Galt bis dato in vielen Unternehmen die physische Anwesenheit der Mitarbeiter als zwingend erforderlich, werden Video-Calls gerade zur neuen Normalität. Wo man früheram Whiteboard Schulter an Schulter mit dem Stift in der Hand Konzepte entwickelte, trifft man sich heute im digitalen Raum auf interaktiven Plattformen. Man lernt sich kennen, vernetzt sich und geht Kooperationen ein, ohne sich jemals persönlich getroffen zu haben.
Diese Entwicklung kündigte sich bereits in den letzten Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten an. Doch die Digitalisierung ließ sich gerade für den deutschen Mittelstand (KMU) bisher als schleppend bezeichnen [1]. Nun hat ein externer Schock das bisher Undenkbare geschafft und uns alle von heute auf morgen um einige Jahre in die digitale Zukunft katapultiert. So wird durch Corona nun mehr als je zuvor deutlich, wie digitale Informations- und Kommunikationstechnologien und der gesellschaftliche Wertewandel die Arbeitswelt revolutionieren.
Die letzten Monate sorgten für intensive digitale Erfahrungen, den Erwerb neuer digitaler Kompetenzen und die Identifikation der eigenen digitalen Lücken hinsichtlich Know-how, Prozessen oder Infrastruktur. So geht es beispielsweise Sine Boyans*, Inhaberin eines Übersetzungsbüros mit fünf Mitarbeitern. Sie kennt asynchrones virtuelles Arbeiten mit ihren Kunden, denn der Austausch von Aufträgen und Ergebnissen erfolgte auch in der Vergangenheit ausschließlich per Mail. Mit synchronem virtuellem Arbeiten im Team hat sie noch keine Erfahrung. Oder Karl Huber*, Eigentümer und Geschäftsführer der Huber Platten GmbH, einem produzierenden Unternehmen mit 280 Mitarbeitern, der sich plötzlich mit der Notwendigkeit der Digitalisierung von Prozessen, dem Thema Datensicherheit im Homeoffice und Mitarbeiterführung 4.0 konfrontiert sieht. Sie stehen stellvertretend für Tausende deutscher Unternehmen, die in den letzten Monaten mehr oder weniger freiwillig neue Pfade betreten haben. Die Unternehmer müssen zahlreiche Entscheidungen treffen und neue Aufgaben wahrnehmen. Ebenso stellen sich ihnen unzählige neue Fragen, beispielsweise: Wie gestalten wir die digitale Transformation bei uns konkret, damit sie auch was bringt? Mit welchen Prozessen beginnen wir, uns zu digitalisieren? Wie können wir unsere Mitarbeiter dem digitalen Zeitgeist angepasst effizient und verantwortungsvoll führen und weiterbilden? Wie können wir überlebensnotwendige Innovationsprozesse gestalten und realisieren? Wie können wir die “Digitalisierungs-Booster-Krise” als Chance nutzen?
Unter der Vielzahl an Kompetenzen, die Unternehmer heute im Kontext der Digitalisierung mitbringen sollten, sind Offenheit für Neues und Agilität als Reaktion auf den stetigen Wandel elementar [2]. Trifft dieses Mindset auf interdisziplinäre Ideen, neue Formate und passgenaue Lösungen, können Unternehmen eine individuelle, langfristig sinnvolle Ergänzung zur analogen Welt schaffen. Hierfür spielt im unternehmerischen Mindset zudem die Bereitschaft zur Innovation durch Kollaboration eine erfolgskritische Rolle [3].
Praxisbeispiel – Eine Plattform für Digitalisierungsfragen und Kollaboration
Auf der einen Seite gibt es also eine Vielzahl von Organisationen, die individuelle Unterstützung in einem oder mehreren Bereichen der Digitalisierung brauchen. Auf der anderen Seite haben viele Unternehmen tiefes Know-how in diesen Bereichen. Alle gemeinsam stehen zudem vor der Herausforderung, mit einer plötzlich veränderten Nachfragesituation – viel weniger, viel mehr oder ganz anders – umzugehen und innovative Anpassungen ihres Geschäftsmodells zu finden, um weiterhin am Markt zu bestehen.
So entstand die Erkenntnis: Man müsste suchende und anbietende Organisationen und Unternehmen so zusammenbringen, dass sie sich in ihren Kompetenzen ergänzen, weiterhelfen und gemeinsam innovative Wege beschreiten können.
