Zu mehr Leistungsfähigkeit und Resilienz: Ende-zu-Ende Strukturen als Wegbereiter der Transformation

Die letzten zwei Jahre waren für viele Unternehmen alles andere als einfach. Die globale COVID-19 Pandemie stellte die etablierten Strukturen von Unternehmen auf die Probe. Viele große Unternehmen mussten sich jedoch nicht nur den Herausforderungen der Pandemie stellen, sondern durchlaufen grundsätzlich eine Phase der Transformation. Die fortschreitende Digitalisierung und Globalisierung der Geschäftswelt bietet nie dagewesene Chancen. Wer davon nachhaltig profitieren möchte, muss sich einer komplexen Herausforderung stellen. Denn nur Unternehmen, die Innovation, Resilienz bzw. Adaptionsfähigkeit und Umsetzungsstärke beweisen, werden profitieren.
Von   Kenny Petzold   |  Senior Manager | Operational Excellence   |  PricewaterhouseCoopers (PwC)
8. Dezember 2022

Die globale Pandemie fungierte in der Prüfung, wie weit Unternehmen in Ihrer Transformation sind, als Katalysator. Auf der einen Seite stehen die Organisationen, für die der Einfall der Pandemie lediglich den Ort der Leistungserbringung des Personals änderte – vom Büro ins Home-Office. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Organisationen, bei denen die Krisensituation einen signifikanten Einschnitt in deren Handlungsfähigkeit bedeutete – zu Teilen sogar die Insolvenz. In einer Betrachtung der Organisationen stellten sich zwei wesentliche Faktoren heraus, welche einen signifikanten Einfluss auf Adaptionsfähigkeit und Resilienz hatten:

  1. Das Vorhandensein eines Ende-zu-Ende (E2E) Ansatzes in Bezug auf Prozesse und Organisation
  2. Eine hohe Qualität und Effizienz in der Orchestrierung von E2E Abläufen

Vom klassischen Prozess Management zum unternehmerischen Werttreiber

(Geschäfts-) Prozess Management hielt bei etablierten Unternehmen erstmals in den 1980er Jahren Einzug. Der Fokus der Initiativen lag auf der Strukturierung und Etablierung des Modells der Geschäftsprozesse auf funktionaler Ebene – mit dem Ergebnis deutlicher Effizienzsteigerung auf Teilprozess-Ebene. Die Betrachtungsweise ließ jedoch außer Acht, dass sich die Wertschöpfung von Kundennutzen über Funktionsgrenzen hinweg erstreckt. Die so entstandenen Flaschenhälse in der Schnittmenge der Funktions-Silos waren der Anstoß für neue Überlegungen: Dem Ende-zu-Ende Ansatz.

Die Rezeption des Ende-zu-Ende Gedankens begann Anfang der 1990er Jahren in der Organisations- und Wirtschaftsforschung. Die wirtschaftliche Relevanz des Themas manifestiert sich in den späten 2000er Jahren durch die Etablierung des Konzepts der Shared Service Organisation (SSO) und deren Evolution in Global Business Services (GBS). Diese Entwicklung hin zur integrierten, funktionsübergreifenden Leistungserbringung nahm in den letzten Jahren zudem großen Einfluss auf die strategische Ausrichtung großer IT-System- und Lösungsanbieter. Zu beobachten war dies kürzlich durch die Akquisition eines Business Software Herstellers durch den Marktführer im Bereich von Enterprise Resource Management (ERP) Software. 

Vor dem Hintergrund der beschriebenen Änderungen in Markt und Wissenschaft gilt es nun den Blick auf die Erfolgsfaktoren des neuen Paradigmas zu werfen. Es bedarf einer Anpassung der Strukturen und Abläufe sowie einer gänzlich neuen Einstellung, um langfristig vom E2E-Ansatz zu profitieren – unabhängig davon, ob Mittelständler oder Fortune 500 Unternehmen. Anhand der Studie zahlreicher Projekte konnten drei Schlüsselelemente identifiziert werden, die im Wesentlichen zum Erfolg des E2E Konzepts beitragen:

