Quantencomputing: Forschung mit Praxisbezug

Quantencomputing schlägt schon jetzt hohe Wellen, serienreif ist sie jedoch noch lange nicht: Die Technologie steht noch am Anfang seiner Entwicklung, weckt aber bereits hohe Erwartungen. Sind diese berechtigt? In welchen praktischen Anwendungsfeldern Quantencomputing schon zum Einsatz kommt und warum es lohnt, sich bereits jetzt mit dem Thema zu beschäftigen.
Von   Martin Matzke   |  Dr. Martin Matzke, Head of Division Big Data and Security, Central Europe   |  Eviden, an Atos business
6. Januar 2023

Industrielle Anwendungsbereiche für die Quantentechnologie

Zwar schlägt die Technologie schon jetzt hohe Wellen, serienreif ist sie jedoch noch lange nicht: Quantencomputing steht noch am Anfang seiner Entwicklung, weckt aber bereits hohe Erwartungen. Sind diese berechtigt? In welchen praktischen Anwendungsfeldern Quantencomputing schon zum Einsatz kommt und warum es lohnt, sich bereits jetzt mit dem Thema zu beschäftigen. 

Das Problem: Wie Quantencomputing wirklich funktioniert, ist nicht ganz einfach zu verstehen. Die regelmäßige Berichterstattung dazu vermittelt zumindest ein ungefähres Bild davon, welche Vorteile Quantencomputer bieten können: eine quadratische bis exponentielle Steigerung der Rechengeschwindigkeit gegenüber normalen Rechnern, zwar nicht bei allen, aber bei bestimmten Problemstellungen. Es stellt sich die Frage, wie praxisrelevant die Technologie bereits heute oder in naher Zukunft für Industrieunternehmen ist.

Von Quanten inspirierte Algorithmen

Bei den Weiterentwicklungen im Bereich Quantencomputing geht es keineswegs nur um Hardware oder die bloße Steigerung der Anzahl an Qubits. Im Gegenteil: Es kommt genauso auf die Algorithmen an, die die Art und Weise, wie Quantencomputer rechnen, unterstützen müssen. Um den Quantenvorteil nutzen zu können, sind spezielle, für Quantencomputer geeignete Algorithmen notwendig. Heute, während die Quantentechnologie noch nicht so weit entwickelt ist, als dass sie bereits einen Vorteil bei realen Problemen bieten würde, lohnt es, sich bereits bekannter – und vermeintlich gelöster – Probleme neu anzunehmen. Eine seltene Gelegenheit, einmal neu „auf der grünen Wiese“ zu starten und sich von der Funktionsweise der Quanten inspirieren zu lassen.

Ein Beispiel soll verdeutlichen, wie schnell Abläufe ins Stocken geraten können und warum sich dies manchmal nicht kurzfristig lösen lässt: Ein Flughafen ist ein komplexes Ökosystem, in dem sich unzählige Faktoren gegenseitig beeinflussen. Leistungsstarke Rechentechnik berechnet den optimalen Ablauf, was täglich (bzw. nachts) mehrere Stunden in Anspruch nehmen kann. Schon eine kleine Änderung, die Verspätung oder der Ausfall eines Flugzeugs, sorgt dafür, dass der Ablaufplan nicht mehr optimal ist. Um schnell genug reagieren zu können, wäre überdimensional viel Rechenkapazität vonnöten. In der Praxis bedeutet das, dass wenig optimal umdisponiert werden muss: So muss die verspätete Maschine nun abseits parken, lange Wege für die Fluggäste und das Gepäck sowie weitere Verspätungen sind die Folge. Das kostet Zeit, Geld und Ressourcen und – wenn man das Beispiel etwa auf produzierende Unternehmen überträgt – unter Umständen auch den Kunden. Optimierungsaufgaben dieser Art mit vielen Parametern können häufig in der herkömmlichen Art und Weise in der, von der Realität geforderten, kurzen Rechenzeit nicht gelöst werden.