Nach dem Motto “machen statt wollen” wurde eine innovative Kollaborations-Plattform ins Leben gerufen, um genau diesen Herausforderungen zu begegnen. Inzwischen unterstützen rund 180 Unternehmen und Forschungseinrichtungen unterschiedlicher Größe und Branchenzugehörigkeit aus ganz Deutschland KMUs bei ihren digitalen Problemstellungen. Die Organisationen in der Community verfügen über komplementäre Digital-Kompetenzen in den Bereichen
- Prozesse und Strategien
- Technologien und IT-Infrastruktur
- Recht, Steuern und Datenschutz
- Kommunikation und Webdesign
- Team-/Organisationsentwicklung und HR sowie
- Workshops, Trainings, Coaching
Mit diesem umfassenden Know-how arbeitet das Netzwerk gemeinsam an der Realisierung der Mission, KMUs zu befähigen, die aktuellen unternehmerischen Herausforderungen zu meistern und sich fit zu machen für das 21. Jahrhundert. Dafür werden in interdisziplinären Teams nutzenstiftende Formate entwickelt. In einem Format werden Unternehmen eingeladen, ihr akutes Problem zu schildern. Innerhalb von 45 Minuten bekommt der Fallgeber von drei Experten aus der Community Impulse aus unterschiedlichen Perspektiven sowie konkrete Handlungsempfehlungen.
Die bisherigen Fallgeber wurden bereits mit kreativen Ideen für digitale Geschäftsmodelle inspiriert. Neue Perspektiven halfen ihnen, bisher unbeachtete Gefahren (u.a. digitales Recht) und Potenziale zu erkennen (z.B. künstliche Intelligenz). Ebenfalls gab es Impulse für den Umgang mit dem digitalen Konsumenten und dem Einsatz von Technologien für Geschäftsprozesse und Marketing. Außerdem wurden passende Netzwerkpartner für Vorhaben vernetzt und so neue Kollaborationen ermöglicht.
Das Praxisbeispiel unterstreicht die Vielzahl von Möglichkeiten, die Unternehmen und Organisationen offenstehen, wenn sie bereit sind, ihre Komfortzone zu verlassen, um innovative Ideen und neue Formen der Zusammenarbeit zu erproben. Seit März 2020 wächst die Community stetig. Dies zeugt vom großen Interesse und Bedarf an neuen Modellen der Zusammenarbeit.
Für alle, die vorhaben, eine derartige Plattform aufzubauen, sei auf folgende Knackpunkte hingewiesen, die sich in den vergangenen Wochen und Monaten als erfolgskritisch herausgestellt haben:
- Die Bereitschaft der Mitglieder, mit ihren Kompetenzen einen aktiven Beitrag zum Erfolg der Plattform zu leisten
- Eine klare Organisation der Verantwortlichkeiten
- Schnelligkeit in der Konzipierung und Umsetzung von Ideen
- Gemeinsame Werte
- Transparenz und kontinuierlicher Informationsaustausch unter allen Beteiligten
- Eine klare Einführung und danach konsequente Nutzung weniger digitaler Tools in der Zusammenarbeit
Fazit
Für Netzwerke wie auch für Unternehmen wird die Kunst zunehmend darin bestehen, das Mitwirken aller Beteiligten so zu gestalten, dass jeder seine Kompetenzen und Stärken langfristig so einbringen kann, wie er es zeitlich und inhaltlich ermöglichen kann und möchte.
Stellen wir uns die digitale Transformation vor wie das Wetter: Das kommt, ob wir wollen oder nicht und es ist klar, dass es wenig bringt, sich dagegen zu wehren. Wir ziehen uns einfach entsprechend an, packen den Regenschirm ein und haben so trotzdem eine gute Zeit. Diese Einstellung sollten wir auch gegenüber der Digitalisierung entwickeln. Die aktuelle Krise forciert die digitale Transformation. Nutzen wir diese Tatsache als Chance und brechen auf in eine kollaborative Zukunft, die die Potenziale der Digitalisierung für den Menschen nutzt.
*Namen geändert
Quellen und Referenzen:
[1] vgl. Saam, Viete & Schiel (2016). Digitalisierung im Mittelstand: Status Quo, aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen. http://hdl.handle.net/10419/145963
[2] vgl. Hartmann & Berndt (2019). Digitalisierung: Welche Kompetenzen werden gebraucht? Mittelstand-Digital Magazin, Ausgabe 11, S. 89 ff.
[3] vgl. Lange, Knetsch & Riesenberg (2016). Kollaborationen zwischen Kreativwirtschaft und Mittelstand: Erfolgsfaktoren, Methoden & Instrumente. Springer Gabler
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