  1. Etablieren einer Ende-zu-Ende Mentalität

E2E bedeutet das Ende von funktionalen Silos mit eigenen Abläufen, eigenem Berichtswesen und eigener Ergebnisverantwortung. Der Ansatz verfolgt vielmehr den Gedanken, sich vollständig der Wertschöpfung für den Kunden zu unterjochen. Dies bedeutet, die auf Basis des Konzepts “funktionaler Exzellenz” optimierten Teilprozesse so auszurichten, dass eine funktionsübergreifende Kette von Abläufen entlang der Werteströme eines Unternehmens entsteht – E2E Prozesse. Ein Beispiel hierfür ist der P2P Prozess. Dieser beinhaltet alle Aktivitäten von der Erfassung eines Bedarfs bis zum Bezahlen des Lieferanten beinhaltet. Der E2E Ansatz integriert sämtliche Aktivitäten entlang der Prozesskette. Damit bricht der Ansatz neben dem Konzept funktionaler Silos auch mit der Unterscheidung von Prozessen in Unterstützende- und Kernprozesse. Im Prozess benötigte Ressourcen, wie bspw. Gebäude, Maschinen, Systeme jedoch auch Teams und Personen werden entlang des prozessualen Werteflusses integriert.
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Nach der prozessualen Sichtweise gilt es nun, auf die Strukturen zu blicken, die eine E2E Ausführung von Prozessen ermöglichen. Bei der Betrachtung der IT-Systeme, die beispielsweise am Order-to-Cash (O2C) Prozess beteiligt sind, erkennt man die Herausforderung. Die Interaktion mit Kunden wird über ein Customer Relationship Management (CRM) System verwaltet. Für die Erfassung von Aufträgen und deren Verwaltung kommen häufig branchenspezifische Lösungen und Webshops zum Einsatz. Die Auftragsabwicklung findet in der Folge zumeist in ERP Systemen statt. Für Logistik, Finanzbuchhaltung und Zahlungsverarbeitung gibt es weitere Systeme. Um Kunden bestmöglich bedienen zu können, müssen alle Komponenten nahtlos ineinandergreifen und miteinander kommunizieren. Um den vollen Nutzen zu entfalten, muss auch die Datenhaltung integriert werden. Es bedarf einer “Single Source of Truth”, sodass Entscheidungen von allen Stakeholdern am Prozess auf Basis der gleichen Grundlage getroffen werden können. Ohne eine konsequente Etablierung des Ende-zu-Ende Gedankens auf technischer Ebene, können die definierten Abläufe schlicht nicht gelebt werden. 

Allein die Transformation der Prozess- und Systemlandschaft reicht nicht aus, um das volle Potential des Wertschöpfung zu entfalten. Die dritte wesentliche Komponente zur Etablierung der E2E-Mentalität ist die Definition einer abgestimmten Organisationsstruktur deren Steuerungskomponenten. Das Aufbrechen der funktionalen Silos und wertschöpfungsorientierte Umgestaltung der prozessualen Abläufe bedarf neuer Governance Strukturen. Die Verantwortung der Wertschöpfung liegt pro Prozess bei einer Process Ownerin. Diese Person ist der Knotenpunkt der Berichtswege im E2E Prozess. Sie hat die Aufgabe, das interdisziplinäre Team aus Spezialistinnen unterschiedlicher Domänen zu integrieren und mit adäquaten Werkzeugen zu steuern. Die Grundlage zur Steuerung bildet eine über den Prozess einheitliche Datenstruktur. Durch die Integration der Systeme sind so echtzeitnahe, aber vor allem konstant evidenzbasierte Entscheidungen möglich. Die relevanten Steuerungsgrößen eines jeden E2E Prozess leiten sich aus dessen Zweck und dem klar definierten Ergebnis ab. Die globale Definition der Kennzahlen ermöglicht neben vollständiger Transparenz zudem ein redundanzfreies und einheitliches Berichtswesen.

  1. Etablieren eines Modells der kontinuierlichen Verbesserung

Parallel zum Design der neuen E2E Strukturen sollte das Betriebsmodell zur Operationalisierung der Werteströme entworfen werden. Erfolgreiche Unternehmen verankern im generellen Betriebskonzept direkt ein Modell zur kontinuierlichen Verbesserung. Der Blick darf dabei jedoch nicht nur auf die E2E Abläufe selbst gerichtet werden, sondern muss auch die stetige Weiterentwicklung der an den Prozessen beteiligten Personen und deren Arbeitsform beinhalten. 

Verbessern und Hinterfragen von Abläufen

Auf prozessualer Ebene empfiehlt sich die Anlehnung an das aus dem Qualitätsmanagement bekannte DMAIC-Rahmenwerk. Die einzelnen Komponenten Define, Measure, Analyse, Improve, Control geht von der Grundannahme aus, dass alle zu optimierenden Größen messbar und initial vorhanden sind. Diese Kennzahlen sollten nicht von den für jeden Prozess definierten Steuerungsgrößen abweichen, sondern vielmehr Bestandteile der Treiberbäume der einzelnen Kennzahlen sein. Ist dies nicht der Fall, kann nicht zwangsläufig davon ausgegangen werden, dass eine Optimierung einer Zielgröße, einen Einfluss auf den Gesamtprozess hat. Neben dem sicherstellen der KPI-Relevanz der einzelnen Maßnahmen sollte auch immer deren kurz, mittel- und langfristiger Nutzen berechnet werden.

