Europa erlebt derzeit eine stille Revolution. Immer mehr Länder führen digitale Umsatzsteuer-Reformen ein, die dafür sorgen, dass Umsatzsteuerdaten häufiger und detaillierter gemeldet werden müssen. Kontinuierliche Transaktionskontrollen (Continuous Transaction Controls, CTC) ermöglichen Steuerbehörden einen besseren Einblick in die Transaktionen und ermöglichen es ihnen, lange bestehende Lücken in der Umsatzsteuererfassung zu schließen.
Aber warum gerade jetzt? Die Antwort liegt auf der Hand: Die Notwendigkeit, Umsatzsteuerbetrug und Falschmeldungen zu verhindern, ist angesichts des derzeitigen Inflationsdrucks, mit dem sich die Europäische Wirtschaft konfrontiert sieht, und der Kredite, die während der Pandemie aufgenommen wurden und für die nun Zinsen anfallen, dringender denn je.
Anders als z.B. das Vereinigte Königreich, hat Deutschland bisher noch keine verpflichtenden E-Invoicing-Systeme. Und dass, obwohl Deutschland innerhalb der EU die größte Volkswirtschaft in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt ist. Doch auch hier werden bereits seit Ende 2021 mögliche Änderungen diskutiert.
Ist Standardisierung überhaupt möglich?
Derzeit gibt es kein europaweites Modell für CTCs. Stattdessen können die einzelnen Mitgliedstaaten ihre eigenen Systeme entwerfen und implementieren – oder sich gar nicht an der Digitalisierung der Umsatzsteuer beteiligen. Doch wird dieser Laissez-faire-Ansatz auf Dauer tragbar sein? Oder wird die Europäische Kommission versuchen, die digitalen Steuererklärungsprozesse in der gesamten Europäischen Union zu vereinheitlichen?
Ein standardisierter Ansatz zur digitalen Umsatzsteuer-Meldung hat viele Vorteile. In erster Linie macht Standardisierung es Steuerbehörden leichter, das Geld zurückzuverfolgen und so grenzüberschreitende Geldwäsche zu verhindern.
Zweitens würde ein standardisierter Ansatz einen reibungslosen grenzüberschreitenden Handel in ganz Europa ermöglichen und den Verwaltungs- und Bürokratieaufwand für multinationale Unternehmen erheblich reduzieren. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Die europäischen Länder würden dadurch zu einem attraktiveren Handelspartner für andere globale Volkswirtschaften wie die USA, China und das Vereinigte Königreich, da unnötige Komplexität in Import-/Exportprozessen vermieden würde.
Im Hinblick auf die digitale Berichterstattung von Umsatzsteuer bietet ein standardisierter Ansatz für Regionen wie Großbritannien zudem viele Vorteile. Seit dem Brexit sorgen Sprachbarrieren, Zölle und unterschiedliche technologische Vorschriften für Probleme beim Export aus dem Vereinigten Königreich in die EU. So sehr, dass viele britische Unternehmen den Handel in die EU ganz aufgegeben haben. Dies wird durch die jüngsten Zahlen des britischen Office for Budget Responsibility verdeutlicht, aus denen hervorgeht, dass die Warenausfuhren in die EU im vierten Quartal 2021 gegenüber 2019 um 9 Prozent zurückgegangen sind.
Vieles spricht also für Standardisierung. Die wird jedoch nicht von allen Seiten begrüßt! Viele EU-Mitgliedstaaten, wie Polen, Italien und Ungarn, haben bereits stark in ihre eigenen Systeme investiert und könnten daher zögern, weitere Änderungen vorzunehmen, nur um die eigenen Systeme mit ihren Nachbarn in Einklang zu bringen.
Übersicht über die verschiedenen CTC-Modelle
Bis es zu einer Standardisierung der CTC-Modelle kommen kann, muss die Europäische Kommission noch viele Entscheidungen treffen bis klar ist, welches Modell eingeführt und wie es in allen 27 Mitgliedsstaaten eingesetzt wird. Um uns ein Bild über die möglichen Optionen zu verschaffen, vergleichen wir die zwei größten EU-Volkswirtschaften, die bereits Schritte hin zur elektronischen Rechnungsstellung gemacht haben:
Italien war so etwas wie ein europäischer Pionier bei der elektronischen Rechnungsstellung. Als erstes EU-Land führte es 2014 ein E-Invoicing-Modell für den Rechnungsausgleich ein. Es begann mit B2G-E-Invoicing, bevor es 2019 sein obligatorisches CTC-System auf B2B-Rechnungen und einige B2C-Transaktionen ausweitete. Seitdem wurde das System immer weiter verfeinert, um die Einnahmen des Landes zu erhöhen und die Umsatzsteuerlücke weiter zu schließen.
