Die KI der Zukunft – den Horizont erweitern

Im Beitrag wird das Modell der drei Horizonte nach Bill Sharpe, Innovationsforscher, erläutert und auf aktuelle KI-Entwicklungen bezogen. Es impliziert die Frage: Welches Verhältnis zur Zukunft gehen Innovationen ein? Und aus welchem Verhältnis zu Gegenwart und Vergangenheit wird Zukunft entworfen?
Von   Nikola Plohr   |  Professorin/Gründerin   |  Dr. Nikola Plohr Coaching
23. September 2024

Die KI der Zukunft – den Horizont erweitern

 

Stephen Hawking soll einmal gesagt haben:

„KI ist wahrscheinlich das Beste oder das Schlimmste was der Menschheit passieren kann.“ [1]

Derzeit kreisen öffentliche, unternehmerische und auch individuelle Standpunkte um Risiken und Chancen, Pros und Contras, Eindämmung und Potentiale von KI-Integration. [2] Spätestens seit der Einführung von ChatGPT besteht kein Zweifel mehr daran, dass KI nicht nur die Gegenwart verändert, sondern auch die Zukunft entscheidend mitgestaltet. Wie sie dies genau tut, ist ungewiss und eröffnet neue Perspektiven auf gesellschaftliche Entwicklungen und Zukunftsperspektiven.

So lässt sich beispielsweise beobachten, dass Deep Learning Systeme auf bestehenden Trainingsdaten beruhen, die aus der Vergangenheit gespeist werden. Zukunft wird hierbei entsprechend aus Vergangenheit abgeleitet und in Wahrscheinlichkeiten übersetzt. Andererseits geht insbesondere in die Prozesse des Bereinigens von Codes eine Idee von Zukunftsgestaltung und -entwurf ein. Auch das Potential zum Erkennen von Biases, die sich aus der Vergangenheit ableiten, entfaltet sich in der Auseinandersetzung mit entstehenden KI-Systemen. In Codes, Algorithmen und Systeme gehen verschiedene Zeitbezüge ein. Sie implizieren jeweils auch ein spezifisches Verhältnis zur Zukunft.

 

Als theoretischer Rahmen für diese Bezugnahmen auf mögliche Zukünfte lassen sich die drei Horizonte nach Bill Sharpe anführen. Er beschreibt sie als drei mögliche Muster, in denen sich Zukunft aus der Gegenwart entwickeln lässt: [3]

  1.  Horizont eins beschreibt Zukunftsentwürfe, die eine starke Vergangenheitsorientierung aufweisen. Sie folgen dem Prinzip business as usual und weichen nicht von gewohnten Mustern ab. Metaphorisch beschreibt Sharpe diesen Horizont als den der Ingenieur:innen. Es wird den bereits entwickelten Bauplänen gefolgt und an der akribischen Umsetzung gearbeitet.
  2.  Horizont zwei beschreibt Zukunftsentwürfe, die eine starke Gegenwartsorientierung aufweisen. Sie folgen dem Leitsatz Das bestehende System bestimmt nicht die Zukunft. Es wird kontinuierlich daran gearbeitet, plausible Zukünfte zu entwerfen, die Gegenwart einzuordnen, zu bewerten und auch zu kritisieren.  Nach Sharpe folgt dieser Horizont dem Mindset der Entrepeneur:innen. Es wird immer wieder auf die Herausforderungen der Gegenwart reagiert, nach neuen Lösungen gesucht und über business as usual hinausgedacht.
  3.  Horizont drei beschreibt Zukunftsentwürfe, die eine starke Zukunftsorientierung aufweisen. Sie beschäftigen sich mit wünschbaren Zukünften und bringen Visionen jenseits notwendiger Veränderungen hervor. Dieser Horizont entspricht den Denkschemata der Visionär:innen, die weit über eine Gegenwartsorientierung hinausgehen und sich dem Bereich des imaginativen Entwerfens nähern.

 

Nach Sharpe stehen alle drei Horizonte immer gleichzeitig zur Verfügung und können Innovation und Transformation befördern.
Mit Blick auf die Entwicklung und Einordnung von KI-Systemen lassen sich für alle drei Horizonte Beispiele finden:

Horizont eins: Amazon nutzte bereits im Jahr 2014 eine KI-basierte Recruiting-Software, die Bewerbungsdaten sammelte, auswertete und daraufhin eine Vorauswahl geeigneter Bewerber zusammenstellte. Diese erwiesen sich als fast ausschließlich technikaffine männliche Kandidaten. Die Software filterte Bewerbungen von Frauen eher heraus, da sie aus den Trainingsdaten ableitete, dass technikaffine Männer sich mehr für das Unternehmen interessierten. [4]

In diesem Beispiel ist der Code-immanente Bias eines KI-Systems sehr offensichtlich. Es werden aus Trainingsdaten, die bestimmte Korrelationen aufweisen, falsche Kausalitäten abgeleitet. So kann es dazu kommen, dass sich ein Bias verfestigt, dieser aber auch sichtbar wird und in der Folge bestenfalls überwunden werden kann. Die Trainingsdaten, die Amazon verwendete, speisten sich aus der Vergangenheit der bereits erfolgten Einstellungsprozesse. Wäre der Code in der Folge nicht bereinigt worden, hätte das KI-basierte System weiterhin auf falschen Schlussfolgerungen beruht und den benachteiligenden Bias in die Zukunft projiziert.

