Im Zusammenhang mit KI bereiten traditionelle Intelligenz-Definitionen Schwierigkeiten

Warum greifen traditionelle Definitionen von Intelligenz angesichts von „künstlicher Intelligenz“ nicht mehr? Unsere Wahrnehmung ist auf unsere evolvierte körperliche Sensorik angewiesen. Und da Menschen gemeinsam handeln, um auf ihre gemeinsame Umwelt einzuwirken, verständigen sie sich miteinander. Dabei bringen sie jeweils ihren individuellen Wahrnehmungsfluss mit. Künstliche Intelligenz muss anders bewertet werden.
Interview von Intelligente Welt
16. Mai 2022
Interviewpartner

Dr. Leon Tsvasman

Dr. Leon Tsvasman ist ein erfahrener Dozent, Instruktionsdesigner und Autor und arbeitet als pädagogischer Berater an mehreren staatlichen und privaten Universitäten in Deutschland. Seine Forschung bezieht sich auf Complexity Cybernetics, künstliche Intelligenz, Psychology of Information, Ethics of Leadership und Innovation.
Interviewpartner

Leon TSVASMAN, Dr.phil/PhD

Hochschuldozent bei Dr. Tsvasman Academic Consulting

Dr. Leon Tsvasman, ein philosophischer Medientheoretiker, verbindet gerne authentische Einblicke mit interdisziplinärem Scharfsinn. Seine Forschung geht über die Akademie hinaus und fundiert Reflexionen über die Komplexitäten einer ethisch stagnierenden nach dem Sinn suchenden Zivilisation. Sein Einfluss erstreckt sich von der Gelehrtenwelt bis zum Bereich der digitalen Transformation und prägt maßgeblich den zeitgenössischen Diskurs mit. 1968 in eine musikalisch und medizinisch geprägte Familie hineingeboren, hat sich Leon Tsvasman in KI, Ethik und interdisziplinärer Forschung mit einem Vordenkeransatz profiliert. Sein rebellischer Gemüt und kreative Energie, begleitet von Neugier auf menschliche Erkenntnispotenziale, fruchteten in eigenen literarischen und künstlerischen Experimenten. Seine Jugendjahre waren außerdem geprägt von einer Faszination für Science-Fiction von Autoren wie Isaac Asimov, Stanisław Lem, Ray Bradbury und den einfallsreichen Essays von Jorge Luis Borges, die sein Interesse am Zusammenspiel von Zukunftskonzepten und menschlicher kreativer Intelligenz entzündeten. Auf seiner intellektuellen Wanderschaft durch die Lehren von Kant und Hegel fand Tsvasman einen gangbaren Weg in das komplexe Gebiet der Kybernetik, angeleitet von Denkern wie Norbert Wiener, Heinz von Foerster, Humberto Maturana und Ernst von Glasersfeld. Die Kombination aus künstlerisch-literarischer Experimentierfreude und wissenschaftlicher Strenge definierte Tsvasmans polymathischen Ansatz und positionierte ihn als visionären Wegbereiter in den Bereichen KI, Ethik und interdisziplinäre Forschung, in denen er nuancierte, humanistische Einsichten mit technologischer Affinität verbindet. Nach ersten Studienerfahrungen in Medizin und Journalismus war Dr. Tsvasman erleichtert, die Traumata seiner von totalitärer Zwangsprägung gekennzeichneten Sozialisation hinter sich zu lassen. Er wandte sich den Geisteswissenschaften zu und fand sich in der erfrischend aufregenden, jedoch völlig unbekannten sprachlichen und kulturellen Landschaft von Deutschland 1990er Jahre wieder. Rasch erlangte er seinen Magister in Kommunikation, Medien, Linguistik, Sozial- und Politikwissenschaft an den Universitäten Bonn und Essen. Diese Übergangsphase gipfelte in seiner Promotion an der Universität Münster, woraufhin er die anspruchsvolle Rolle eines freiberuflichen Dozenten übernahm. Bewusst verzichtete er auf einen lukrativen Karriereweg und konzentrierte sich stattdessen auf die Entwicklung seines Konzepts einer hochgradig individualisierten, potenzialorientierten Ethik in der Hochschuldidaktik. Dr. Tsvasmans akademischer Weg wurde maßgeblich durch seine Zeit an der damals renommierten Lomonossow-Universität geprägt, ebenso wie durch seine Zusammenarbeit mit Professoren aus der Schule von Gerold Ungeheuer, einer herausragenden Persönlichkeit in der deutschen Kommunikationswissenschaft, an den Universitäten Bonn und Essen. Diese reiche und vielfältige Bildungsetappe nährte Dr. Tsvasmans einzigartigen Ansatz und förderte eine kritische Perspektive, die eine Vielzahl von akademischen Disziplinen und Systemen umspannt. Nach seiner Promotion bei Siegfried J. Schmidt, einer führenden Figur im deutschen konstruktivistischen Diskurs, ging Leon Tsvasman seiner enzyklopädischen Neigung nach. Sein für konzeptionelle Vorzüge von Kritik und Studierenden empfohlenes Medien- und Kommunikationslexikon ('Das