Mit Hilfe des Quantencomputings wollen Expert*innen neue Lösungen erarbeiten. Denn die meisten Abläufe dieser Art lassen sich mathematisch abstrahieren. Quantenalgorithmen liegen dabei andere mathematische Konzepte zugrunde als der traditionellen Rechentechnik. Der berühmte Shor-Algorithmus beispielsweise, den der MIT-Mathematiker Peter Shor im Jahr 1994 beschrieb und damit dem Quantencomputing den nötigen Schub verlieh, zerlegt große Zahlen in ihre Primzahlfaktoren. Dabei testet er nicht einfach alle Möglichkeiten durch, das würde schlicht zu lange dauern. Vereinfacht gesagt, sucht der Algorithmus nach der Periode einer Funktion, die auf das Ergebnis schließen lassen. Sobald die Quantentechnologie entsprechend weit entwickelt ist, kann die Berechnung dank der Quantenüberlagerungen in einem Bruchteil der bisher benötigten Zeit durchgeführt werden. Die größte bisher mit dem Shor-Algorithmus faktorisierte Zahl ist die 21 – ein echter Quantenvorteil ist das noch nicht. Dennoch weisen schon heute viele Fachberichte darauf hin, dass dadurch die Sicherheit der meisten derzeit im Einsatz befindlichen Verschlüsselungsverfahren bedroht ist, da diese Primzahlenfaktoren für die Verschlüsselung nutzen.

Für Optimierungsfragen, wie die im Beispiel des Flughafen, arbeiten Forscher*innen u.a. mit dem Quantum Approximate Optimization Algorithm (QAOA). Als Hybridalgorithmus kombiniert er klassische und Quanten-mathematische Konzepte und versucht – vereinfacht gesagt – aus einer Menge möglicher Lösungen die beste Lösung für ein Problem zu finden. Dabei werden bestimmte Kriterien vorgegeben, um sich dem Optimum zu nähern. Erste kleinere, reale Optimierungsprobleme konnten mit QAOA gelöst werden, so dass schon in naher Zukunft mit einem realen Nutzen zu rechnen sein dürfte.

Forschung engagiert sich für Quantencomputing

Auch wenn die Hardware für Quantencomputing bisher nur begrenzt leistungsfähig ist, können Interessierte schon heute mit Quantenalgorithmen experimentieren. Die Quantum Learning Machine (QLM) des Digitalisierungsdienstleisters Atos beispielsweise ist eine Entwicklungsumgebung aus klassischer Hardware und Software, die Qubits und ihre Art zu rechnen hardwareagnostisch simuliert. Auf der Plattform sind bereits Basis-Algorithmen und -Modelle hinterlegt, so dass sich mit klassischer Mathematik quantenmechanische Berechnungen beschreiben und testen lassen. Über die intensive Beschäftigung mit Quantenalgorithmen gelingt es häufiger auch, bessere klassische Algorithmen zu entwickeln, was ja auch bereits ein lohnendes Ergebnis sein kann.

Eine solche QLM kommt beispielsweise bei der Europäischen Organisation für Kernforschung, dem CERN (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire), zum Einsatz. Das Forschungsinstitut hat im Rahmen seiner Quantum Technology Initiative (CERN QTI) zahlreiche Projekte aufgesetzt, um die Erforschung des Quantenvorteils für die Hochenergiephysik voranzutreiben. In einer Roadmap hat das CERN die Forschungsbereiche und Meilensteine für die nächsten Jahre definiert: Neben dem Aufbau von Kooperationen zwischen Forschungsinstituten und Unternehmen weltweit sowie Grundlagenforschung, gehören auch die Evaluierung von konkreten Business Cases und Performance Benchmarks zu den selbst gestellten Aufgaben. Im März 2021 eröffnete das Leibniz-Rechenzentrum (LRZ) der bayerischen Akademie der Wissenschaften sein Quantum Integration Centre (QIC). Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die am Thema Quantencomputing arbeiten, können die Infrastruktur für ihre Forschung nutzen.

Auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt die Forschung und Entwicklung der Quantentechnologie mit Fördergeldern, schreibt Innovationswettbewerbe aus und engagiert sich mit der Quantum Futur Akademie für die Ausbildung von Expert*innen. Mit ihrem Rahmenprogramm will die Bundesregierung die Potentiale von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zusammenbringen und fördern. Das Ziel ist es, die Vorteile der Quantentechnologie für industrielle Anwendungen nutzbar zu machen. Fast 3 Milliarden Euro stehen dafür aus verschiedenen Töpfen bereit. Darüber hinaus stellt das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) der Quantencomputing-Intiative des DLR (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt) insgesamt 740 Millionen Euro zur Verfügung. Das DLR finanziert damit die eigene Forschung und vergibt Forschungs- und Entwicklungsaufträge an Unternehmen im In- und Ausland. Auf EU-Ebene wurden ebenfalls Förderprogramme aufgelegt.

