40 Prozent aller Todesfälle in Deutschland sind derzeit auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen zurückzuführen – was ihnen den traurigen ersten Platz unter den Todesursachen in der Bundesrepublik beschert. Das Tückische: Häufig handelt es sich dabei um chronische Erkrankungen, die vollkommen symptomlos voranschreiten und somit oftmals zu spät erkannt und behandelt werden. So ist der Herzinfarkt in vielen Fällen der erste und leider auch oftmals tödliche Indikator für eine bestehende Herz-Kreislauf-Erkrankung. Dabei sind diese Leiden insbesondere bei jungen Menschen meist sehr gut behandelbar. Die Herzvorsorge steht an diesem Punkt vor einem Dilemma, da es bislang an unkomplizierten, ungefährlichen und dennoch präzisen Methoden zur Überprüfung der Herzgesundheit mangelte.
Konvention vs. Innovation: Die Herzvorsorge vorm Scheideweg
Seit über hundert Jahren ist das EKG (Elektrokardiogramm) die am weitesten verbreitete Vorsorgemethode in der Herzmedizin. Bei diesem Untersuchungsverfahren werden mittels am Körper befestigter Messfühler Herzströme gemessen, aufgezeichnet und in einer Kurve wiedergegeben. Anschließend wird diese Kurve von Mediziner:innen ausgewertet, die auf dieser Grundlage eine Diagnose erstellen. Doch so etabliert das EKG auf der einen Seite auch ist, so veraltet ist es der anderen: Seitdem der Niederländer Willem Einthoven das Verfahren um 1900 entwickelte, wurde es nicht mehr modernisiert. Obwohl es als Standartvorsorgemethode anerkannt ist, verfügt das EKG nur über eine geringe Aussagekraft, sodass viele Herz-Kreislauf-Erkrankungen oftmals unerkannt bleiben. Neben dem EKG gibt es deshalb noch weitere Methoden wie beispielsweise die deutlich präzisere Herzkatheteruntersuchung. Das Problem: Dieses Verfahren ist mit deutlich höherem Aufwand sowie erheblich höheren Kosten verbunden. Zudem handelt es sich um eine invasive Methode, die damit eine ungleich höhere Belastung für Patient:innen darstellt. Ein Frankfurter Start-Up hat es sich nun zur Aufgabe gemacht, eine Methode zu entwickeln, die diesem Dilemma ein Ende setzen soll. Ähnlich wie ein EKG ist die Anwendung der des neuen Verfahrens unkompliziert, sicher und zudem günstig. Darüber hinaus ist die Methode deutlich exakter als ein Elektrokardiogramm, verfügt über eine hohe Aussagekraft und ist dabei nicht invasiv. Wie das funktioniert? Mithilfe von Künstlicher Intelligenz.
Sprung in die dritte Dimension
Bei der sogenannten „Cardisiographie“ handelt es sich im Prinzip um eine Weiterentwicklung der Vektorkardiographie, einer sehr präzisen, allerdings bislang schwer zu interpretierenden Methode, die aus diesem Grund nur selten zum Einsatz kommt. Die innovative Screeningmethode, die speziell für die Erkennung von Durchblutungsstörungen des Herzens konzipiert wurde, zeichnet (ähnlich wie ein EKG) die elektrische Aktivität des Herzens auf – jedoch mit einem wesentlichen Unterschied: Neben den auf dem Brustkorb angebrachten Elektroden, ermöglicht eine zusätzliche Elektrode am Rücken eine dreidimensionale Abbildung des Herzens. Dadurch entstehen Aufzeichnungen von drei Parametern, die vom Herzen ausgehen:
– P-Schleife: Sie zeigt die Erregungsausbreitung im Vorhof an.
– QRS-Schleife: Sie bildet die Erregungsausbreitung im Ventrikel (den Herzhöhlen) ab.
– T-Schleife: Sie ergibt sich aus der Rückbildung dieser Erregung.
Das dreidimensionale Verfahren ermöglicht es Mediziner:innen, deutlich genauere Diagnosen zu stellen, als es mit dem traditionellen EKG möglich ist. Damit kombiniert die Cardisiographie, die auch 3D-Vektor-EKG genannt wird, das beste zweierlei Methoden: Sie ist zum einen so präzise wie die Vektorkardiographie, allerdings wesentlich leichter zu interpretieren. Zum anderen ist das Screeningverfahren ebenso unkompliziert, schnell, kostengünstig und ungefährlich wie ein EKG.