Neben der Optimierung auf transaktional-operativer Ebene sollte zudem fortwährend evaluiert werden, ob sich alle Abläufe und die eingesetzte Technologie dem Motiv des E2E Prozesses unterordnen oder sie nicht zur Wertschöpfung beitragen. In letzterem Fall gilt es, eine neue Ausrichtung auf das Zielbild herbeizuführen oder ein Ausphasen einzuleiten. Die Verantwortung für die periodische Alignment-Analysen fällt in den Verantwortungsbereich der E2E Prozess Ownerin.

Digital Backbone

Im Kern der Orchestrierung eines jeden E2E Prozesses liegt ein digitaler Backbone. Dieser hält wie Klebstoff alle für die Leistungserbringung relevanten Ressourcen zusammen und unterstützt die Kollaboration aller am Prozess beteiligten Mitarbeitenden. Zumeist handelt es sich hierbei um Software-Lösungen mit einer Vielzahl systemischer Schnittstellen und technischer Komplexität – jedoch mit einer für jede am Prozess beteiligte Person intuitiver grafischer Oberfläche, die von unterschiedlichsten Devices bedienbar ist. Der Knotenpunkt jeder System-Interaktion ist die gemeinsame und integrierte Datenhaltung.

Die hinsichtlich des E2E Konzepts reifsten Unternehmen nutzen die zentrale Datenhaltung nicht nur zur Ableitung von Entscheidungen, sondern auch zum kontinuierlichen Monitoring ihrer E2E Abläufe. Mit Hilfe von integrierten Analyse-Lösungen lassen sich in Echtzeit Erkenntnisse gewinnen. Diese Lösungen reichen von reinen KPI Dashboards hin zu weitreichenden Process Mining Lösungen. Je nach Reifegrad der Organisation werden zur direkten Adressierung der Sachverhalte integrierte Automatisierungslösungen, sog. Execution Engines, eingesetzt. Hierbei handelt es sich um Technologie, die mit Hilfe von Regeln oder mit Künstlicher Intelligenz Workflows startet oder direkt korrigierend in Prozessflüsse eingreift.

Der digitale Kern schafft nicht nur die Grundlage für Entscheidungsfindung und Transparenz in Echtzeit, sondern eröffnet vollkommen neue Quellen für Wertschöpfung. Grundlage hierfür bildet das konsequente Erfassen der digitalen Fußabdrücke, der im Prozess durchgeführten Aktivitäten. pastedGraphic_1.png

Schaffen von Resilienz

Um die Werteflüsse konstant aufrecht zu erhalten ist neben der Digitalisierung der Abläufe und dem Herstellen vollkommener Transparenz aller am Prozess beteiligten Ressourcen elementar, die damit verbundenen Risiken und Einflussfaktoren auf die Leistungserbringung zu kennen. Als im März 2020 die globale Corona Pandemie die globalen Lieferketten auf den Prüfstand stellte, gab es Unternehmen, die binnen eines Tages ihre Produktion in einen Pandemie-Modus und die white-collar Aktivitäten in einen work-from-home Modell heben konnten. Der Unterschied zu Unternehmen, die über Wochen und Monate erst Laptops und virtuelle Kommunikationsmittel beschaffen mussten, lag in einem Punkt – der Vorbereitung. 

Die hoch adaptiven Unternehmen wiesen alle Ende-zu-Ende Strukturen auf, welche nicht nur auf Effizienz getrimmt waren, sondern auch vor dem Hintergrund der Risikoabsicherung entwickelt wurden. Im Aufsetzen der Abläufe muss auf Ebene der Organisation, Technologie und für den Output benötigter Ressourcen eine eingehende Analyse möglicher Risikoszenarien durchgeführt, sowie darauf basierend konkrete Mitigations-Maßnahmen definiert werden.

Dass Risikominimierung zu einem Werttreiber werden kann, zeigt sich am Beispiel von cloud-basierten IT-Systemen. Neben einem sehr hohen Niveau an Verfügbarkeit und Sicherheit gegen einen totalen Verlust aller Daten sind die Lösungen dynamisch skalierbar und sehr kosteneffizient. Durch die Nutzung solcher Infrastruktur kann ein signifikanter Risiko- und Kostenblock smart extern ausgelagert werden.