Große Lexikon Medien und Kommunikation', 2006) legte einen systemisch-konstruktivistischen Grundstein in den Fächern mit Kommunikation, Information und Medien. Dieses selbstinitiierte Projekt, inhaltlich unterstützt von damals führenden Professoren in diesen Disziplinen und gelobt von Gelehrten wie Professor Ernst von Glasersfeld (University of Massachusetts) für seine außergewöhnliche Intelligenz, markierte einen bemerkenswerten Wandel im einschlägigen akademischen Diskurs. Das Lexikon verschob den traditionell soziologisch orientierten Fokus von Kommunikation und Medienstudien hin zu einem breiteren, universell anwendbaren systemisch-kybernetischen Ansatz, der insbesondere deren Praktikabilität für kreative und informationstechnologische Unterfangen verstärkte. Es aktualisierte grundlegende Konzepte wie Intersubjektivität und Medialität neu und trug so zur Diversifizierung und Integration in medienbezogenen akademischen Disziplinen bei. Dieser Wandel markierte die Neupositionierung von bis dato oft allzu heterogenen Medienfächern in der akademischen Landschaft. In ähnlicher Weise verwendet Tsvasman in seinen eigenen Schriften dialektisch präzise, kontextuell angepasste Definitionen, die für ihre interdisziplinäre Robustheit bekannt sind und auf sorgfältiger Prüfung beruhen. Als inspirierter Polymath und Mentor aus Berufung setzt sich Dr. Tsvasman für skalierbare und lebensbegleitende KI-gestützte Wissensinfrastrukturen ein. Er priorisiert das Streben nach inspirierender Bedeutung, eine Abkehr von der Trivialisierung reiner Werkzeugabhängigkeit. Seine essayistischen Experimente bieten nuancierte Perspektiven und interoperable Lösungen, die sich mit globalen Komplexitätsherausforderungen befassen. Diese Arbeiten integrieren erkenntnistheoretische, anthropologische und kybernetische Dimensionen und schaffen so eine einzigartige Perspektive auf das datengesteuerte Zeitalter. 'The Age of Sapiocracy' (2023) skizziert eine Vision für konsequent ethische, datengesteuerte Governance, während 'Infosomatische Wende' (2021, auf Deutsch) die Zivilisation neu denkt und radikale Innovation als entscheidend für eine widerstandsfähige, wissensreiche Gesellschaft fördert. Das dialogisch-experimentelle 'AI-Thinking' (2019, auf Deutsch) vertieft sich in die Auswirkungen generativer KI, hinterfragt verbreitete Ängste und Missverständnisse und erforscht ihren Einfluss auf die menschliche Identität. Diese Veröffentlichungen wurden zu einer Quelle zahlreicher Aphorismen, die in sozialen Medien und deutschen Aphorismen-Archiven zirkulieren. In seinem Ansatz, der auf humane Innovation basiert, harmonisiert Dr. Tsvasman systemische Sichtweisen auf Liebe und Inspiration mit gesellschaftlich ermöglichten Konzepten in Kunst und ethisch robuster, skalierbarer Wissensbildung. Seine Philosophie navigiert durch Unsicherheiten, verankert in einer Wahrheitsorientierung, gestärkt durch KI-gestützte, naturintegrierte Zivilisationsentwürfe, die von selbstregulierenden biosoziotechnologischen Infrastrukturen getragen werden. Diese Sichtweise steht in fundierter Konkurrenz zu den Paradigmen des Transhumanismus, die zum Mainstream geworden sind. Im digitalen Bereich ist Tsvasmans Diskurs über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung, insbesondere seine Strategien zur Prävention von Machtverzerrungen im Zivilisationsdesign, zunehmend einflussreich. Seine Präsenz auf sozialen Publikationsplattformen als Disruptor mit originellen Perspektiven zieht ein kritisches Publikum an. Seine Beiträge lösen oft Innovationen durch "Aha"-Momente aus und infizieren Denkweisen mit einfallsreichen Impulsen. In seiner nuancierten, dialogorientierten Publizität navigiert Leon Tsvasman durch Themen wie strategische Intelligenz, Kybernetik multipler Ordnung, KI, globale Governance und Medienethik, aber auch Hochschuldidaktik mit fruchtbaren Praxisimpulsen und Konzeptkunst mit kollaborativen kuratorischen Experimenten. Mit Beiträgen für Plattformen wie dem Digitale Welt Magazin der Universität München verbindet er Tiefe mit Klarheit. Als Pionier in progressiver Bildung integriert er generative KI in die Akademie und setzt sich für eine sinnorientierte Wirtschaft ein, indem er ethisches Bewusstsein in Wirtschafts- und IT-Disziplinen einfließen lässt. Sein aphoristischer Stil verkörpert aufklärerisches Schrifttum. Er hält gerne Keynotes und nimmt an Podiumsdiskussionen auf Konferenzen und Tagungen teil.

