Eigentlich sollte es nur unser 35-jähriges Abifest werden. Hände schütteln, sich wiedersehen, gemeinsam essen und hören, wie es dem einen oder anderen ergangen ist. Doch dann tauchte überraschend mein Jugendfreund auf, den das Schicksal nach China verschlagen hat. Er bot seinen alten Schulkameraden an, mit einer Präsentation aus seinem heutigen Leben zu berichten.
Er startete mit Fotos seiner chinesischen Familie und seines Alltags. Gemeinsam leben sie in Shanghai in einem schicken Reihenhaus – in einer „guarded area“ mit Sicherheitsdienst. Seine Frau trägt weiter ihren eigenen Vor- und Nachnamen, denn chinesische Frauen nehmen nicht den Namen ihres Mannes an. Und seine Kinder tragen deutsche Namen, sehen aber komplett asiatisch aus. Zusätzlich habe alle Familienmitglieder einen chinesischen Namen, der immer eine inhaltliche Bedeutung hat.
Er spricht über die großartige Vielfalt von sowohl Essensangebot als auch -bräuchen. Dass man in chinesischen Restaurants neben vielfältigsten Gemüsesorten auch Huhn, Rind, Schlange, Ratte und Hund verzehren kann. Reis wird nur nach dem Essen angeboten, falls man nicht satt geworden ist. Normal ist die No-Carb-Ernährung.
Er hat kein Bargeld mehr in der Tasche, sondern bezahlt alles mit dem Handy. Entweder über „Alibaba“ oder über „WeChat“, dem chinesischen Pendant zu Whatsapp. Danach stellt mein Freund sein Unternehmen vor, seine Arbeit und seine Mitarbeiter. Alle sehen jung und hochmotiviert aus. Wir sollen das Alter der Chinesen schätzen und liegen immer daneben. Asiaten haben jugendliche Gene.
Sein Unternehmen macht mit nur wenigen hundert Mitarbeitern mehrere 100 Millionen Umsatz im Maschinenbau. Ihre hochmoderne Fabrik steht in einer sehr ländlichen Gegend. Die Löhne der Führungskräfte wie auch seine Miete seien gleich hoch, wie in Deutschland. Wir kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er räumt mit unseren Vorurteilen auf. Das Ausbildungslevel der Menschen sei extrem hoch, sie lernen viel mehr, länger und intensiver als wir.
Er erzählt, wie in Shanghai in nur acht Monaten eine Brücke gebaut wird. Wir benötigen für solche Projekte mehrere Jahre für Planung und Genehmigungen. Auch zeigt er uns die siebenstöckigen Autobahnkreuze, die entstehen, weil Shanghai einfach unfassbar schnell wächst. Mittlerweile leben dort 25 Millionen Menschen.
Immer wieder kommt die Rede auf die Sozialkontrolle der Bürger, die auch in deutschen Medien oft Thema ist. Er meint, dass sie absolut existiert und nach dem Testlauf in drei Regionen jetzt auf alle Städte und das ganze Land ausgedehnt wird. Jeder Bürger erhält 1000 Punkte als Basishöhe. Wenn er aufgrund unsozialen Verhaltens auf 500 Punkte sinkt, darf er keine Flüge und Bahntickets mehr buchen.
Jeder Bürger wird überall beobachtet, überwacht und ausgewertet. So werden z.B. dem Chinesen, der einem alten Mann über die Straße hilft, plötzlich Punkte gutgeschrieben. Diese Bürgerüberwachung wird nun auch auf die Unternehmen und die Mitarbeiter ausgeweitet. Gesicht und Mimik der Bürger werden so analysiert, dass man weiß, ob sie grimmig oder wütend sind. Wenn ja, wird reagiert.
In Schulen werden Kinder bei ihrem Lern- und Essensverhalten via künstlicher Intelligenz kontrolliert. Diese schlägt ihnen auch optimierte Verhaltensweisen vor.
China ist der Anwärter auf den Thron der führenden Weltmacht geworden, ohne dass es im Alltag des Westens jemand wirklich bemerkt hätte. Dazu beigetragen hat vor allem der neo-leninistische Ansatz und das gehobene Potenzial von KI. Die Schaffung des „perfekten Staats“, in der der Mensch untergeordnet ist, ist mehr als auf dem Weg.
Moralisch und regulatorisch wird chinesisches Denken nicht durch die abendländische Kultur gebremst. Mein Schulfreund sagt, er denkt und agiert jetzt zunehmend wie ein Chinese. Es sei für ihn nicht mehr nachvollziehbar, wie bei uns gehandelt wird. Das sei so langsam und auf Prinzipien basierend, die die Chinesen in dem Maß gar nicht hätten. Sie würden viel pragmatischer, effizienter, egoistischer und langfristiger denken und handeln als wir.
Bleibt die Frage, was das für Deutschland bedeutet. Können wir noch zu China aufschließen? Und mit unserem Habitus schnellere Innovationszyklen und angstfreie Begegnungen mit KI initiieren? Können die Werte, die die führende wirtschaftliche Rolle Deutschlands einmal ausgemacht haben, noch Grundlage für die heute notwendige Agilität und Schnelligkeit sein?
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