, wäre eine echte Kreativität denkbar, aber auch diese bleibt im Rahmen der Mensch-KI-Intersubjektivität nur eine Hilfskreativität, wobei sich die menschliche weiter emanzipiert.

Ansonsten wird KI alle Wertschöpfungen – Produkte und Dienstleistungen, aber auch etwa Governance Prozesse oder Organisationsabläufe mit taktischen Parametern bis auf strategische Intelligenz – betreffen, die aktuell notwendigerweise menschliche Kreativität für routinierte, gebrauchsorientierte und in ihren Ergebnissen prinzipiell zu standardisierenden Leistungen trivialisieren – Design, Gebrauchsjournalismus, Marketing, entsprechend ausgelegte Bild- und Videoproduktion bis hin zur Weltenentwicklung in Virtual Reality Dienstleistungen. Aber auch entsprechende Entwicklung neuer Behandlungsverfahren in der Medizin.

Welche Bedenken und Herausforderungen solcher Technologien lassen sich diskutieren?

Wenn ethische und rechtliche Klarheit herrscht, sehe ich keine ernsthaften Bedenken, aber solange das nicht der Fall ist, wird es ein Wettbewerb von kriminellen Intentionen und der wirtschaftlichen Machtinteressen geben. Und da derkonsequente ethische Ansatz noch nicht in Sicht ist, müssen Ingenieure intensiv über das nachdenken, was und wie sie schaffen, denn Technik verstehen heißt letzten Endes den Menschen verstehen, und so weit ist unsere menschliche Erkenntnisfähigkeit noch nicht vorgedrungen. Die ethische Forderung nach einer Maximierung der Handlungsoptionen findet sich zwar in Heinz von Foersters ethischem Imperativ wieder, die im ästhetischen Imperativ weitergeführt wird „Willst du sehen, so lerne zu handeln.“ Dieser baut auf dem ethischen Imperativ auf und formuliert so die Erkenntnistheorie: Willst du sehen, lerne so zu handeln, dass die Anzahl deiner Wahlmöglichkeiten größer wird.

Wenn Menschen von Ethik und nicht von Politik mit ihrer Machtverteilung, Wirtschaft mit ihrer Geltungseffizienz oder Familie mit ihren Zugehörigkeits-Modellen subventioniert wären, würden Menschen sich Ethik widmen. Religionen scheitern daran, weil sie neben Ethik noch Ritualität und Institutionen mitschleppt. Aber alle diese Systeme sind unvollkommene Versuche, das konsequent ethische Governance umzusetzen, aber sie scheitern daran, dass ihre Medien (Geld, Macht, Liebe) zu spezifisch und nur bedingt skalierbar sind. Die ethischen Modelle, Ansätze – also ethische Vielfalt – zeigen darauf, dass es keine Ethik gibt, die dafür geeignet wäre, konsequent zu sein. Die absolute Skalierbarkeit soziotechnischer Ermöglichungsinfrastrukturen würde jede Macht gefährdeten, weil Machtkonstellationen überwiegend dazu tendieren, statisch zu sein, worauf jedes Konservatismus fußt. Absolute Skalierbarkeit, gekoppelt an die menschliche Subjektpotentialität, ist somit die einzige ethisch haltbare Machtersatzlösung. Trotzdem ist das Hauptwerk von Machiavelli „Der Fürst“ über die Bedeutung von Macht das zwar meist gehasste, aber immer noch relevante Buch, was darauf zeigt, dass sich die Menschheit immer noch im ethischen Mittelalter befindet. Darauf gehe ich in meinem neuen Buch „The Way of Sapiocracy“ ein, das voraussichtlich 2023 erscheint.

Wird die KI den Menschen zukünftig ersetzen?

