Dr. Ralf Schneider im Gespräch
Wie digital ist die Digitalisierung in den letzten Jahren geworden?
Covid hat uns einen großen Boost und damit Sprung gebracht. Ich hatte 2011 schon einen virtuellen Client bei der Allianz eingerichtet, mit dem jeder jederzeit von jedem Ort aus auf alle Ressourcen zugreifen konnte. Das hat sich während Covid ausgezahlt. Im Grunde haben viele Mitarbeiter erst dann gelernt, diese Tools zu benutzen. Mit der Digitalisierung ist es heute ähnlich: Wir müssen erst feststellen, was wir schon haben, um feststellen zu können, was wir noch nicht haben. Dann müssen wir lernen, damit umzugehen, um vom praktischen Umgang wieder auf Neues zu schließen. Covid hat diesen Kreislauf getriggert. Man sieht, dass etwas passiert; dass sich etwas entwickelt und dass wir weiterkommen.
Sie agieren global und digital. Welchen Faktor nimmt die Sprachbarriere ein? Nutzen Sie digitale Devices, um dem entgegenzuwirken?
Die schnelle Übersetzung ist noch nicht operativ gut genug. Wir nutzen vorwiegend die englische Sprache zur Kommunikation. Wenn die Technologien schneller, effizienter und vor allem einfacher in der Benutzung werden, dann wird die simultane Übersetzung sicherlich Einkehr in die Arbeitskommunikationen internationaler und globaler Art finden. Das Mitlaufen einer Übersetzung in Untertiteln wird schon bald kommen. Das Problem ist, dass man dabei die Orientierung verliert. Hören und gleichzeitig lesen, das ist überfordernd. Die Synchronisation direkt ins Ohr wird sicherlich in der Entwicklung bald bereitstehen. Warum brauchen wir das? Ich bin überzeugt, dass wir Arbeitsprozesse auch dann beschleunigen und verbessern, wenn wir in unseren Muttersprachen agieren können. Native Speaker haben in dieser globalisierten Welt immer einen Sprachenvorteil – diese Übersetzungstools würden hier für mehr Gleichheit und mehr Gerechtigkeit sorgen –.
Alle reden über Digitalisierung. Drehen wir das Thema mal um: Was muss unbedingt noch „analog“ bleiben?
Ich habe schon Beziehungen „remote“ aufgebaut, das heißt, ich habe Menschen nur über digitale Tools kennengelernt. Man muss auch betonen, dass die Videokonferenz ein Quantensprung im Vergleich zum Telefon ist. Mit dem Telefon kann ich kein Bonding aufbauen; mit Videokonferenzen schon. Jetzt kommt allerdings das große Aber: Der nächste Level eines Bondings ist das reale Treffen. Telefon ist nur Informationsaustausch, Video fördert erste Verbindungen, und um diese zu festigen, brauche ich den „analogen“ Austausch. Dann kann man wieder remote gehen – und für dieses eine Treffen, das eine echte Verbindung herstellt, brauche ich auch ein „echtes“ Treffen. Mindestens eines.
Es gibt digitalen „Ersatz“ für Partnerschaften. Gibt es eine Gefahr, wenn das Analoge hier ganz ausbleibt?
Ja, das ist sehr gefährlich. Wir werden lernen müssen, mit einer Maschine zu kommunizieren. Alles, was wir schon in Filmen oder Büchern erlebt haben, wird mit den Maschinen stärker aufkommen. Dass eine AI ein Companion, also ein „Gefährte“ ist, das können wir ja irgendwie schon nachvollziehen. Hunde sind auch schon Gefährten der Menschen. Menschen kaufen sich Hunde, weil Hunde den Besitzern eine bedingungslose Aufmerksamkeit schenken. Das kann AI auch – vielleicht sogar noch besser. Darin besteht die große Gefahr, weil wir nur noch virtuell diese Aufmerksamkeit bekommen. Das ist eine Illusion, weil das Digitale nur eine Täuschung wiedergibt und nie eine Substanz eines echten Menschen.