Vorhang auf für die Künstliche Intelligenz
Die Künstliche Intelligenz ist in diesem Fall dafür zuständig, die aufgezeichneten Herzdaten zu analysieren und die Ergebnisse innerhalb von vier Minuten für die Ärzt:innen nachvollzieh- und interpretierbar aufzubereiten. Der cloud-basierte Algorithmus ist in der Lage, Millionen von Features pro Aufnahme zu verarbeiten und anschließend den Zustand des Herzens in einem simplen PDF grafisch abzubilden. Darüber hinaus ist er auch dazu fähig, eine klinische Empfehlung auszugeben. Damit dies gelingt, wurde die KI unter anderem auf Grundlage umfangreicher Studienergebnisse, die aus Röntgenuntersuchungen der Herzkranzgefäße (auch „Koronarangiographie“ genannt) ermittelt wurden, trainiert.
Supervised Machine Learning – Ein Algorithmus auf der Schulbank
Damit seine Performance und die Genauigkeit seiner Vorhersagen stetig besser werden, wird der Algorithmus immer weiter trainiert. Hier kommt das sogenannte Supervised Machine Learning zum Einsatz, dessen Ziel es ist, der KI beizubringen, bestimmte Datensätze richtig zu interpretieren und zu klassifizieren, sodass sie möglichst präzise Voraussagen für die Zukunft treffen kann. Um dies zu gewährleisten, wird die Künstliche Intelligenz kontinuierlich mit Daten gefüttert, die sie dank zahlreicher Parameter korrekt zuordnen kann. Bezogen auf den bei der Cardisiographie verwendeten Algorithmus, bedeutet dies, dass er die gewonnenen Daten des Herzens richtig interpretiert, um eine möglichst exakte Voraussage bezüglich der Herzgesundheit der Patient:innen geben zu können. Bereits heute sind diese Voraussagen schon sehr präzise – und sie werden mithilfe des Supervised Machine Learnings im Laufe der Zeit immer exakter. Eine klinische Studie konnte belegen, dass die Sensitivität der Cardisiographie hinsichtlich der Erkennung koronarer Herzkrankheiten bereits bei 97 Prozent bei männlichen und 90 Prozent bei weiblichen Proband:innen liegt. (Die Sensitivität belegt, wie groß der Anteil der herzkranken Personen ist, die korrekt als solche identifiziert wurden). Zum Vergleich: Die Sensitivität eines Belastungs-EKGs liegt bei lediglich 50 Prozent, womit Patient:innen einem wesentlich höherem Risiko ausgesetzt sind, da die Chance ein Herzleiden nicht eindeutig zu erkennen wesentlich größer ist.
Der Vorteil beim Supervised Machine Learning, welches als Alternative zum Deep Learning gilt, liegt darin, dass die KI ausschließlich mit gezielten Daten gefüttert wird, wodurch die Voraussagen des Algorithmus nachvollziehbar und erklärbar bleiben. Nur auf diesem Weg können Mediziner:innen den Überblick und die Kontrolle behalten und ihren Patient:innen eine korrekte Diagnose und Behandlung bieten.
Im Gegensatz dazu wird die KI beim Deep Learning einer schlicht mit einer riesigen Datenmenge gespeist, was dazu führt, dass die Komplexität so enorm ansteigt, dass schlussendlich nicht mehr nachvollzogen und erklärt werden kann, wie die endgültigen Ergebnisse zustande kommen.
Herzvorsorge 2.0 – KI macht es möglich
In der KI liegt die Zukunft der Herzvorsorge. Sie löst viele der bisherigen Probleme und eröffnet ganz neue Möglichkeiten. Dank der dreidimensionalen Aufzeichnung und der Auswertung durch den Algorithmus können jetzt nicht nur strukturelle, sondern auch Durchblutungsstörungen des Herzens (sogenannte ischämische Herzkrankheiten) erkannt werden. Mit dem traditionellen EKG war dies nur bedingt oder erst in einem sehr fortgeschrittenem Krankheitsstadium möglich.
Mithilfe der Künstlichen Intelligenz wird zudem ein nie dagewesenes Level an Genauigkeit erreicht. Ähnlich präzise Werte konnten bis dato nur durch wesentlich risikoreichere, aufwendigere und kostenintensivere Methoden wie der Herzkatheteruntersuchung erzielt werden. Die Cardisiographie hingegen ist nicht-invasiv und somit für die Patient:innen absolut ungefährlich. Auf diesem Weg können Erkrankungen des Herzens dank KI wesentlich unkomplizierter, schneller und genauer identifiziert und gezielt behandelt werden, noch bevor sie ein lebensbedrohliches Stadium erreichen.
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