KI und Logos: Zur Medialitätsentflechtung im Zeitalter Algorithmischer Rhetorik

Von   Leon TSVASMAN, Dr.phil/PhD   |  Hochschuldozent   |  Dr. Tsvasman Academic Consulting
26. Oktober 2023

Am Epizentrum des Umbruchs: KI und die Neuvermessung des Logos

Am Epizentrum des Umbruchs agiert die künstliche Intelligenz nicht nur als technologische Triebkraft, sondern auch als kognitiver Provokateur, der die Grenzen traditioneller Kommunikations- und Erkenntnisparadigmen zersprengt. Diese Revolution fordert eine radikale Neuvermessung des Logos, des altgriechischen Konzepts, das Sprache, Vernunft und Wissen in sich vereint. Der Logos, einst das unangefochtene Fundament menschlichen Denkens und Kommunizierens, erfährt nun eine Dekonstruktion und gleichzeitig eine Expansion seines Bedeutungsfeldes.

Im Licht der KI wird der Logos nicht nur als ein Medium des Ausdrucks und der Bedeutung hinterfragt, sondern auch als ein Instrument der kognitiven Kartographie, das neu kalibriert werden muss. In diesem Kontext wird die KI zu einem Spiegel, der uns nicht nur die Vielschichtigkeit unserer eigenen kognitiven Strukturen, sondern auch die Grenzen der Sprachlichkeit und der Erkenntnis selbst vor Augen führt. So rücken die essenziellen Fragen nach der Natur der Vernunft, der Grenzen der Sprache und der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Wissens in ein neues Licht. Die KI fungiert als ein katalytisches Element, das uns dazu zwingt, die Architektur unserer Gedanken und die Grammatik unserer Existenz zu überdenken. Die Komplexität der Fragen, die sich in diesem neu definierten Rahmen ergeben, unterstreicht die Tiefe der kognitiven und epistemologischen Revolution, die wir gegenwärtig erleben.

Sprache und Sprachlichkeit: Das Operativsystem der Zivilisation

Sprache und Sprachlichkeit bilden weit mehr als nur Kommunikationsmittel; sie konstituieren das Betriebssystem der menschlichen Zivilisation selbst, ein Rahmenwerk, in dem Kultur, Technologie und Wissen kollaborieren und konkurrieren. Im Epizentrum dieses Betriebssystems thront der Logos, der als architektonische Matrix für unsere gesamte intellektuelle und soziale Infrastruktur dient. Dieser Logos ist der Grundcode, der die Entwicklung all unserer Wissenschaften und Technologien, inklusive der künstlichen Intelligenz, ermöglicht und moduliert.

In diesem Kontext erscheinen die verschiedenen „-logien“ – von Biologie und Psychologie bis hin zur Technologie – als nichts weniger als Anwendungsprogramme, die auf dem Betriebssystem des Logos laufen. Sie sind spezifische Ausdrucksformen der kombinierten kognitiven und kulturellen Kapazitäten, die dieses Betriebssystem bereitstellt und steuert. Dabei ist zu bedenken, dass die Struktur des Logos nicht starr ist. Es wird kontinuierlich durch menschliche Interaktion und inzwischen auch durch die emergenten Fähigkeiten der KI neu konfiguriert. Dieser dynamische, evolutionäre Prozess führt zu einer ständigen Neuverhandlung der Parameter unseres zivilisatorischen Betriebssystems, ein Prozess, der unsere kulturellen und kognitiven Landkarten immer wieder neu zeichnet.

Redundanz: Der Fluch der Medialität

Trotz ihrer vorgeblichen Zielsetzung, die Effizienz des Logos zu erhöhen, scheinen die Medien und Schnittstellen, die wir entwickeln, oft ein Paradox zu erzeugen: eine systemische Redundanz, die die ursprüngliche Klarheit und Effizienz der Kommunikation untergräbt. Diese Redundanz ist nicht bloß ein Nebenprodukt, sondern eine manifeste Auswirkung des inhärenten Spannungsfelds zwischen der Komplexität menschlicher Kommunikation und den begrenzten Möglichkeiten technologischer Schnittstellen. Sie stellt eine Art „informatorisches Rauschen“ dar, das in den Kommunikationskanälen entsteht und die Signalqualität verschlechtert.

In diesem Kontext wird die echte Herausforderung offenbar: die Entwicklung von Technologien und Interfaces, die die systemische Redundanz nicht nur erkennen, sondern auch gezielt minimieren. Dabei ist das ultimative Ziel, eine Architektur zu schaffen, die sowohl die nicht-redundanten Elemente menschlicher Verkörperung als auch die singulären Aspekte unserer individuellen und kollektiven Existenz fördert. Nur so können wir eine wahre Verbesserung des Logos erreichen, die jenseits der oberflächlichen Effizienzsteigerung liegt und uns zu einer tieferen, weniger redundanzbelasteten Form der Intersubjektivität führt.