Dahinter verbirgt sich vielleicht auch das Lustprinzip: Hunde schenken uns etwas zurück, wenn wir Zeit mit ihnen verbringen. Das könnten Maschinen natürlich auch – vielleicht in optimierter Form noch besser. Das ist die große Täuschung, die zur Verführung wird, oder?
Ganz richtig. Und hier müssen wir aufpassen, das Analoge nie zu vergessen. Ich habe ja schon vor Jahren den Gedanken ausgedrückt, was etwa passieren würde, wenn wir auch unsere sexuellen Bedürfnisse gänzlich virtualisieren. Was passiert, wenn uns Sex digital mehr Spaß macht als „analoger“, echter Sex? Die digitale „Variante“ wäre ja sicher, es könnte nichts passieren, es gäbe keine Krankheiten und vielleicht auch keine Enttäuschungen. Nur bekommen wir dann alle keine Kinder mehr?
Wie können wir das verhindert?
Wir dürfen das Digitale – ich nutze es mal heuristisch als Sammelbegriff – nicht nur den Technikern und IT-lern überlassen. Wir brauchen alle – die Soziologen, die Philosophen, die Psychologen etc. – , die sich um Technik kümmern, da Technik ein allgemeines, gesamtgesellschaftliches Phänomen ist. Sich im Grundstudium Psychologie nicht mit AI zu beschäftigen, ist in meinen Augen fahrlässig.
Und die Philosophen? Vielleicht geht es denen auch so, dass sie wieder die richtigen Fragen stellen müssen, um Antworten von den Technikern zu bekommen?
Absolut. Neulich unterhielt ich mich wieder mit einer Kollegin über den Einsatz von ChatGPT. Mich macht der Umgang damit immer müde. Warum? Ich bekomme schneller Antworten als ich Fragen stellen kann. Das Schlimme dabei: Umso besser ich frage, umso besser ist die Antwort, die ich von ChatGPT bekomme. Ich werde nie fertig. Es gibt kein Kommunikationsende mit ChatGPT. Mein Gehirn ist jedoch darauf trainiert, mit einem Menschen zu sprechen. Menschen haben Gefühle, Absichten, Ziele, Schwankungen, stolpern, drücken sich unklar aus – das macht die Maschine nicht. Sie ist immer gleich.
Was ist eigentlich Kommunikation?
Kommunikation ist der Austausch von Informationen zwischen Akteuren. Jetzt muss man sich fragen: Was ist eine Information? Es ist der Unterschied, der den Unterschied macht für den Interaktions- oder Aktionsprozess zwischen Akteuren. Wenn ich einen Satz in einer mir fremden Sprache höre, ist das keine Information, weil ich damit nichts anfangen kann. Wenn ich etwas in meiner Muttersprache erzählt bekomme, das ich schon vollständig weiß, dann ist das auch keine Kommunikation, weil es in mir nichts auslöst. Es geht also um eine Kommunikation, die den Unterschied für mich macht.
Spannend ist jetzt der Blick auf unsere digitale Welt: Maschinen sind nämlich schon Akteure in diesem Spiel: Wenn mir ein Algorithmus in LinkedIn etwas vorschlägt und ich zugreife, dann wurde durch diese Information ein Impact in mir ausgelöst.
Ist ChatGPT dann aber eine Kommunikation?
Nein, weil ein Akteur in der Situation keinen Fortschritt hat. Die Maschine kommuniziert, strenggenommen, nicht. Wenn ich mit ChatGPT schreibe, dann ist das niemals eine Kommunikation. Eben aus dem Grund heraus, dass auf beiden Seiten nichts passiert. Wenn, dann ist es maximal eine einseitige Kommunikation, die aber nicht dual aufgebaut ist. Verwechseln wir die ChatGPT-Situation mit einer echten Kommunikation, dann haben wir ein Problem mit unserem Verständnis von einem Gespräch. Dann wird der Umgang mit Maschinen gefährlich, weil er falsch ist.