Praktische Anwendungsbereiche

Dass die Forschungsinstitute sich das Thema Quantencomputing auf die Fahnen geschrieben haben und dass umfassende Fördergelder zur Verfügung stehen, sind wichtige Schritte auf dem Weg zur Nutzung dieser Technologie. Aber auch Unternehmen engagieren sich und nutzen die Forschungsergebnisse als Inspiration. So rief Atos etwa das Quantum Advisory Board ins Leben gerufen – ein Rat aus renommierten Expert*innen, die sich regelmäßig treffen und sich über aktuelle Entwicklungen austauschen. Das finnisch-deutsche Unternehmen IQM Quantum Computers erhält für sein Board of Directors prominente Unterstützung durch den Aufsichtsratsvorsitzenden und den Chief Operating Officer des Pharma-Forschungsunternehmen BioNTech. Namhafte Unternehmen wie BASF, BMW, Bosch und Siemens schließen sich zum Quantum Technology und Application Consortium (QUTAC) zusammen, um industrierelevante, quantenbasierte Anwendungen zur Marktreife zu bringen. Als Interessenvertreter der europäischen Anbieter und Anwender von Quantentechnologie versteht sich das Quantum Industry Consortium (QuIC). Die gemeinnützige Vereinigung versammelt Großunternehmen, KMU, Investoren sowie Start-ups und hat sich zum Ziel gesetzt, die Wettbewerbsfähigkeit und das Wirtschaftswachstum der europäischen Quantentechnologiebranche zu steigern.

Besonders die Branchen Life Sciences, Chemische Industrie, Logistik und Produktion sowie der Finanzsektor erhoffen sich schon bald messbare Erfolge durch Quantencomputing. So soll die Technologie beispielsweise die Entwicklung von Medikamenten beschleunigen und sogar Individualisierungen möglich machen. Durch die Simulation molekularer Strukturen und ihrer Wechselwirkungen könnten mit Hilfe von intelligenten Algorithmen neue Medikamente schneller entwickelt werden. Das oben beschriebene Flughafen-Beispiel zeigt, wie schnell traditionelle Algorithmen an ihre Grenzen kommen, auch wenn sich nur eine Variable ändert. Im Finanzsektor wird zum Beispiel an der Optimierung von Investment-Portfolios gearbeitet. Auch hier sind die Einflussfaktoren und Wechselwirkungen unüberschaubar.

Fazit: Heute beginnen, sich für Quantencomputing zu begeistern

Bis es eine Software gibt, die Probleme „off the shelf“ quantenbasiert löst, wird es sicher noch einige Zeit dauern. Aber gerade, weil die Technologie schwer greifbar ist und ein neuartiges Denken sowie Herangehen an Probleme erfordert, lohnt es sich, sich schon jetzt damit auseinander zu setzen. Fördergelder, Bildungsinitiativen, Simulations-Anwendungen und die umfassende Kommunikation der Forschungseinrichtungen können Ansatzpunkte und Motivation sein. Die Praxis dieses noch recht theoretischen Themengebiets lebt vor allem erst von der regen Beteiligung führender Technologieanbieter und Organisationen.

Dr. Martin Matzke verantwortet seit November 2020 die Geschäftseinheit Big Data and Security in Central Europe bei Atos. In dieser Funktion ist Herr Matzke auch Mitglied im Management Board Central Europe. Zusätzlich ist er Geschäftsführer der Bull GmbH in Köln sowie Vorstandsvorsitzender der science & computing ag in Tübingen. Zuvor leitete Herr Matzke seit 2016 die Geschäftseinheit Big Data and Security von Atos Deutschland und war seit 2011 für das Geschäft mit öffentlichen Auftraggebern und dem Gesundheitswesen von Atos Deutschland verantwortlich.

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