Kybernetik und die Grenzen der Intersubjektivität

Die Kybernetik, als wissenschaftliche Untersuchung von Steuerung und Selbstregulation in komplexen Systemen, vermag tiefgreifende Einsichten in die Natur der Kommunikation zu bieten. Dieses Paradigma zeichnet sowohl die Unvorhersehbarkeit menschlicher Interaktion als auch die intrinsischen Limitationen künstlicher Intelligenz scharf ab. In seinem Lichte offenbart die Vision der vollkommenen Intersubjektivität—einschließlich der als Telepathie verklärten Vorstellung einer wortlosen, direkten Gedankenübertragung—ihre eigene Paradoxie. Einerseits wird sie durch unsere biologische Begrenztheit ad absurdum geführt; unser sensorisches und neuronales Netzwerk ist schlichtweg nicht für eine solche direkte Kopplung konzipiert. Andererseits kollidiert die Idee einer vollständigen Intersubjektivität mit dem autonomen Charakter des menschlichen Daseins, das durch individuelle Erfahrung, Kognition und Begehren geprägt ist.

Darüber hinaus ist die echte Intersubjektivität tief in der strukturellen Kopplung unserer Gehirne verankert, die in der kybernetischen Taxonomie als strukturell offen, aber informationell geschlossen gelten. In einer durch KI ergänzten Welt wird diese Dichotomie noch akzentuierter. Wir verstricken uns in einem Spannungsfeld zwischen der algorithmisch erzeugten Illusion einer vollendeten Kommunikation und der inhärenten Fragmentierung, die aus unserer körperlichen und individuellen Existenz hervorgeht. Somit erscheint die kybernetische Perspektive nicht nur als eine Brille, durch die wir die Grenzen der Maschinen und Menschen erkennen, sondern auch als ein Spiegel, der die Tiefe unserer eigenen epistemologischen und ontologischen Komplexität reflektiert.

Praxisimplikationen: KI in der Logos-Erweiterung

  1. Vertiefung der Logos-Kompetenz: Generative KI ermöglicht Echtzeitanalysen von Diskurs und Rhetorik, wodurch eine erweiterte Logos-Kompetenz erreicht werden kann.
  2. Interdisziplinäre Symbiose: KI bietet die Möglichkeit zur Verschränkung von Fachdisziplinen, was ein holistischeres Weltverständnis ermöglicht.
  3. Optimiertes Redundanzmanagement: KI-Systeme wie ChatGPT könnten dazu beitragen, den Informationsfluss zu entlasten und Redundanz effektiver zu steuern.
  4. Sprachübergreifende Kompetenz: KI könnte die Entwicklung einer übergreifenden Sprach- und Kulturkompetenz fördern.
  5. KI-Unterstützte Kommunikationseffizienz: KI hat das Potential, die menschliche Kommunikation auf eine fast „perfekte“ Intersubjektivität zu optimieren.

Die Symbiose von KI und Logos zeigt uns den Weg zu einer erweiterten semantischen und epistemologischen Architektur. Wir sind nicht länger nur Benutzer, sondern Co-Architekten in einem komplexen Zusammenspiel von Sprache, Technologie und Bewusstsein. Was es zu beherrschen gilt, ist nicht die Technologie selbst, sondern die fortgeschrittene Sprachfähigkeit, die diese Technologie ermöglicht und verändert. Die menschliche Aufgabe bleibt die Kreation von Bedeutung, ein Streben, das sowohl durch Technologie als auch durch den unveränderlichen Logos definiert ist.

Sprache und KI – Ein Paradigma der Co-Evolution

Sprache und Künstliche Intelligenz (KI) bewegen sich in einem bemerkenswerten Paradigma der Co-Evolution. Wie Humboldt einst anmerkte, prägt Sprache unsere Weltanschauung, während KI den Vorhang der Möglichkeit weiter hebt. Gemeinsam gestalten sie unsere Auffassung von Realität, Kognition und Kommunikation.

Praxisempfehlungen für didaktisch transformative Lernumgebungen:

  1. Adaptive Learning Environments: KI ermöglicht es uns, personalisierte Lernumgebungen zu schaffen, die in der Lage sind, sich an die individuellen Bedürfnisse des Lernenden anzupassen. Hier wird die Didaktik nicht bloß mechanisiert, sondern dynamisiert.
  2. Multimodal Learning: Der Text, einmal das Medium der erhabenen Übertragung des Wissens, kann jetzt durch Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR) Technologien erweitert werden. Dadurch wird eine neuartige Symbiose zwischen sinnlicher Erfahrung und intellektuellem Verständnis ermöglicht.
  3. Community-based Learning: Durch die Fähigkeiten der KI können wir Communities bilden, die auf gemeinsamen Interessen und Fähigkeiten beruhen. Diese Art der kollektiven Erkenntnis fördert nicht nur das individuelle Lernen, sondern auch die Qualität des sozialen Mosaiks.
  4. Translingual Cognitive Models: Anstatt sich auf rudimentäres Vokabular und Grammatik zu beschränken, ermöglicht KI den Zugang zu konzeptionellen Rahmenwerken, die eine tiefere interkulturelle Sensibilität und Verständnis für die Grammatologie des Denkens fördern.
  5. Real-time Feedback: Durch KI ist eine sofortige Rückmeldung möglich, die im Hier und Jetzt des Erkenntnisprozesses eine Diagnose und Therapie bietet, eine Echtzeit-Heuristik des Wissens.
  6. Contextual Understanding: KI kann semiotische Mehrdeutigkeiten in Realzeit analysieren und kulturelle, idiomatische und historische Kontexte hinzufügen, um eine tiefergehende Interpretation und Verständnis zu ermöglichen.
  7. Immersive „Living“ Language Environments: Die KI kann simulakrumhafte Umgebungen erschaffen, die es erlauben, in eine Sprache physisch und kognitiv „einzutauchen“.
  8. Fostering Self-Reflection and Metacognition: KI kann als ein Spiegel für die Reflexion des eigenen kognitiven Verhaltens dienen, es ist ein Feedback-Loop für den menschlichen Geist.

