Technology Readiness Level: Reifegrad von Life Science-Produkten bestimmen

In der Medizintechnik und in der Life Science treiben neue Technologien wie Data Science, Machine Learning (ML) und KI die Entwicklung von smarten High-Tech-Geräten voran. Woran erkennen Entwicklerteams, ob die geplante Innovation tatsächlich zum Produkt taugt? Ein Ansatz der NASA – das Framework für Technology Readiness Level (TRL) – hilft Meilensteine zu definieren und Risiken zu minimieren.
Von   Robert Frodl   |  Director DACH Customer Development for Engineering Solutions   |  Plexus
7. Juni 2023

 

Den Technologie-Reifegrad von Geräten und Verfahren im Life Science-Bereich zu bewerten kann schwierig sein. Woran erkennen Engineering-Teams, wie weit sie in der Entwicklung tatsächlich sind? Und wie lassen sich objektiv Meilensteine definieren? Das Framework für Technology Readiness Level (TRL) schafft hier Klarheit.

Die Idee einer Skala zur Bewertung des Entwicklungsstandes von neuen Technologien kommt ursprünglich von der NASA und wurde dort in den 70ern Jahre entwickelt. Seitdem haben viele Hersteller den TRL-Ansatz für die eigene Entwicklung übernommen und ihn für unterschiedliche Branchen adaptiert. Das Ziel ist jedoch immer das gleiche: Das TRL-Framework soll eine einheitliche Basis aus Nomenklatur, Standards und Methoden schaffen, um den Reifegrad einer neuen Lösung zu bewerten. Der Weg von der Idee zum fertigen Produkt umfasst drei Phasen: Forschung, Entwicklung und Realisierung. Stufe 1 bezeichnet dabei die früheste Stufe. Bei TRL 9 angekommen ist die Technologie bereit für die Markteinführung.

Grundsätzlich lassen sich die neun Levels wie folgt definieren:

Level 1 – Nachweis der Grundprinzipien

Level 2 – Formulieren des technologischen Konzepts bzw. der Anwendung

Level 3 – Experimentelle Bestätigung des Konzepts bzw. der Anwendung (POC)

Level 4 – Funktionsnachweis der Technologie im Labor

Level 5 – Funktionsnachweis der Technologie in der Einsatzumgebung

Level 6 – Demonstration der Technologie in der Einsatzumgebung

Level 7 – Testen eines Prototyps bzw. Subsystems im realen Einsatz

Level 8 – Fertigstellung und Zertifizierung

Level 9 – Funktionalität des Systems in operationeller Umgebung verifiziert

Benchmark für Life Science-Innovation
Im Bereich Life Science findet sich das TRL-Framework sowohl in der Entwicklung von Arzneimitteln und bei therapeutischen Verfahren als auch in der Labordiagnostik. Die Reifegrad-Skala lehnt sich dabei stark an die ursprünglichen Stufen der NASA an, beinhaltet jedoch speziell auf die Biowissenschaften zugeschnittene Kriterien. Dazu gehört z. B. das Screening von chemischen Verbindungen, Good Laboratory Practice (GLP) und Non-Good-Laboratory Practice (Non-GLP) sowie In-vitro-Nachweise. Produkte und Verfahren durchlaufen umfangreiche Tests, um Wirkung und Verträglichkeit zu analysieren. In klinische Studien wird zudem unter kontrollierten und überwachten Bedingungen die Sicherheit der Produkte nachgewiesen.