Horizont zwei: Das Forschungsprojekt SAUBER widmet sich dem Einsatz von KI für das Monitoring von Luftqualität mithilfe von Satellitendaten. Als Teil der Forschungsinitiative mFund wird das Ziel der genaueren Vorhersage von lokaler Luftverschmutzung verfolgt, um langfristig eine umweltschonendere Verkehrsführung zu erreichen. [5]

Hier wird über den Status von business as usual hinausgedacht und an einer Reaktion auf eine konkrete gegenwärtige Herausforderung gearbeitet. Es geht hierbei nicht nur um ein Abbilden von Luftverschmutzung, sondern um ein aktives Eingreifen und buchstäbliches Umlenken. Aus der Gegenwartsorientierung der erhobenen Daten wird eine Zukunft entworfen, die anders aussieht als die Gegenwart, aus der sich der Datenpool speist.

Horizont drei: Als Antwort auf den Erfolg von ChatGPT veröffentlicht Google im Jahr 2023 Gemini. Der KI-basierte multimediale Chatbot fokussiert insbesondere auf Wissensgenerierung und -einordnung, sowie analytische Aufgabenbereiche, ist aber auch dazu in der Lage, Bilder und Texte zu generieren. Beide KI-Anwendungen sind einer breiten Öffentlichkeit zugänglich und werden für private und berufliche Kontexte genutzt.

 

Auf einer Metaebene lässt sich beobachten, dass mit der Einführung von KI-Systemen zur Text- und Bildgenerierung, sowie -analyse eine neue Form von Kollaboration zwischen Technologie und ihren User:innen möglich wird.

KI ist in diesen Beispielen mehr als ein „Tool“, sie produziert und kreiert Inhalte auf der Basis von Prompts. Wie sie zu den generierten Inhalten gelangt bleibt oftmals intransparent. Dennoch ergibt sich eine dialogische Form des Austauschs zwischen Chatbot und User:in, eine neue Form der Zusammenarbeit. Wie sich diese Kollaborationsformen auf zukünftige Formen von Kreativität, Wissensproduktion und Arbeitsweisen auswirken, ist noch ungewiss. Zugleich gehen die Entwicklungen von ChatGPT und Gemini weit über das Entwerfen plausibler Zukünfte hinaus und widmen sich einer Idee von wünschenswerter Zukunft.

Ob die Vision einer verstärkten Kollaboration zwischen KI und User:innen immer nur wünschenswertes hervorbringt bleibt offen.

In der KI-Entwicklung verweben sich alle drei Horizonte nach Bill Sharpe miteinander. Das Modell kann als Analysetool für die Einordnung bestehender Systeme dienen, aber auch für Innovationsprozesse selbst hinzugezogen werden.

Jenseits aller Horizonte bleibt die Frage, ob – in Anlehnung an Stephen Hawking – KI nun das Beste oder das Schlimmste ist, was der Menschheit passieren kann, ihrerseits zukunftsoffen.

 

 

Quellen:

[1] Katzlberger (2020) Die besten Zitate über Künstliche Intelligenz. Artificial Creativity. https://katzlberger.ai/2020/03/13/die-besten-zitate-ueber-kuenstliche-intelligenz-in-deutscher-sprache/, zuletzt aufgerufen; 03.07.2024.

[2] Wittpahl (2019) Künstliche Intelligenz. Technologie, Anwendung, Gesellschaft. Berlin.

[3] Sharpe, Bill (2013) Three Horizons. The patterning of hope. Axminster.

[4] Wilke (2018) Künstliche Intelligenz diskriminiert (noch). https://www.zeit.de/arbeit/2018-10/bewerbungsroboter-kuenstliche-intelligenz-amazon-frauen-diskriminierung/komplettansicht, zuletzt aufgerufen: 03.07.2024.

[5] Plattform Lernende Systeme. https://www.plattform-lernende-systeme.de/best-practice.html?AID=308, zuletzt aufgerufen: 03.07.2024.

Prof. Dr. Nikola Plohr ist Professorin für Mediensoziologie an der Hochschule Fresenius in Hamburg und arbeitet zusätzlich als selbständiger Mindful Leadership Coach. Seit 2018 ist sie als Beraterin für Unternehmen und Führungskräfte tätig.

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