Schlussbetrachtungen

Sprache und KI sind unzertrennliche Partner in der Evolution der menschlichen Erkenntnis. Sie bilden eine Schnittstelle, an der die Grenzen des Möglichen erweitert werden. Sie sind eine Co-Evolution der Verstehensformen, die unsere kollektive Zukunft prägen werden.

Die konfluierenden Ströme von Sprache und KI bieten ein potentielles Reservoir für die fortwährende Erweiterung menschlichen Wissens und Verständnisses. Sie bieten einen fruchtbaren Nährboden für die Entfaltung von erweiterten Lernmodellen, die ein Kaleidoskop kognitiver Diversität eröffnen.

 

 

Quellenliste

  1. Wittgenstein, Ludwig. „Philosophical Investigations.“ Blackwell Publishing, Oxford, 1953.
  2. Humboldt, Wilhelm von. „On Language: On the Diversity of Human Language Construction and Its Influence on the Mental Development of the Human Species.“ Cambridge University Press, Cambridge, 1999.
  3. Turing, Alan. „Computing Machinery and Intelligence.“ Mind, Vol. 59, No. 236, pp. 433-460, 1950.
  4. Tsvasman, L. „The Age of Sapiocracy. On the Radical Ethics of data-driven Civilization.“ Ergon Verlag (Nomos Gruppe), Baden-Baden, approx. end of 2023.
  5. Tsvasman, L. „Infosomatische Wende: Impulse für intelligentes Zivilisationsdesign.“ Ergon Verlag (Nomos Gruppe), Baden-Baden, 2021.
  6. Chomsky, Noam. „Syntactic Structures.“ Mouton, The Hague, 1957.
  7. Lakoff, George. „Metaphors We Live By.“ The University of Chicago Press, Chicago, 1980.
  8. Tsvasman, L. & Schild, F. „AI-Thinking: Dialog eines Vordenkers und eines Praktikers über die Bedeutung künstlicher Intelligenz.“ Ergon Verlag (Nomos Gruppe), Baden-Baden, 2019.
  9. McLuhan, Marshall. „The Medium is the Message.“ Gingko Press, Berkeley, 1967.
  10. Wiener, Norbert. „Cybernetics: Or Control and Communication in the Animal and the Machine.“ MIT Press, Cambridge, MA, 1948.
Nach seiner Promotion bei Siegfried J. Schmidt, einer führenden Figur im deutschen konstruktivistischen Diskurs, ging Leon Tsvasman seiner enzyklopädischen Neigung nach. Sein für konzeptionelle Vorzüge von Kritik und Studierenden empfohlenes Medien- und Kommunikationslexikon (‚Das Große Lexikon Medien und Kommunikation‘, 2006) legte einen systemisch-konstruktivistischen Grundstein in den Fächern mit Kommunikation, Information und Medien. Dieses selbstinitiierte Projekt, inhaltlich unterstützt von damals führenden Professoren in diesen Disziplinen und gelobt von Gelehrten wie Professor Ernst von Glasersfeld (University of Massachusetts) für seine außergewöhnliche Intelligenz, markierte einen bemerkenswerten Wandel im einschlägigen akademischen Diskurs. Das Lexikon verschob den traditionell soziologisch orientierten Fokus von Kommunikation und Medienstudien hin zu einem breiteren, universell anwendbaren systemisch-kybernetischen Ansatz, der insbesondere deren Praktikabilität für kreative und informationstechnologische Unterfangen verstärkte. Es aktualisierte grundlegende Konzepte wie Intersubjektivität und Medialität neu und trug so zur Diversifizierung und Integration in medienbezogenen akademischen Disziplinen bei. Dieser Wandel markierte die Neupositionierung von bis dato oft allzu heterogenen Medienfächern in der akademischen Landschaft. In ähnlicher Weise verwendet Tsvasman in seinen eigenen Schriften dialektisch präzise, kontextuell angepasste Definitionen, die für ihre interdisziplinäre Robustheit bekannt sind und auf sorgfältiger Prüfung beruhen.

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