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Das Interview mit Dr. Leon R. Tsvasman, der in seinem Buch „Infosomatische Wende“ (2021) einen kybernetischen Intelligenzbegriff begründet, der „Intelligenz“ als „Infosomatische Präsenz“ auffasst, wurde ursprünglich im Onlinemagazin ,,Intelligente Welt“ [1] veröffentlicht und von Hannes Rügheimer herausgegeben und moderiert. Die vorliegende Fassung wurde unter Absprache mit dem Urheber redaktionell ergänzt und editiert. Ein zugehöriger, ergänzender Beitrag des Autors wird unter https://digitaleweltmagazin.de/fachbeitrag/inwiefern-hat-ki-mit-intelligenz-zu-tun/ veröffentlicht.

Intelligente Welt: Was ist der Grund, warum traditionelle Definitionen von Intelligenz angesichts von „künstlicher Intelligenz“ nicht mehr greifen?

Dr. Tsvasman: Unsere Wahrnehmung ist auf unsere evolvierte körperliche Sensorik angewiesen. Also muss das Gehirn den Wahrnehmungsfluss auf eine Weise verarbeiten, die uns handlungsfähig macht. Und da Menschen gemeinsam handeln, um auf ihre gemeinsame Umwelt einzuwirken, verständigen sie sich miteinander. Dabei bringen sie jeweils ihren individuellen Wahrnehmungsfluss mit.

Intelligenz ist somit ein funktionaler Ausdruck der Selbstregulation. Relevant wird sie aber erst, wenn sie während der Orientierung aus der fokussierten Aufmerksamkeit und somit aus dem inspirierten Erkennen schöpft. Wie bei den meisten großen Genies, die den notorischen Weitblick mit der Faszination für den Moment verbinden können, ohne die Orientierung zu verlieren. ,Mit Fokus auf etwas inspiriert begreifen‘ ist die einzige Erkenntnischance intersubjektiv agierender, intelligenzfähiger Menschen.

Wenn wir alles betrachten, was als intelligent gilt, stellen wir zwangsläufig fest, dass Intelligenz mit Integrität zu tun hat. Das gilt für alle autopoietischen Systeme, nicht nur Lebewesen, aber auch nicht nur Nervensysteme oder Informationssysteme. Und trotzdem: ein nicht-psychologisches Intelligenzmodell, das auch jenseits von menschlichen kognitiven Fähigkeiten oder einem entsprechenden Vergleich eine nennenswerte Geltung in Gelehrtenkreisen hätte, gibt es im aktuellen Diskurs nicht. Jedoch legen Beobachtungen nahe, dass es – evolutionsbiologisch betrachtet – mindestens auf der biologischen Ebene einen systemtheoretisch begründeten Zusammenhang zwischen biologischer Evolution und Intelligenz gibt.

Kognitionswissenschaften profilieren den Zusammenhang von Überlebensfähigkeit und Intelligenz. Und auch der konstruktivistisch geprägte Diskurs verbindet Konzepte wie strukturelle Kopplung, Autopoiese, Emergenz und Kognition miteinander.