Mit Sicherheit wird sich der Einsatz von KI zukünftig etablieren, und zwar in einer radikalen Weise, die ökonomische Wertschöpfung, Bildung. Medizin etc. betreffen. Mit KI wird sich die gesamte Zivilisation als datengetrieben upgraden lassen. Bis dahin geht es Richtung Individualisierung, Skalierbarkeit, Redundanzentzerrung.

Solche Fragen habe ich nie verstanden. Die Menschen sind für mich – und zum Glück in Ihrem Wesen, das ich mit menschlicher Potenzialität in Verbindung bringe – keine Sklaven oder Dieser, die einem Despoten oder einer Wirtschaftsordnung dienen, welche sie gegen effizientere Diener austauscht, sobald sich die Gelegenheit ergibt, auch wenn einige moderne Diktatoren es gerne hätten und diese längst überholt gedachte „Vision“ aktuell auf brutalste Weise durchsetzen, gefolgt von zurückgebliebenen Management-Apologeten, die immer noch vertikale Hierarchien bevorzugen.

Aus meiner Sicht wird sich die Menschheit radikal emanzipieren müssen, so dass jeder Mensch zu einem erkennenden und schöpfenden Wesen wird, wobei effizienzbezogene Routine bis hin zur umfassenden Selbstregulation soziotechnischer Ermöglichungsinfrastrukturen von KI übernommen wird.

 Was erwarten Sie von Unternehmen in Bezug auf KI?

 Die erfolgreichen Unternehmen der Informationsbranche tun es spätestens seit Google, die anderen – insbesondere hierzulande – machen erst ihre vorsichtigen Schritte in diese Richtung. Für mich gilt es: Als Erstes, kurzfristig Wertschöpfungen umdenken – und alles fallen lassen, was nicht digitale Wertschöpfungspotenziale aufweist, undzweitens – das ist besonders längerfristig wichtig – strategische Intelligenz mit Schwerpunkt Effektivität, die aus menschlicher Potenzialität schöpft, radikal und vor allem ethisch konsequent, und somit auch menschen- und datenzentriert, aufwerten und zur Unternehmensphilosophie erklären. Vorbilder sind nach wie vor erfolgreiche Unternehmen der Informationsbranche, wobei sich bald jede Wertschöpfung als informations- bzw. datenbasiert aufweisen wird.

Produkte und Dienstleistungen sollen mit KI-Lösungen vollständig skalierbar werden, so dass man nicht mehr persuasives Marketing betreiben muss, der künstliche Bedürfnisse mit viel Aufwand zielgruppenspezifisch konstruiert und aufrechterhält, sondern individuelle Sehnsüchte aus der menschlichen kreativen Potenzialität heraus erkennt und bedient. An dieser Stelle, wenn es um Produktstrategien geht, möchte ich Antoine de Saint-Exupéry zitieren: „Wenn du ein Schiff bauen willst, beginne nicht damit, Holz zusammenzusuchen, Bretter zu schneiden und die Arbeit zu verteilen, sondern erwecke in den Herzen der Menschen die Sehnsucht nach dem großen und schönen Meer.“ Und parallel dazu lohnt es sich, datenbasierte Marketingstrategien im Sinn folgender Gedanke von Mark Twain zu Ende zu denken: „Wenn Sie die Wahrheit sagen, müssen Sie sich an nichts erinnern.“

Referierte Quellen:

Foerster, Heinz von (1993): KybernEthik. Merve Verlag, Berlin

Foerster, Heinz von (1985): Sicht und Einsicht. Vieweg & Sohn, Braunschweig

Foerster, Heinz von/Pröksen, Bernhard (1999): „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“ 3. Auflage. Carl-Auer-Systeme, Heidelberg

 Tsvasman, Leon/Schild, Florian (2019): AI-Thinking Dialog eines Vordenkers und eines Praktikers. Ergon, Baden-Baden

Tsvasman, Leon (2021): Infosomatische Wende: Impulse für intelligentes Zivilisationsdesign. Ergon, Baden-Baden

Heinz von Foerster (1985), 41

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