Hybride Arbeitsformen: Eine Frage der Zeit, nicht des Orts

Von   Marcus Raitner   |  Head of Agile @ Allianz   |  Allianz Consulting
13. September 2022

Die Diskussion rund um hybride Arbeitsformen nach der Corona-Pandemie ist vorrangig geprägt von der Frage nach örtlicher Flexibilität. Für manche und gerade jüngere Mitarbeiter mag es tatsächlich wichtig sein, örtlich flexibel zu arbeiten und im Extremfall gar dem digitalen Nomadentum zu frönen. Im Kern geht es aber weniger um örtliche als um zeitliche Flexibilität. Aus Work-Life-Balance wurde in der Pandemie Work-Life-Integration und diese Flexibilität will nun niemand mehr missen.


Wir haben drei Kinder und ich habe schon bei unseren ersten beiden Töchtern stets versucht, viel Zeit mit der Familie zu verbringen. Verglichen mit unserem Jüngsten habe ich aber jeweils wenig von ihren ersten Jahren mitbekommen. Er kam im Januar 2020 zur Welt und ich war in seinen ersten zwei Jahren fast ausschließlich im Homeoffice. Zudem hatte unsere älteste Tochter 2020 auch ihren Schulanfang und ich konnte ihr immer wieder bei Hausaufgaben und Homeschooling helfen und sie moralisch unterstützen. Ich war auch noch nie so fit wie in dieser Zeit, weil sich die kurze Laufrunde oder Yogaeinheit spielend leicht in den Tagesablauf integrieren lässt. Diese nahtlose Integration von Arbeit und Privatleben führt für mich zu einer besseren Balance und weniger Stress und am Ende zu besserer Leistung.


Anders als die meisten habe ich den schmerzvollen Schritt von viel zeitlicher Flexibilität zu weniger und in meinem Extremfall zu einer klassischen Präsenzkultur mit 8 Stunden oder mehr im Büro schon einmal gemacht. Die Beratungsfirma, die ich von 2010 bis 2015 mit aufgebaut habe, hatte anfangs überhaupt kein Büro und später dann nur ein kleines, wo wir uns einmal in der Woche trafen. Den Rest der Zeit waren wir beim Kunden oder im Homeoffice. Ein Teil meiner großen Anpassungsschmerzen beim Wechsel in den Konzern im Jahr 2015 rührten von dieser zeitlichen und örtlichen Starrheit der angestaubten Konzernwelt her.


Die Pandemie hat nun vielen gezeigt, wie erfüllend es sein kann, Arbeit und Privatleben flexibel ineinanderfließen zu lassen. Das hat einen örtlichen Aspekt, insofern diese Work-Life-Integration nur am jeweiligen Lebensmittelpunkt stattfinden kann. Die örtliche Flexibilität allein nützt allerdings wenig, wenn ständige Erreichbarkeit erwartet wird und die Arbeit trotzdem oder gerade deswegen zu dicht gepackt ist und es auf das ermüdende Muster „eat, sleep, zoom, repeat“ hinausläuft.


Wenn es aber im Kern um zeitliche Flexibilität geht, ist die Frage nach hybriden Arbeitsformen nicht ausschließlich durch gemeinsame Zeiten im Büro und Homeoffice-Regelungen zu beantworten und schon gar nicht durch hybride Meetings. Die Frage nach hybridem Arbeiten zielt auch auf einen Mix aus synchronem und asynchronem Arbeiten im Team ab. Nur dadurch lässt sich die liebgewonnene zeitliche Flexibilität erhalten. Videokonferenzen ob pur oder hybride sind nur ein Teil der Lösung und im Sinne der eigentlichen Frage eine Themaverfehlung.


Die Pandemie hat viele Wissensarbeiter ins Nachdenken gebracht, was ihnen wichtig ist und gleichzeitig gezeigt, dass die vor-pandemische Arbeitswelt nicht Gott gegeben ist, sondern geändert werden kann und dann vieles sogar besser funktioniert. Den Effekt davon sehen wir in Amerika als „Great Resignation“, aber auch in Deutschland zeichnet sich diese Tendenz immer deutlicher ab.
Ich glaube der Schlüssel liegt darin, den Mitarbeitern ein Umfeld zu bieten, wo sie nicht nur Rädchen im Getriebe, sondern Menschen mit einer Familie, Bedürfnissen und Hoffnungen sein können. Work-Life-Integration bedeutet den ganzen Menschen willkommen zu heißen und das Unternehmen als Werkstatt für gelingendes Leben zu begreifen, wie es Bodo Janssen in Anlehnung an die Regeln des heiligen Benedikt von Nursia so treffend formulierte.


Die Kernbotschaft in der Diskussion um hybride Arbeitsformen und eine ganz entscheidende Zusicherung müsste frei nach Goethe lauten: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.

Marcus Raitner ist überzeugt, dass Elefanten tanzen können. Als Agile Coach begleitet er deshalb Unternehmen auf ihrer Reise zu mehr Agilität und menschlicher Lebendigkeit. In seinem Blog schreibt er seit 2010 über die Themen Führung, Agilität, Digitalisierung und vieles mehr: https://raitner.de/

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