Frau Hebenstreit, wie reagieren Chefs und Chefinnen auf die Möglichkeit von Change?
„Grundsätzlich sind Unternehmen zwar aufgeschlossen gegenüber neuen Methoden und Herangehensweisen. Sie sehen, dass der deutsche Markt im internationalen Vergleich festhängt und Innovationen eher anderswo hervorgebracht werden. Ein Bewusstsein, dass etwas passieren muss, um nicht weiter hinter anderen Ökonomien hinterherzuhinken, ist vorhanden. Allerdings hapert es an der Umsetzung. Das liegt vor allem an zwei Punkten: dem finanziellen Aufwand und dem Durchhaltevermögen.“
„Entscheider sind sich bewusst, dass es große Einschnitte in ihre bisherige Praxis erfordert, Change nachhaltig umzusetzen. Wenn sie dazu bereit sind, werfen sie einen Blick auf die Kosten für diesen Umbau – und bezweifeln oft, dass sich dieser finanzielle Aufwand rechnet. Das ist vollkommen logisch, denn sie sehen eine klare Zahl vor sich; für sie tiefrot eingefärbt. Ein Äquivalent auf der anderen Seite, also eine klare Angabe zu finanziellem Plus, suchten sie bisher vergebens. Viele Unternehmenslenker würden einfach gerne wissen, ob der Outcome zu errechnen ist. Sind Einsparpotenziale greifbar? Welche Wirkung erzielen die verschiedenen Prinzipien, Verhaltensweisen, Fähigkeiten, die Beratungen gemeinsam mit ihnen im Unternehmen entwickeln? Bis jetzt gab es keine Möglichkeit, so etwas individuell und adäquat abzubilden.“
Nun haben Sie ein Modell entwickelt, das dieses Bedürfnis stillen soll. Wie funktioniert es?
„Das Modell entstand in Zusammenarbeit mit meinen Kollegen und Kolleginnen sowie meinem Vater und Mitgründer unserer Consulting-Agentur. Kategorien, Werte und Potenziale basieren so auf über 60 Jahren Industrie- und Managementerfahrung. Natürlich liegen auch Studien dem Schema zugrunde, abgerundet mit Erfahrungswerten aus rund 20 Jahren praktischer Beratung. Der Fokus liegt auf der Berechnung einer agilen Transition des Unternehmens. Wichtig ist hierbei der ganzheitliche Blick auf die Veränderung, also auch hinsichtlich Unternehmenskultur und Mitarbeiterzufriedenheit. Wir verstehen Agilität nicht als reine Projektmanagementmethode.“
„Das Modell selbst besteht derzeit aus rund 15 Kategorien. So können einzelne Faktoren, je nachdem, welche Punkte für das jeweilige Unternehmen Relevanz besitzen, unterschiedlich gewichtet werden oder entfallen. Diese Kategorien werden im Rahmen eines Workshops mit unternehmensspezifischen Daten befüllt, um möglichst genaue Verbesserungspotenziale zu berechnen. Was die Entscheider im Unternehmen tun wollen, wie beispielsweise Umsatz- und Ergebniseffekte durch Einführung des MVP-Prinzips (Minimum Viable Product) zu erzielen, spielt genauso eine Rolle wie das Wie: Arbeiten die Entscheider gemeinsam mit den Beratern zum Beispiel mit Reduzierung des Entwicklungsaufwands, Verschlankung des Managementaufwands oder Reduktion der Time to Market?“
Haben Sie ein Beispiel?
„Bleiben wir beim MVP-Prinzip: Bei einer stringenten Umsetzung aller Change-Maßnahmen im Unternehmen kalkuliert das Berechnungsmodell eine 20- bis 30-prozentige Verkürzung der Entwicklungszeit. Auf eine übliche Entwicklungszeit in großen KMUs und Konzernen übertragen, die mindestens 48 Monate beträgt, könnte der Produktlaunch rund 12 Monate früher stattfinden. Das spart Kosten an unterschiedlichen Stellen und erhöht gleichzeitig den Deckungsbeitrag des Produkts.“
„Aber auch softere Faktoren, wie zum Beispiel die Auswirkungen einer agilen Zusammenarbeits- und Unternehmenskultur auf die Mitarbeitermotivation, finden sich in dem Modell wieder. Schauen wir zur Verdeutlichung wieder auf den fiktiven Use Case: Tritt das Produkt mindestens 12 Monate früher am Markt ein, mit einer verkürzten Entwicklungszeit von etwa 30 %, je nach dem tatsächlichen monatlichen Deckungsbeitrag, könnte das Beispielunternehmen über 5 Millionen Euro einsparen!“
„An diesen Einsparpotenzialen hängen viele weitere Potenziale wie die Sunk Costs: Auf genauere Vorhersagbarkeit des Markteintrittsdatums folgen beispielsweise genauere Liefer- und Verkaufstermine für Händler und Endkunden. Das vermeidet unnötige Vertragsstrafen durch Lieferverzögerungen oder verschobene Marketingkampagnen von Anfang an. All das kann das Berechnungsmodell abbilden. Das bedeutet eine große Entscheidungshilfe für Unternehmenslenker.“
Wäre es nicht einfacher, Einsparpotenziale zu nennen, die sich je nach Unternehmensgröße Pi mal Daumen auf alle überstülpen lassen?