Zweckpragmatische Intelligenz nutzt häufig Meisterschafts-Skalen

Dr. Tsvasman: Wie auch immer, die verkürzt oder zweckpragmatisch verstandene Intelligenz meint die Entfaltung einer bestimmten Meisterleistung, die sich auf einer linearen Meisterschafts-Skala messen lässt. Man stellt etwa die Fertigkeiten beim Schachspiel eines Anfängers und die eines Großmeisters gegenüber, oder vergleicht das Musizieren eines Kindes mit der Kompositionsleistung etwa von Beethoven. Solchen Skalen liegt dann immer die Steigerung von Komplexität zugrunde.

Gleichzeitig weist die menschliche Kognitionsleistung evolutionsbiologisch die Eigenart auf, das Überleben unter weniger stabilen Umweltbedingungen zu ermöglichen. Damit konstruieren die Menschen durch gemeinsames Handeln ihre eigene spezifische Lebenswelt – etwa die Zivilisation mit ihren diversen Kulturen. Deshalb gehört zu der so verstandenen Intelligenzleistung die kommunikationsgebundene Komplexitätsreduktion mithilfe von Medien genauso wie etwa kreative Leistungen. Sowohl dieser technisch-quantitativ konnotierte Intelligenzbegriff, der Intelligenz als Fertigkeit oder Medium der Effizienzsteigerung versteht und mit einem Intelligenzquotienten misst, als auch erweiterte und mehr realitäre, weil weniger von System-Umwelt-Beziehungen abstrahierte Kognitionsbegriffe, die auch die Effektivität mitbedenken, sind jedoch defizitär.

Eine zivilisationsübergreifende oder gar universelle Intelligenz ließ sich bislang kaum denken. Wir können sie aber als eine der Indizien des infosomatischen Präsenz beobachten. Einen Aspekt davon würde ich die ,Intelligenz der Entzeitlichung‘ nennen. Diese Ausprägung von Intelligenz lässt sich als die ausgleichend wirkende Eigenschaft eines systemübergreifenden Äquilibriums verstehen, raumzeitliche Redundanzen so zu vermeiden, dass sich die System-Umwelt-Organisation auch systemübergreifend entgegen der Entropie behaupten kann. Aus diesem Definitionsversuch folgt unter anderem, dass sich auch unsere eigene Intelligenz daran erkennen lässt, wie effektiv wir es schaffen, unsere eigene, reale Potenzialität‘ so zu verwirklichen, dass sie im erweiterten Sinn der Selbstregulation aktualisiert werden kann. Diesen Gedanken kennen die Leser ja schon aus den früheren Folgen unserer Gespräche und Kommentare.

Wir tun uns schwer, andere Intelligenzen als unsere eigene zu verstehen oder anzuerkennen

Intelligente Welt: Schon bei unseren nahen biologischen Verwandten wie Primaten oder Delfinen tun wir Menschen uns ja offensichtlich schwer, deren ,Intelligenz‘ zu verstehen und anzuerkennen. Erklärt dies auch unsere Schwierigkeiten, maschinenbasierte Intelligenz richtig einzuordnen?

Dr. Tsvasman: Vergleicht man die Leistung eines genialen gelehrten Bastlers, der auf eine sehr aufwändige und sicher hochintelligente Weise selbst intelligenzfähiges Leben erschafft, wie etwa Frankenstein aus dem Roman „Frankenstein or The Modern Prometheus“ von Mary Shelley, mit der Geburt eines Kindes, erkennt man sofort die massive Verzerrung, die so einen Vergleich mehr oder weniger absurd erscheinen lässt. Auf einer Seite haben wir die aufwändige Intelligenzleistung eines von seinem Ziel besessenen Wissenschaftlers, der die Orientierung in übergreifenden Zusammenhängen verloren hat, und auf der anderen die Manifestation der naturimmanenten Intelligenz. Letztere betrachten wir aber oft gar nicht als solche. Je nach Einstellungen und Überzeugungen nennen wir sie lieber ,Lebenskraft‘, ,Schaffenskraft der Natur‘, ,Evolution‘ oder ähnlich. Wenn Evolution die innere Räson hat, für die körperlich-sensorische Organisation zu sorgen, die ein Orientierungsverhalten erlaubt, verbinden wir dies mit Intelligenz.

