Digital: die Zukunft der europäischen Produktion

Die jüngste Vergangenheit stellte die europäischen Produktionsunternehmen vor immer neue Herausforderungen. Allein in den letzten beiden Jahren wurde die Branche von der Pandemie, Brexit, Fachkräftemangel, einer schwachen Inlandsnachfrage, Rekord-Temperaturen, der Krieg in der Ukraine und rasant steigenden Lebenshaltungskosten getroffen.
Von   Ruchir Budhwar   |  SVP and Industry Head – Europe   |  Infosys
13. Dezember 2022

Produktions-Output hat in manchen europäischen Ländern den niedrigsten Stand seit Mai 2020 erreicht – beispielsweise in Großbritannien. Die Tendenz ist weiter fallend, der August lag beispielsweise noch unter den Zahlen vom Mai. Das Wachstum des Privatsektors kam fast zum Stillstand. Und leider sieht die Zukunft düster aus – Europa steuert auf eine Rezession zu. Niemand hätte Anfang 2019 die letzten zweieinhalb Jahre so voraussagen können.

Die verarbeitende Industrie hat keine einfache Beziehung zu Wirtschaftskrisen. In der Vergangenheit war die Branche von Abschwüngen stärker betroffen als andere Sektoren, hat sich jedoch auch schnell wieder erholt. In einer solch unvorhersehbaren und unsicheren Zeit sollten die europäischen Hersteller jedoch selbstkritisch sein. Sie müssen aus den letzten Jahren lernen: Sie können nicht nur planen, wie sie sich von der drohenden Krise erholen können, sondern auch, wie sie ihr Geschäft gegen künftige unvorhersehbare Schocks absichern. Es gibt vier Möglichkeiten, wie digitale Technologien dabei unterstützen, dieses Ziel zu erreichen.

Lieferketten stärken

Die Lieferkette trägt die Hauptlast der Probleme der europäischen Hersteller. Dies gilt vor allem für die  Automobilhersteller. Um ein Beispiel zu nennen: In Deutschland wurden 2021 etwas mehr als drei Millionen Fahrzeuge produziert – ein weiterer Rückgang im Vergleich zu 2020 mit 3,51 Millionen. Insgesamt hat Deutschland damit weniger Pkws produziert wie in jedem Jahr seit 1976. Durch Engpässe beispielsweise bei der Halbleiter-Produktion stiegen außerdem die Lieferzeiten.

Doch wie kann die EU als zweitgrößte Autoregion der Welt – und Deutschland als größter OEM-Markt – ihre Lieferkette widerstandsfähiger machen? Hersteller sind in der Lage, ihre Lieferketten durch den Einsatz digitaler Technologien robuster zu machen. Gleichzeitig können sie ihre Lieferkettentransparenz und ihr Risikomanagement verbessern und eine höhere Geschäftskontinuität gewährleisten. Heute gibt es digitale Lösungen, die über Dateneinspeisung in Echtzeit sowie automatisch ausgelöste Warnungen beim Eintreten bestimmter Ereignisse oder Ausnahmen eine operative Planung und Reaktion auf Ereignisse ermöglichen. Volkswagen nutzt beispielsweise ein Frühwarnsystem für den Chip. Im Falle eines Engpasses entscheiden sich die Automobilingenieure aktiv für eine von 150 technologiegestützten Alternativen. Auch der digitale Datenaustausch und die Zusammenarbeit innerhalb von Partner-Ökosystemen treiben Prozessverbesserungen voran. Sie sind zudem der Garant für innovative Geschäftsmodelle – und machen Lieferketten stärker und flexibler.

Aufbau eines Talentpools für künftige Herausforderungen

Die EU leidet seit Jahren unter einem Talent- bzw Fachkräftemangel. In einer kürzlich durchgeführten Umfrage zu den Beschäftigungsaussichten gaben 73 Prozent der britischen Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes an, dass es schwierig sei, die von ihnen benötigten Qualifikationen zu finden. In Osteuropa meldeten 39 Prozent der Hersteller, dass der Mangel an Arbeitskräften ihre Produktion einschränkt. Werden diese Engpässe nicht behoben, wird die Produktionsleistung beeinträchtigt. Gleichzeitig steigen die Betriebskosten und belasten die Branche weiter. Der Aufbau einer soliden Talent-Pipeline ist für die Zukunftssicherung von Unternehmen unerlässlich. Dazu ist es wichtig, die bisherige Personalpolitik zu überarbeiten. Allerdings braucht es entsprechend Zeit, um Pläne auszuarbeiten, wie sich Talente gewinnen, fördern und binden lassen.