Früher hat man gesagt, man müsse eine breite Bildung fördern. Das Allgemeinwissen zähle in einer diversen Gesellschaft. Haben Applikationen wie ChatGPT die Macht, unser Verständnis von Bildung zu verändern, weil es vielleicht gar nicht mehr um Allgemeinwissen geht, sondern nur um die Kunst des richtigen Fragens? Ist das Fragen heute wichtiger als das Antworten, weil Maschinen längst schon für uns antworten?
Diese Tendenz ist klar. Wenn ich mit einer Maschine interagiere – wie mit ChatGPT –, dann macht es mich schlauer. Das Problem dabei: Es macht die Schlauen schlauer und die Dummen dümmer. Das ist ein Kernproblem unserer Digitalisierung. Beim quantitativen Verhältnis zwischen Gebildeten und Ungebildeten kann es dann jedoch passieren, dass die Gebildeten immer weniger werden. Ich meine das nicht despektierlich. Kein Mensch ist von Grund auf dumm. Wir müssen aber im Bildungssystem wieder kritisches und spekulatives Denken fördern. Wir müssen eigenständig lernen, Synthesen zu ziehen, um unseren Denkapparat zu trainieren. Dann kann die Maschine ein Begleiter sein. Ich brauche unbedingt die kritische Haltung der Maschine und der Welt gegenüber, um in einer solchen digitalen Welt künftig erfolgreich zu bestehen. Das dialektische Denken von Hegel müsste kommen. Doch wo ist das noch vorhanden, außer in einem elitären Kreis?
Kann eine Maschine so denken wie Hegel?
Ja, das funktioniert wunderbar! Ich habe es selbst bei einem Bekannten erlebt, der eine künstlich intelligente Maschine so programmiert, das sie immer die antithetische Haltung zu einer bestimmten These einnimmt. Eine zweite Maschine kann dann daraus immer eine Synthese ziehen. So haben wir den berühmten dialektischen Prozess. Alles ganz einfach und programmierbar – aber das ist nicht Hegel. Das ist nicht im Sinne Hegels, weil es letztlich keinen Fortschritt außerhalb dieses Systems gibt. Die Dialektik muss letztlich auch aus sich selbst heraustreten können. Wie soll eine Maschine dies tun, wenn diese immer nur synthetisiert, was schon vorhanden ist? Das wäre kein Fortschritt, eher ein totaler Rückschritt für unser Denken, weil es sich nur im Kreis dreht. Hegels Dialektik ist kein Kreis, sondern eine Linie, die Fortschritt heißen muss. Dieser Fortschritt bleibt dann nur den Wirklich-Denkenden, also den Menschen, vorbehalten. Wir können Hegel in einer Maschine simulieren, so zu denken wie Hegel, müssen wir aber dringend selbst!
Ist das dann Ihr Bildungsideal für eine digitale Welt? Hegelianisch zu sein in einer monologischen Welt von Maschinen?
In etwa. Ich würde es zusammenfassen: Das Bildungssystem muss so ausbilden, dass die Menschen selbst die Master von Maschinen sein werden. Man kann aber nur Master werden, wenn ich die Basics verstehe. Ich muss also weiterhin gutes Deutsch können, ich muss gut in Mathematik sein – ich brauche alle Grundlagen, vielleicht mehr denn je, um ein solcher Master am Ende des Bildungsweges sein zu können. Wir müssen aufpassen, dass sich die Welt nicht noch weiter aufspaltet in zwei Lager: eines, das nur noch konsumiert, was das andere produziert. Wir müssen Selbstschaffende bleiben, um nicht nur passiv zu konsumieren. Das ist keine technische, sondern eine intellektuelle Aufgabe und der Schlüssel für eine gelingende Digitalisierung.
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