Rezept gegen Fachkräftemangel: Diversität und Inklusion

Die digitale Transformation und der IT-Fachkräftemangel bieten ungeahnte Chancen für Diversität und Inklusion. Das klingt erst einmal unlogisch. Aber wenn Unternehmen umdenken und einen Paradigmenwechsel im Recruiting vollziehen, kann das gelingen. Stellenausschreibungen und Bewerbungsprozesse müssen neu definiert und Inklusions-Programme integriert werden. Es gilt, Vielfalt, Gleichberechtigung und Barrierefreiheit nach vorne zu stellen.
Von   Marie Kanellopulos   |  Managing Partner   |  DONE!Berlin
25. Juni 2022

Das Thema Fachkräftemangel ist nicht neu, aber derzeit in aller Munde – besonders wenn es um IT-Spezialisten geht. Bereits Anfang des Jahres sprach der Branchenverband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche bitkom von 96.000 offenen IT-Jobs in Deutschland.[1] Dabei kostet jede unbesetzte Position Unternehmen viel Geld.[2] Aber woher soll die Vielzahl an gut ausgebildeten IT-Fachkräften mit passenden Universitätsabschlüssen oder Berufsausbildungen kommen? Ist es nicht an der Zeit, im Recruiting und Personalwesen umzudenken und innovative Ideen zur Besetzung offener Stellen zu entwickeln? Es fehlt ein Paradigmenwechsel, um dem IT-Fachkräftemangel zu begegnen.

Recruiting-Kriterien überdenken und neu definieren 

Viele Unternehmen bleiben bei Standardlösungen: Sie weiten ihr Resourcing zwar auf den internationalen Arbeitsmarkt aus, sprechen mit Ex-Mitarbeitenden, die in den letzten Jahren gekündigt haben, oder mit Kandidaten aus früheren Bewerbungsrunden, die nicht eingestellt wurden. Das sind durchaus wichtige Maßnahmen, um offene IT-Positionen zu besetzen. Doch sie werden nicht ausreichen.

Deshalb ist die Zeit gekommen, Stellenprofile zu überdenken: Müssen wirklich alle im Team klassische Qualifikationen wie ein abgeschlossenes Studium im Informatik-Bereich, Kenntnisse über diverse Software-Programme, Erfahrungen im Programmieren, Qualitätssicherung, Softwaretests, Datensicherheit oder -analyse mitbringen? Benötigt ein effizientes und effektives Tech-Team heute nicht noch andere Kompetenzen? Beispielsweise Projekt-, Produkt- oder Content-Management, User Experience, Service- oder Kundenberatung. Darüber hinaus brauchen ITler – neben den Hard Skills – ein offenes Mindset, Flexibilität, Anpassungs- und Teamfähigkeit, funktionsübergreifende, emotionale, interkulturelle und kommunikative Fähigkeiten, da sie durch die digitale Transformation zur Schnittstelle im Unternehmen geworden sind. In vielen Fällen leiten sie die Projekte. Das erfordert zusätzlich Führungskompetenzen.

Der IT-Fachkräftemangel ist die Chance für Unternehmen, jetzt diverse Teams aufzubauen: Wenn sie ihr Recruiting bereits auf eine internationale Ebene gebracht haben, sollten sie nicht nur im europäischen Ausland, sondern weltweit suchen. So können sie ihre Diversität in Bezug auf Nationalitäten und Kulturen steigern. Wenn sie sich mehr auf Positionen mit Anforderungen rund um Kundenberatung, Projekt- oder Produktmanagement konzentrieren, sprechen sie automatisch mehr Frauen an und heben die Gender Diversity in den Abteilungen.

Auch Quereinsteiger können ein Tech-Team bereichern – aus Branchen wie dem Verlagswesen, Journalismus oder der Kreativwirtschaft. Auch kann ein Perspektivwechsel in Richtung Soft-Skills hilfreich sein. Kandidaten mit diesen heute so wichtigen Eigenschaften sorgen für die Weiterentwicklung und Zukunftsfähigkeit des Teams. Denn wer sich auf Potentiale fokussiert, verhindert Schubladendenken. Und das schließt nicht aus, dass diese Bewerber nach der Einstellung mit der nötigen Fachexpertise aufgebaut werden. Das ist die bessere Alternative als Stellen unbesetzt zu lassen.

Diversity-Programme sollten gezielt Inklusion integrieren

Auch Menschen – beispielsweise mit neurodiversen Störungen wie Legasthenie, Autismus, ADHS und Tourette-Syndrom – stärken ein Team. Denn sie bringen oft unterschätzte Potentiale mit, wie Mustererkennung, Gedächtnisleistung oder Mathematik. Deshalb können gerade sie wichtige Impulsgeber sein, um für mehr Kreativität und kollektive Intelligenz im Team zu sorgen.