In der Zwischenzeit können die Hersteller ihre vorhandenen Mitarbeiter bestmöglich einsetzen, indem sie sie umschulen oder weiterbilden. Digitale Lern-Tools und Kollaborationsplattformen ermöglichen ihnen, Schulungen und Weiterbildungen in großem Umfang anzubieten. Expertenwissen lässt sich in einer Datenbank speichern und sogar spielerisch nutzen, um die Belegschaft in ihrem eigenen Tempo weiterzubilden. Mit der Entwicklung von Augmented Reality (AR) und dem Metaverse können Spezialisten ihre virtuellen Avatare einsetzen, um Lernende in verschiedenen Fabriken aus der Ferne zu coachen.

ESG-Risiken widerstehen

Der Planet steht vor einer existenziellen Krise in Form der globalen Erwärmung. Nationen, Regierungen, Institutionen, Einzelpersonen und Unternehmen müssen sich dem Kampf gegen den Klimawandel anschließen. Die europäischen Hersteller – die in diesem Sommer aus erster Hand erfahren haben, wie sich der Klimawandel auf die Produktivität auswirken kann – verpflichten sich, sich verstärkt auf das Erreichen von Netto-Null zu konzentrieren.

Die digitale Technologie und insbesondere die Cloud spielen eine große Rolle dabei, den Energieverbrauch der Industrie zu reduzieren. Durch die Verlagerung von Arbeitslasten aus internen Rechenzentren in die nachhaltigere öffentliche Cloud sind Hersteller in der Lage, ihren Energie- und Kohlenstoff-Fußabdruck deutlich zu reduzieren. Nicht zuletzt können Fertigungsunternehmen Big-Data-Analysen, maschinelles Lernen und Edge Computing einsetzen, um Kennzahlen wie Ressourcenverbrauch, Abfallaufkommen usw. zu verfolgen. Diese Informationen lassen sich in Erkenntnisse umwandeln und so nachhaltige Praktiken fördern.

Produktionsstätten der Zukunft bauen

Neben den Lieferketten sollten die europäischen Hersteller auch die Optimierung aller wichtigen Produktionsprozesse ins Auge fassen. Ein digitaler Zwilling ermöglicht ihnen dies durch die virtuelle Simulation von Produktionsanlagen ebenso wie die entsprechenden Prozesse zu erkennen. Probleme lassen sich so schneller als bisher aufdecken und beheben. Darüber hinaus können Unternehmen Bereiche der Selbstheilung erkennen und so die betriebliche Widerstandsfähigkeit verbessern. Technologien unter dem Dach von Industrie 4.0 treiben die intelligente Fertigung voran – und schaffen so die Produktion der Zukunft. Dies sind Anlagen, die agil und flexibel sind und sich an das zunehmend komplexe Umfeld anpassen können, in dem sie arbeiten. Mit Funktionen wie Maschine-zu-Maschine-Kommunikation, vorausschauender Wartung und intelligenter Entscheidungsfindung werden diese vernetzten Anlagen in der Lage sein, Probleme zu antizipieren, zu verhindern oder zu beheben, bevor sie großen Schaden anrichten.

Während sie versuchen, sich von der anhaltenden Krise zu erholen, sollten die Hersteller in der EU auch darüber nachdenken, wie sie sich vor künftigen Bedrohungen schützen können. Digitale Technologien spielen hier eine entscheidende Rolle. Sie verbessern die Widerstandsfähigkeit der Lieferkette, erweitern Talentressourcen, erhöhen die Nachhaltigkeit – und bauen die Produktionsstätten der Zukunft auf.

Ruchir Budhwar ist Senior Vice President und Industry Head – Europe bei Infosys. Seit fast 20 Jahren spielt er eine entscheidene Rolle für die Unternehmenspräsenz im Fertigungssektor, der die Bereiche Automobil, Luft- und Raumfahrt, diskrete/industrielle Fertigung und Chemie/Ressourcen umfasst.

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