Die gegenseitige Verständigung erweist sich als kommunikative Handlungs-Beeinflussung. Sie macht Vergesellschaftung möglich. Die geltungsorientierte Medialität ermöglicht dabei wirtschaftliche oder soziotechnische Ordnungsebenen. Allen diesen Perspektiven ist etwas gemein, was wir mit Intelligenz in Verbindung setzen, aber keinen Begriff dafür haben. Auf der anderen Seite schimmert in der heutigen Zeit und spätestens seit der jüngsten Pandemie zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Stringenz jener Ordnung durch, die auf allen Ebenen wirkt, und jede Intelligenzform bedingt, die wir beobachten, verwirklichen oder verkörpern.

Infosomatische Präsenz als Vorschlag für einen zeitgemäßen Intelligenzbegriff

Dr. Tsvasman: Genau diese Ordnung, die zunehmend beobachtbar wird, nenne ich „Infosomatische Präsenz“. Sie macht für mich einen zeitgemäßen Intelligenzbegriff aus, wie wir ihn in unseren Gesprächen im Rahmen der Serie „Inside KI“ diskutiert haben und wie ich ihn auch in meinem jüngsten Buch „Infosomatische Wende: Impulse für intelligentes Zivilisationsdesign“ beschrieben habe.

In der Tat würde ich argumentieren, dass, wenn alle Redundanzen, Abkürzungen und Halbwahrheiten entfernt wurden, ein einziger Zweck des Wissens übrigbleibt: Nämlich Beziehungen so zu erfassen, dass sie skaliert werden können. Und diese ,Skalierbarkeit‘ korreliert direkt mit der Bedeutung von Intelligenz. Nur genügt das, was einer inspirierten Intelligenz ,klar‘ erscheint, einer willentlich gesteuerten Intelligenz offensichtlich nicht. Dabei sind dies nicht einmal unterschiedliche Intelligenzen, sondern verschiedene Modi ein und derselben Intelligenz.

Was das Verständnis von Intelligenz mit Macht und Gewalt zu tun hat

Intelligente Welt: Wie wir ja schon in früheren Folgen unserer Gespräche festgestellt haben, weicht dieses Verständnis stark von dem Konzept einer ,Hilfsintelligenz‘ ab, wie KI häufig verstanden wird. Sie haben ja schon darauf hingewiesen, dass dies nicht zuletzt auch mit dem Erhalt bestehender Machtverhältnisse zu tun hat.

Dr. Tsvasman: Es ist kaum zu übersehen, dass die Politik in vielen Ländern – innerhalb ihrer Grenzen oder auch außenpolitisch – nach wie vor von Diktatoren bestimmt wird. Und somit von Menschen mit einer Psyche und ihren spezifischen Ticks, wobei sie ihren Untertanen im Grunde nur die Funktion einer Hilfsintelligenz anbieten. Sie versprechen die besonders effiziente Umsetzung von Zielen, die aus verkürzten, vereinfachten und von jeder Komplexität befreiten Sehnsüchten der an Effizienzzwang leidenden Mehrheiten entstehen. Solche Ziele sind nicht ohne enorme Anstrengung zu erreichen, also bemühen sich Diktatoren darum, dieses Versprechen in der Regel gewaltvoll umzusetzen: ,Der Zweck heiligt die Mittel‘.

Heute sind es zunehmend soziokratische Organisationen, die moderne Diktaturen prägen. Diese Organisationen werden von den arbeitsteiligen und somit zwangsläufig defizitär erarbeiteten Richtlinien geleitet.

Diktaturen sind auf der ganzen Welt allokal und themenspezifisch, und werden überwiegend analytisch und zunehmend ethisch oder wirtschaftlich begründet. Das sind alles Themen, die latent überwältigend sind. Denn sie muten einerseits existenziell an und setzen andererseits keine Erfahrungswerte voraus, die sich die Bevölkerung in ihrem funktional reduzierten Alltag aneignen könnte. Sie schöpfen aus der Urteilsunfähigkeit und aus Wissenslücken der minderwertig – weil nur zum beruflichen Zweck der Hilfsintelligenzleitung – gebildeten und erkenntnispraktisch desorientierten – weil zweckanalytisch als Spezialisten konditionierten – Mehrheiten. Solche Mehrheiten entstehen, wenn Bevölkerungen von ihren authentischen Intellektuellen abgekoppelt werden und selbst zunehmend weniger intellektuell veranlagt sind.