Das zweite Beispiel ist Frankreich. Frankreich hat erst vor relativ kurzer Zeit mit der Einführung von CTC begonnen, aber die B2G-Rechnungsstellung ist dennoch bereits verpflichtend. Von Juli 2024 bis Januar 2026 wird Frankreich auch die elektronische Rechnungsstellung im B2B-Bereich verbindlich einführen. Alle inländischen B2B-Rechnungen und Statusupdates über den ganzen Lebenszyklus der Transaktion werden dann über eine zentrale Plattform oder über angeschlossene Dienstleister übermittelt. Ergänzend dazu und zur Betrugsbekämpfung, werden Daten, die nicht im Rahmen des obligatorischen E-Invoicing-Prozesses eingehen, der elektronischen Meldepflicht unterworfen – einschließlich B2C-Rechnungen und grenzüberschreitender B2B-Rechnungen.
Der französische Gesetzgeber orientierte sich bei der Entwicklung seines CTC-Modelles nicht nur an Italien, sondern auch an Mexiko. Sie ließen sich von gängigen und bereits etablierten Modellen inspirieren, um die Interoperabilität zwischen Dienstleistern im öffentlichen Auftragswesen für komplexere Rechnungsströme zu fördern.
Beide Ansätze, der italienische und der französische, haben ihre Vor- und Nachteile. Viele Experten sind sich einig, dass das französische System wahrscheinlich effektiver zur Aufdeckung von Betrug ist, da es detailliertere Daten verlangt. Dennoch wird die Entscheidung Italiens, eine zentrale E-Invoicing-Plattform (Sistema di Interscambio) kostenlos zur Verfügung zu stellen, positiv hervorgehoben. Im Gegensatz dazu besteht in Frankreich eine staatlich-öffentliche Plattform neben akkreditierten privaten Dienstleistern, die von Unternehmen für die Übermittlung der E-Invoices und e-Reporting-Daten an die öffentliche Plattform beauftragt werden können. Der Ansatz mit diesen beiden Optionen nennt sich „Y-Modell“. Die Entscheidung Frankreichs, sein CTC-System nicht vollständig an das italienische anzugleichen, hat bei einigen Parteien für Verwunderung gesorgt. Die Mehrheit in der italienischen Regierung hatte erwartet, dass ein so enger Handelspartner und EU-Nachbar ein vergleichbares System einführen würde. Die Europäische Kommission nannte Italien in ihrem Bericht über die Umsatzsteuer im digitalen Zeitalter sogar als Fallbeispiel für die Einführung von CTCs.
Der französische Ansatz, die obligatorische elektronische Rechnungsstellung mit einer ergänzenden elektronischen Meldepflicht zu kombinieren, scheint für die Schließung der Umsatzsteuerlücke in der EU ideal. Es wird darauf hingewiesen, dass in der gesamten EU, darunter Spanien, Belgien, Polen und andere Länder, bereits leicht abweichende Varianten der elektronischen Rechnungsstellung oder der elektronischen Meldung von Umsätzen für Umsatzsteuerzwecke eingeführt wurden. Welchen Weg die Europäische Kommission auch immer einschlägt: Sie muss schnell handeln, um Klarheit über die Vereinheitlichung zu schaffen und weitere Diskrepanzen und Unterschiede zwischen den Systemen der einzelnen Länder zu vermeiden.
Aber was ist mit der zweitgrößten Volkswirtschaft Europas, die sich mittlerweile außerhalb der EU befindet? Obwohl die britischen Steuerbehörden bisher kein großes Interesse an der Einführung von CTCs gezeigt haben, meldete das Vereinigte Königreich für das Steuerjahr 2020–2021 eine geschätzte VAT-Lücke von rund 9 Milliarden Pfund. Zwar werden die jüngsten Reformen von Making Tax Digital dazu beitragen, diese Lücke zu schließen, doch eigentlich sollte die Einführung von CTCs selbstverständlich sein. Denn die „fehlenden“ Einnahmen aus der Umsatzsteuer könnten entscheidend sein, um die Finanzierung des Wirtschaftswachstums zu stemmen oder das britische Gesundheitssystem zu unterstützen.
Es wäre für das Vereinigte Königreich von Vorteil, künftige E-Invoicing- oder E-Reporting-Mandate mit der EU abzustimmen. Zusätzlich könnte das Vereinigte Königreich auch mit anderen Regionen wie den USA und Australien einen Konsens anstreben. Dieser würde sich statt auf kurzfristige steuerliche Vorteile eher auf den automatischen Datenaustausch zwischen globalen Lieferketten konzentrieren.
Was kommt als Nächstes?
Wie geht es nun mit der Digitalisierung der Umsatzsteuer in Europa weiter? Obwohl die Richtung klar ist, müssen wir verstehen, wie dies in der Praxis in Bezug auf die Standardisierung der elektronischen Rechnungsstellung (ein Thema, das am 3. November 2022 von der Europäischen Kommission auf der OpenPeppol-Generalversammlung in Brüssel erörtert wurde) und die Anforderungen an die elektronische Berichterstattung funktionieren würde. Am 7. Dezember 2022 hat die EU-Kommission ihre Vorschläge zu Umsatzsteuer im digitalen Zeitalter veröffentlicht. Um den Prozess zu modernisieren, soll ein gemeinsamer Standard für die elektronische Rechnungstellung in der EU für digitale Meldepflichten (DRR) etabliert werden. Unternehmen, die sich absichern wollen, sollten sinnvollerweise alle internen Prozesse zur Einhaltung von Steuervorschriften und Berichterstattung digitalisieren.
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