Um Menschen mit Behinderung einzustellen, müssen Unternehmen passende Rahmenbedingungen schaffen: Der Einstellungsprozess und die Job-Anforderungen sollten für sie geändert werden. Bei Kandidaten mit neurodiversen Störungen kann es nicht um soziale und kommunikative Kompetenzen gehen, sondern ausschließlich um ihr praktisches Fachwissen und ihre technischen Fähigkeiten. Darüber hinaus profitieren sie von einer reizarmen Arbeitsumgebung, einer klar, strukturierten Organisation und Kommunikation. Auch helfen Mentoren oder Coachs, die ihnen zur Integration an die Seite gestellt werden. Damit diese Kollegen sich mittel- und langfristig im Unternehmen wohlfühlen, ist eine Firmenkultur, die auf Respekt, Toleranz, Wertschätzung, gegenseitige Unterstützung und Verständnis beruht, eine Grundvoraussetzung.

Ein weiterer Schlüssel für einen barrierefreien Bewerbungsprozess, einer barrierefreien Karriereentwicklung und einem integrativen und sicheren Arbeitsumfeld sind die Führungskräfte. Denn sie sind maßgeblich für die Unternehmenskultur verantwortlich. Schulungen helfen hier sehr. Eine Möglichkeit ist das Unconscious Bias Training. Hier geht es darum, sogar unbewusste Vorurteile zu überwinden. So werden diskriminierende Verhaltensweisen am Arbeitsplatz beseitigt. Bei fehlender Inhouse-Expertise sind Unternehmen auch gut beraten, eine Partnerschaft mit gemeinnützigen Organisationen, die tiefgreifende Erfahrungen mit Menschen mit Behinderung gesammelt haben, einzugehen.

Diversity & Inclusion Manager und Scorecards

Um die Transformation in Richtung Vielfalt, Gleichberechtigung und Barrierefreiheit voranzutreiben, kann die Einstellung eines Diversity & Inclusion Managers sinnvoll sein. Denn sie übernehmen aktiv Verantwortung für dieses Thema: analysieren, hören zu, beraten und bringen sensibel einen Prozess im Unternehmen in Gang. Dazu gehören auch Diversity & Inclusion-Grundlagen zum Status quo des Unternehmens und die Identifizierung von Handlungsschwerpunkten, wie Trainings und Coaching. Sie stoßen aktiv Diskussionen an. Das ist das Wichtigste überhaupt. Den Dialog zwischen Mitarbeitenden anregen und ihn nicht abbrechen zu lassen. Damit schaffen sie – neben den Führungskräften – ein Bewusstsein, räumen mit Vorurteilen auf und fördern ein Umdenken.

Auch helfen Scorecards dabei, den Diversity & Inclusion-Status in den IT-Abteilungen und im gesamten Unternehmen jederzeit zu überprüfen. Einerseits können dadurch quantitative Ziele verfolgt werden, zum Beispiel wie viele Frauen, oder andere Minderheiten eingestellt, gehalten und befördert worden sind; andererseits können dadurch auch qualitativen Aspekte, wie Mentoring und Schulungen, kontrolliert werden.

Die Zeit zum Umdenken ist gekommen

Die Herausforderungen von Unternehmen, offene IT-Stellen zu besetzen, sind individuell sehr unterschiedlich. Doch letztlich müssen sie alle nach innovativen Lösungen suchen, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Diversität und Inklusion im Recruiting-Prozess, in der Karriereentwicklung und in der Firmenkultur fest zu verankern, sind deshalb keine Option mehr, sondern ein Muss geworden. Darüber hinaus liegt der künftige Erfolg der Technologiebranche darin, unterschiedliche Erfahrungen und Expertise zusammenzubringen. Denn solche Maßnahmen sorgen für mehr Kreativität und Innovationskraft innerhalb der Belegschaft und machen Unternehmen wettbewerbsfähiger. Auch wirken sich Diversity- & Inclusion-Programme positiv auf das Employer Branding aus, denn Unternehmen werden so als viel sympathischer wahrgenommen.

[1] Quelle bitkom, Presseinformation „IT-Fachkräftelücke wird grösser: 96.000 offene Jobs“, 03.01.2022: https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/IT-Fachkraefteluecke-wird-groesser

[2] Quelle Wirtschaftswoche „So teuer ist der Fachkräftemangel für Deutschlands Firmen“,  03.05.2022: https://www.wiwo.de/erfolg/beruf/neue-berechnungen-so-teuer-ist-der-fachkraeftemangel-fuer-deutschlands-firmen/28290688.html

Marie Kanellopulos ist Managing Partnerin bei DONE!Berlin, einer Personalberatung für Tech-Unternehmen. Als Beraterin skaliert sie Personalabteilungen, führt Prozesse ein und berät das C-Level Management. Zu den Kunden zählen airbnb Europe, N26, Volocopter, Knauf Digital, Gorillas, H&M und viele mehr.

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