Inwieweit die TRLs an den Bereich Biowissenschaften angepasst werden müssen, hängt vom zu realisierenden Produkt sowie den regulatorischen Voraussetzungen zur Verkehrsfähigkeit ab. In der Medizintechnik beispielsweise beziehen sich die TRL-Definitionen in der Regel auf Produkte, die im Rahmen des Premarket Approval-Verfahrens zugelassen werden müssen (FDA Klasse II und III). Für andere Produkte sind jedoch auch weniger umfangreiche Tests und Prüfungen entlang der neun TRL-Level denkbar. Auch IVD-Produkte sind seit Einführung der Europäischen Verordnung für In-vitro-Diagnostika (IVDR) bestimmten Risikoklassen zugeordnet. Die Klassifizierung hat entscheidenden Einfluss auf Konformitätsbewertungsverfahren, Zertifizierungsaudits und die Markteinführung und muss dementsprechend in das TRL-Framework integriert werden.

Eine Frage des Risikos
Im stark regulierten Life Science & Healthcare Umfeld bieten TRL-Definitionen Entwicklern also eine systematische Möglichkeit, den Reifegrad von Produkten gegenüber Bundesaufsichtsbehörden nachzuweisen. Ursprünglich stammen TRLs jedoch aus der Risikobewertung. Die TRA-Verfahren und -Ergebnisse werden demnach auch intern für die Ermittlung und das Management von Risiken bei innovativen und fast experimentellen biowissenschaftlichen Projekten herangezogen. Das gilt neben dem Endprodukt auch für Komponenten und Teilsysteme.

Grundsätzlich gilt: Je niedriger die TRL-Level desto weiter ist das Produkt von der Markteinführung entfernt – und desto größer ist das Risiko für Unternehmen und Investoren. Im Bereich Life Science nimmt das Risiko jedoch mit Erreichen höherer TRL-Stufen nicht linear ab. Tatsächlich bleibt das Risiko bis zu einem sehr späten Zeitpunkt sehr hoch. In vielen Fällen lässt sich von einer echten Risikominimierung erst nach erfolgreichem Abschluss der klinischen Studien sprechen.

Eine Frage der Finanzierung
In ihrer Rolle als Risikobarometer übernehmen TRLs zudem eine wichtige Rolle in der Forschungsförderung. Die Einstufung dient Investoren als Entscheidungsgrundlage, um vielversprechende Projekte in ein privates Accelerator- oder ein staatliches Förderprogramm aufzunehmen. In vielen Ausschreibungen gehört das Erreichen eines bestimmten TRL-Levels zur Grundvoraussetzung. Für Start-ups, die zu Beginn ihrer Arbeit oft weitgehend von finanziellen Mitteln abgeschnitten sind, sind TRLs darüber hinaus ein wichtiges Instrument, um Kapitalgeber von ihrem Business Case zu überzeugen und die Finanzierung zu sichern.

In der EU und im europäischen Forschungskontext wird TRL seit fast über zehn Jahren als Grundlage und zur Bewertung von Forschungsprojekten und allgemein zur Beurteilung zukünftiger Technologien bis zur vollständigen kommerziellen Umsetzung verwendet. Wer zum Beispiel vom 95,5 Milliarden Euro schweren Fördertopf des Horizon Europe Programms (2021-2027) profitieren will, muss demnach zum Zeitpunkt der Antragstellung eine bestimmte TRL-Stufe nachweisen können.

Eine Frage der Kommunikation
Ein weiterer Vorteil von TRLs: Sie reduzieren gewissermaßen die Komplexität von High-Tech Produkten und machen sie verständlich. Sowohl in der Medizintechnik als auch im Life Science-Bereich treiben neue Technologien und Trends die Entwicklung hochkomplexer Systeme weiter voran. Dabei fließen unterschiedliche Lösungen und Ansätze disziplinübergreifend zusammen – von der Genomik, Proteomik, Molekularbiologie und Mikrobiologie bis hin zu Data Science, Machine Learning (ML) und KI. Die TRL-Analyse muss dieser Vielschichtigkeit folgen und ein allgemeines Verständnis der Technologien ermöglichen. Nur so lassen sich Stakeholder mit unterschiedlichen Rollen, Erfahrung und technischer Expertise ins Projekt holen – vom Entwicklungsleiter über den CEO bis hin zum Finanzierungspartner. Mit anderen Worten: Mit TRL muss man die Technologie nicht verstehen, um ihren Reifegrad zu begreifen.