Kontinuierliche Weiterentwicklung des Teams

Ein weiterer Faktor zur langfristigen und kontinuierlichen Optimierung der E2E Abläufe bildet die Weiterentwicklung der am Prozess beteiligten Personen. Neben der Aus- und Weiterbildung des Personals im Bereich digitaler Kompetenzen gilt es ein Verantwortungsbewusstsein für die E2E Prozesse herzustellen. War eine Person in der Beschaffung früher nur für das Erstellen einer Bestellung verantwortlich, muss sie nun ein integratives Verständnis dafür entwickeln, welche Folgen die Handlung in den nachgelagerten Prozessschritten hat bzw. wie nachfolgende Abläufe vereinfacht werden können. Hierbei geht es um weit mehr als um das Vermitteln fachlicher Inhalte, vielmehr werden weiche Faktoren in den Vordergrund gerückt.

Da E2E Abläufe nicht nur über System- sondern häufig auch über Landesgrenzen laufen, bekommt die Ausbildung von Kompetenzen im Bereich der digitalen bzw. virtuellen Zusammenarbeit einen besonders hohen Stellenwert. Es müssen Lernangebote erstellt werden, welche die Dezentralität der am Prozess beteiligten Personen berücksichtigen. Beispielsweise müssen Personen darin geschult werden, digitale Kommunikationsplattformen. Wie wichtig der sichere Umgang mit solchen Plattformen ist, hat sich zu Beginn der Corona-Pandemie gezeigt. Neben dem Vorhandensein von adäquater Infrastruktur für die Heimarbeit, waren es die Kompetenzen der digitalen Zusammenarbeit, welche einen reibungslosen Übergang ins Home-Office ermöglichten.

Wichtig bei der Vermittlung neuer Inhalte und Methoden ist deren Kontinuität und die geringe Einstiegsbarriere. Die Formate müssen einfach und überall zugänglich sein. Zudem sollte darauf geachtet werden, dass die Vermittlung spielerisch aufgebaut ist, um die Einstiegsbarriere gering zu halten und Erfolgserlebnisse auf der Lernreise zu generieren. Die Umsetzung erfolgt meist im Aufbau von sog. Micro-Learnings. In den 15-minütigen Lerneinheiten werden komprimierte Lerninhalte bereitgestellt, die Mitarbeitende flexibel abrufen können.  Kompetitive Vorteile können langfristig nur dann erzielt werden, wenn ein Modell des lebenslangen Lernens und der Weiterbildung etabliert wird. 

Implikationen

Ende-zu-Ende bedeutet weit mehr als das Anpassen von Prozessen und dem Etablieren einer besseren, bereichsübergreifenden Kommunikation. Das E2E steht für einen ganzheitlichen Management Ansatz. Diese Sichtweise schafft ein völlig neues Verständnis davon, wie die Leistungserbringung im Unternehmen organisiert ist. Sie bündelt alle zur Leistungserbringung erforderlichen Ressourcen, egal ob Produktionsstätte, Mitarbeiterin oder IT-System und richtet dieses Ende zu Ende auf ein übergeordnetes Leitbild aus. Die übergreifende Sichtweise manifestiert sich zudem in einem daraus abgeleiteten Steuerungsmodell.

Unternehmen können durch das Etablieren eines starken E2E-Gedankens profitieren, wenn alle beteiligten Komponenten nahtlos ineinandergreifen. Langfristigen Erfolg generiert ein E2E Modell, wenn Abläufe fortwährend hinterfragt und verbessert werden. Die so freiwerdenden Kapazitäten können dann in die Weiterentwicklung des Teams und die Ausprägung neuer Kompetenzen investiert werden. Die E2E Strukturen werden so zu hoch-effizienten und robusten Komponenten der unternehmerischen Wertschöpfung. Gefördert durch die Zusammenarbeit in agilen und interdisziplinären Teams, aber auch zur Quelle unternehmensinterner Innovationskraft. 

Der Wechsel hin zu einem Ende zu Ende Konzept ist eine komplexe und vielschichtige Aufgabe. Die Transformation sollte in Bereichen beginnen, in denen schnell erste Ergebnisse erzielt werden können. Mit der Strahlwirkung des Erfolgs gilt es dann iterativ, Bereich für Bereich in die Umsetzung einzubeziehen und die funktionalen Mauern einzureißen. Die Unternehmen, die sich der Herausforderung zeitnah stellen, werden früh von den Vorteilen der integrativen Betrachtung profitieren und schaffen so die Grundlage, nachhaltig gestärkt aus der Pandemie zu kommen.

Kenny Petzold ist Experte für prozess- und datengetriebene Organisationstransformation bei PwC. Neben der Nutzung und Etablierung von Process Mining Lösungen liegt sein Schwerpunkt im Bereich der Ende-zu-Ende Wertstrom Optimierung.

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