Nicht überprüfbare Wahrheiten sind eine effiziente Grundlage für Diktaturen

Dr. Tsvasman: Moderne Diktatoren instrumentalisieren oder postulieren gerne Wahrheiten, die sich nicht überprüfen lassen. Und damit meine ich nicht die technische Überprüfung von Validität anhand von logischen Operationen wie Mathematik – sondern verkürzte Wahrheiten oder Methoden, Geltungen zu konstruieren. Wenn eine Gesellschaft keine intakte Kultur erkennender Subjekte pflegt, degradiert dies ,gewöhnliche‘ Menschen zu technischen Hilfsintelligenzen. Und aus diesen ,gewöhnlichen‘ Menschen, die in ihrer Intelligenz verhindert werden, entstehen große und kleine Diktatoren. Deshalb ist mir so wichtig, dass eben diese Hilfsintelligenz, für die heute Menschen für die Rolle loyaler Arbeitnehmenden konditioniert werden, künftig die wesentliche Funktion von globaler KI sein sollte.

Zum Diktator wird diese globale KI schon deshalb nicht, weil sie nicht von Effizienz überfordert werden kann. Denn die Effizienz ist ihr Element, was in der digitalen Beschaffenheit ihrer Informationsverarbeitung begründet ist. Selbstverständlich könnten menschliche Diktatoren und soziokratische Strukturen die KI instrumentalisieren – aber das sind immer noch Menschen und ihre Tools, die sie gerne als Waffen nutzen. In einer Welt, die von Mensch-KI-Intersubjektivität gestaltet und gesteuert wird, wird es aber keine menschlichen oder soziokratischen Diktatoren mehr geben.

Bis wir jene von mir sehnsüchtig erwartete erkenntnisbasierte Sinnproduktion erreichen, die ich Sapiokratie nenne, übernimmt das symbolische Medium der Macht mit seiner latenten Gewaltbereitschaft, die gestaltende Rolle. Und somit die Gestaltungsobrigkeit mit der immer abrufbaren Befugnis, Menschen zu überwältigen und verkürzte Fakten zu schaffen. Als funktionaler Platzhalter agiert nach wie vor die unmittelbar wahrnehmbare Gewalt oder als Angst präventiv medialisierte Gewalt insbesondere in Form von Ohnmacht stellvertretend in der Rolle der fehlenden Intelligenz der effektiv Erkennenden. Um dem entgegenzuwirken, bedarf es eines lebendigen und wahrhaft globalen intellektuellen Diskurses in der globalen Gesellschaft.

Quellen und Referenzen, sowie vertiefende Literatur

[1] https://intelligente-welt.de/

Tsvasman, L. (Hrsg., 2006): Das grosse Lexikon Medien und Kommunikation [Kompendium interdisziplinärer Konzepte], Würzburg

Tsvasman, L./Schild, F. (2021): AI-Thinking: Dialog eines Vordenkers und eines Praktikers über die Bedeutung künstlicher Intelligenz, Baden-Baden

Tsvasman, L. (2021): Infosomatische Wende. Impulse für intelligentes Zivilisationsdesign, Baden-Baden

Bateson, G. (1972): Steps to an ecology of mind, New York.
Glasersfeld, E. von (1996): Über Grenzen des Begreifens, Bern.
Maturana, H./Varela, F. (1980): Autopoiesis and Cognition: The Realization of the Living, Boston

Schmidt, S. J. (1994): Kognitive Autonomie und soziale Orientierung: konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition,
Kommunikation, Medien und Kultur. Münster

Roth, G. (2001a): Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, 6. Auflage, Frankfurt

Foerster, H. von (2000): Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. Herausgegeben von Siegfried J. Schmidt. Frankfurt am Main

Interview geführt durch:

Bei dieser Interviewreihe handelt es sich um den adaptierten Reprint der Originalpublikation auf intelligente-welt.de Die Interviewreihe „KI: Thoroughly explained“ wurde zuvor vom Magazin Intelligente Welt veröffentlicht und findet sich unter folgenden Links:
Unsere Interview-Reihe zu Künstlicher Intelligenz: Inside KI
360 Grad KI: Unsere Serie rund um Künstliche Intelligenz

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