Technology Readiness Assessment (TRA)
Egal ob für die Compliance, die Finanzierung oder das interne Entwicklerteam – die Anwendung von TRLs setzt ein qualifiziertes und erfahrenes Team voraus, das die jeweilige Stufe über sogenannte TRL-Assessements (TRA) durchführt. TRAs sind formale, systematische und metrikbasierte Verfahren. Im Projektmanagement und in der Systementwicklung helfen sie als Planungsinstrument, um Projektzeitpläne, Kosten, Ressourcenbedarf und Priorisierung von Teilsystemen zu eruieren und Zeit und Kosten bis zur nächsten Stufe zu berechnen.

Für das TRA stehen unterschiedliche Leitfäden und Tools zur Verfügung. Eine sehr vereinfachte Version eines TRA-Entscheidungsdiagramms findet sich z. B. bei der NASA. Angesichts der Komplexität von Life Science-Produkten, dem wachsenden Kostendruck sowie zunehmend schärferen Regulierungen, entschließen sich immer mehr Hersteller jedoch die TRA an einen externen Partner abzugeben und an ihre Anforderungen anzupassen. EMS-Dienstleister zum Beispiel verfügen über jahrelange Erfahrung in der Anwendung von TRLs und bringen zudem branchenübergreifende Engineering- und Fertigungskompetenzen mit. Das TRA hilft gemeinsam Entscheidungen zu treffen, die Entwicklung zu beschleunigen, Kosten zu optimieren, die Compliance-Anforderungen zu erfüllen und schließlich das Produkt in die Fertigung zu überführen.

Grenzen von TRL: Weit mehr als „nur“ Entwicklung
Je länger die Erfahrung im Umgang mit dem TRL-Framework und je tiefer die Branchen-Expertise, desto besser lassen sich auch bestimmte Hürden bei der Anpassung der Stufen an den jeweiligen Anwendungsfall durchführen. Denn: Die TRLs geben lediglich einen Leitfaden vor, kein festes Regelwerk. Je nach Komplexität des Produkts und regulatorischen Umfeld können so auch Unklarheiten entstehen. Zudem ist jedes TRA bis zu einem gewissen Grad subjektiv und bietet Raum für Interpretationen. Wer TRL-Definition zu sehr vereinfacht und auf wenige Kriterien herunterbricht, läuft Gefahr, kritische Faktoren zu ignorieren. Daneben konzentriert sich das von der NASA vorgelegte TRL Framework in erster Linie auf die Entwicklung und lässt Supply Chain (z. B. Obsoleszenz, Design-for-Supply-Chain), die Fertigung (z. B. High-Mix-Low-Volume, Design-for-Manufacturability) sowie Aftermarket Services bzw. Sustaining Services außer Acht. Und schließlich sagt der technologische Reifegrad eines Produkts auch nichts über die Nachfrage am Markt und den tatsächlich kommerziellen Erfolg aus.

Bei der Anwendung des TRL-Frameworks sollten sich Unternehmen im Life Science Bereich diesen Einschränkungen bewusst sein. EMS-Partner bieten hier die notwendige Erfahrung, um über die reine Entwicklung hinaus Hersteller zu unterstützen – und zwar entlang der kompletten Produktrealisierung. TRL kann so im Rahmen eines ganzheitlichen Designs auch weiterhin Klarheit und Orientierung bei der Entwicklung komplexer Produkte schaffen.

Robert Frodl verantwortet die EMEA Go-to-Market-Strategie von Plexus in der DACH-Region. Dazu gehört auch die Fokus-Branche Healthcare/Life Sciences. Er ist Dipl.-Ing. (FH) und war vor Plexus in Unternehmen wie Tyco Electronics oder Rohde & Schwarz tätig.

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