„So unterschiedlich wie die Unternehmen und ihre Produkte selbst sind auch ihre Praktiken und Potenziale. Die Unternehmensgröße ist nur ein Faktor unter vielen, der außerdem nicht zwangsläufig mit der Unternehmensagilität in Verbindung steht. Die Branche, die Anzahl und Größe an Abteilungen, die Verbundenheit dieser, die Projektaufteilung, die Workflows – all diese Punkte und noch viele weitere haben Einfluss auf die Change-Potenziale.“
„Natürlich sind solche Summen wie die im Beispiel erwähnten 5 Millionen oder Angaben wie der 12 Monate frühere Launch nicht eins zu eins auf Unternehmen übertragbar. Der Beispiel-Hebel MVP funktioniert beispielsweise nicht allein, sondern steht immer in Verbindung mit anderen Faktoren. Um die angesetzte Ersparnis in der entsprechenden Entwicklungszeit zu erzielen, müssen diese Faktoren standhaft umgesetzt werden. Wichtig ist: Einsparpotenziale hängen maßgeblich an der notwendigen konsequenten Umsetzung der Change-Phasen! Setzen Unternehmen die Maßnahmen nur teilweise um oder bleiben die nötigen organisationalen Bedingungen aus, stellen sich die vollen Effizienzpotenziale nicht ein. Die errechneten Potenziale wiederum hängen von der Genauigkeit der Inputzahlen ab – je präziser die Unternehmenszahlen, die in das Modell fließen, desto genauer die Prognoseergebnisse.“
„Ein Faktor, der mitbedacht werden muss: Im Verlauf der Transition können sich Bedingungen ändern. Diese Änderungen wiederum können einen Unterschied zwischen Prognose und tatsächlich aufkommendem und gehobenem Potenzial ausmachen. Allerdings können diese Summen so auch höher ausfallen als angenommen. Neben den Einsparungen zeigen diese Beispielsummen vor allem vermiedene Ausgaben, die das Unternehmen entweder schlanker wirtschaften oder die Einsparungen anderweitig investieren lassen.“
Bei all den Bedingungen, die sich wandeln können und individuell zu bewerten sind: Wie viel Sinn ergibt das Modell für an Agilität interessierten Unternehmen im produzierenden Gewerbe?
„Potenziale einer agilen Unternehmensstruktur schwarz auf weiß zu sehen, wie es das Berechnungsmodell abbilden kann, verdeutlicht die Möglichkeiten ungemein, macht daraus entstehende finanzielle Chancen greifbarer und stattet die Unternehmensführung mit belastbaren Argumenten für die Change-Entwicklung aus. Besonders für Transitionen, die eine längerfristige Investition bedeuten, benötigen Unternehmen starkes Durchhaltevermögen, um sich von aufkommenden Herausforderungen oder Krisen nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Eine einzelne fixe Zahl auszurechnen, ergibt für eine solche Dauer keinen Sinn.
Deshalb ist das Modell an den drei typischen Change-Phasen ausgerichtet: Zum Transitionsbeginn entstehen vorrangig Kosten, hauptsächlich durch die Investition in die Berater und durch die kurzzeitige Verlangsamung der Entwicklungsteams. Während der Pilotierung kommen noch Kosten auf, doch erste Einspareffekte sind messbar. Doch während der Roll-out-Wellen über die Organisation hinweg überwiegen die Einsparungen. In einem idealtypischen Unternehmen rechnen wir bereits ab dem ersten Jahr der Pilotierung mit einer leicht positiven Bilanz – immer unter der Voraussetzung, dass die erwähnten Anforderungen eingehalten wurden. Erneut ein Beispiel: Rechnen wir mit etwa 150 beteiligten Mitarbeitern im F&E-Bereich, verteilt auf 16 agile Teams. Spätestens ab dem dritten Jahr des Roll-outs sind die Einsparpotenziale, also vermiedene Kosten, Effizienzverbesserungen, Umsatzpotenziale etc. schon fast erschreckend hoch und können sich im deutlich zweistelligen Millionenbereich bewegen. Die individuellen Möglichkeiten in Zahlen ausgedrückt zu sehen und während des Prozesses immer wieder zu messen und abzugleichen hilft, den Transformationsmarathon durchzuhalten und zu meistern.“
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