Krankengeschichte, Medikamente, Unverträglichkeiten, Blutwerte, behandelnde Ärzte – in den meisten Fällen gehen diese Informationen immer noch in verstaubten Aktenordnern der Praxen und Kliniken verloren. Die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen wurde bisher verfehlt. Auch die elektronische Patientenakte, die ePA, wird ihrer Rolle als Vorreiterprojekt in Sachen digitaler Transformation des Gesundheitswesens nicht gerecht. Von den potenziell 73 Millionen gesetzlich Versicherten in Deutschland haben sich nur 550.000 für eine ePA entschieden (Stand: Anfang November 2022). Das sind weniger als ein Prozent. Noch haben die Patienten ihren Wert scheinbar nicht erkannt, aber auch in Kliniken und Praxen wird sie viel zu stiefmütterlich behandelt. Ein großer Fehler, denn die ePA kann, nicht nur meiner Meinung nach, Leben retten.
Warum? Die ePA ist ein zentraler Schritt in der digitalen Transformation des Gesundheitswesens und damit ein Wegbereiter für den Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI). Leben und Gesundheit der Menschen in Deutschland könnten besser geschützt werden, wenn endlich die Möglichkeiten der Digitalisierung im Gesundheitswesen sinnvoll und flächendeckend genutzt würden. Digitalisierung kann buchstäblich Leben retten. Eine aktuelle Studie der Barmer Krankenkasse hat ergeben, dass allein in Hamburg jährlich etwa 1.000 Todesfälle im Zusammenhang mit Arzneimitteltherapien vermieden werden könnten. Bundesweit, so das Ergebnis des Barmer Arzneimittelreport 2022, sind es bis zu 70.000 Menschen, die noch nicht hätten sterben müssen, wenn alle behandelnden Ärzte Einblick in die Therapien und die möglichen Wechselwirkungen hätten. Wenn diese Patienten eine ePA gehabt hätten, könnten sie noch am Leben sein.
KI braucht vor allem eines: Daten
Die ePA, die Messung von Gesundheitsdaten per App, die Kommunikation zwischen Ärzten und Krankenhaus über eine Plattform, die Video-Sprechstunde – das sind nur einige Beispiele für digitale Technologien, die derzeit die deutsche Gesundheitswirtschaft mehr oder weniger aktiv angeboten und implementiert werden. Es gilt diese Anwendungen nicht nur breit auszurollen, sondern sie miteinander sinnvoll zu vernetzen und diese Daten effektiv zu nutzen.
Erst durch die digitale Vernetzung von Patientendaten wird es möglich, Erkrankungen frühzeitig zu erkennen, den Behandlungsprozess zu individualisieren und zu optimieren. Mit Hilfe von KI die kann unsere Gesundheitsversorgung also insgesamt auf ein neues Niveau gehoben werden. In den letzten Jahren nimmt KI eine immer wichtigere Rolle bei der Diagnose, der Behandlung von Krankheiten und letztlich der Verbesserung der Behandlungseffizienz ein. Beispielsweise kann die KI bösartige Erkrankungen erkennen und diagnostizieren, indem sie Daten aus Computertomographie, Röntgenaufnahmen und anderen bildgebenden Verfahren verarbeitet oder via Anwendungen wie ChatGPT leicht verständlich aufbereitet. Außerdem können Doppeluntersuchungen vermieden werden, was sowohl zu einer Entlastung der Patientinnen und Patienten als auch der Ärztinnen und Ärzte führt. Alle diese Möglichkeiten sind längst nicht ausgeschöpft. Um das zu tun, brauchen wir die ePA flächendeckend.
Dass der Einsatz künstlicher Intelligenz in Forschung, Verwaltung und Versorgung das gesamte Gesundheitswesen stark verändern wird, haben die Beteiligten durchaus erkannt. Die Vorteile liegen auf der Hand: Auf der einen Seite wird wertvolle Zeit eingespart und damit die Qualität der Versorgung erhöht – technisch wie auch menschlich. Wem die KI Aufgaben in der Diagnose, der Behandlung oder der Pflege abnimmt, der hat wieder mehr Zeit für die menschliche Seite der Medizin. Etwas, dass in den letzten Jahren an vielen Stellen und nicht nur aus der Sicht der Patienten zu kurz kommt.
Die technischen Möglichkeiten sind bereits da – und entwickeln sich in rasantem Tempo. Nur das Gesundheitswesen kommt nicht hinterher. Wenn es darum geht, Gesundheitsdaten zum Zwecke besserer Gesundheitsversorgung zu sammeln – z.B. in der elektronischen Patientenakte – und diese Daten gezielt für Forschung, Prävention, Diagnostik und Therapie verfügbar zu machen, dann türmen sich bürokratische Hindernisse auf, die eine sinnvolle Datennutzung beinahe unmöglich machen. Länder wie Dänemark oder Estland, in denen ebenfalls die Datenschutzgrundverordnung gilt, sind uns in der Digitalisierung des Gesundheitswesens – wieder mal – Jahre voraus.
Von der Realität längst überholt
KI braucht für belastbare Analysen qualitativ hochwertige Daten. Viele dieser Daten liegen bereits vor, nur nicht an der richtigen Stelle. Im Zweifel wissen Apple, Google und Meta sehr viel mehr über die Gesundheit ihrer Nutzer als deren Hausarzt. Datensparsamkeit ist ein Konzept der Vergangenheit. Es gilt die Daten an einer Stelle zu zentralisieren und dort verantwortlich mit ihnen umzugehen. Diese Schnittstelle bietet die ePA. Das Gesundheitswesen darf diese Gelegenheit nicht verpassen, denn die Digitalisierung ist die größte Chance, unseren ineffizienten Gesundheitsbereich zukunftsfähig zu machen. Eine McKinsey-Studie hat ermittelt, dass durch die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens 42 Milliarden Euro pro Jahr eingespart werden könnten.
Warum wird die ePA trotz dieser Vorteile nicht angenommen? Das Problem ist aus meiner Sicht vielseitig: neben verschiedenen – in der Regel emotionalen –Vorbehalten in Sachen Datenschutz, scheint die „Holschuld“ eine Hürde zu sein. Bisher müssen Versicherte die ePA bisher bei ihren Krankenkassen in einem komplizierten Anmeldeprozess beantragen. Außerdem ist das Pflegen der Akte bisher mit viel Eigeninitiative auf Seiten der Versicherten verbunden. Das soll sich ändern: 2024 wird die „ePA für alle“ für alle Versicherten eingerichtet. Wer sie nicht möchte, muss aktiv widersprechen. Diese „Opt-Out-Lösung“ ist aber kein Garant für das Gelingen des zentralen Digitalisierungsprojekts der Branche. Wie sichergestellt werden soll, dass die Versicherten den Mehrwert der ePA erkennen, ist aus meiner Sicht nicht genügend berücksichtigt. Nur auf den guten Willen der Versicherten zu setzen, wird sicherlich nicht ausreichen.
Wenn aber der Aufbau von Vertrauen in die digitale Patientenakte schon Jahre dauert, haben wir im Bereich KI noch einen (zu) langen Weg vor uns. Alle Akteure im Gesundheitswesen müssen zielorientiert zusammenarbeiten und bereit sein, sich auf Expertenwissen zu verlassen und das Tempo zu erhöhen, denn die Digitalisierung ermöglicht gänzlich neue Wege der Kommunikation zwischen Ärztinnen und Ärzten auf der einen und Patientinnen und Patienten auf der anderen Seite. Zum Nutzen unser aller Gesundheit.
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