Perspektiven und Potentiale Künstlicher Intelligenz in der industriellen Arbeit

Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Industrie wird häufig emotional und einseitig diskutiert. Während viele Unternehmen optimistisch auf die Technologie blicken und in ihr beispielsweise ein enormes Potential für beschleunigte und optimierte Prozesse sowie verbesserte Arbeitsbedingungen für ihre Mitarbeitenden sehen, sind insbesondere auf der Arbeitnehmerseite viele Menschen skeptisch bis verunsichert, was die künftigen Einsatzmöglichkeiten angeht.
Von   Angelika C. Bullinger-Hoffmann   |  Professur Arbeitswissenschaft und Innovationsmanagement   |  Technische Universität Chemnitz
28. Oktober 2024

Perspektiven und Potentiale Künstlicher Intelligenz in der industriellen Arbeit

 

Die scheinbare Unbeherrschbarkeit sowie die mögliche Übernahme von Entscheidungen durch KI bereiten vielen Mitarbeitenden Sorgen und eröffnen neue Fragen für Forschung, Politik und private Akteure: Wie können Unternehmen KI in die industrielle Arbeit integrieren? In welchem Entwicklungsschritt steht diese Technologie aktuell in Deutschland? Wie wirkt sich KI aktuell und absehbar in Zukunft auf die Mitarbeitenden in Industrieunternehmen aus? Und wo liegen Chancen und Gestaltungspotentiale für Unternehmen mit dieser Technologie? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigen sich das Fraunhofer IEM und das Fraunhofer IML in der aktuellen Expertise „Künstliche Intelligenz und industrielle Arbeit – Perspektiven und Gestaltungsoptionen“. Herausgeber ist der Forschungsbeirat Industrie 4.0. Dabei wird konkret die Integration von KI in die industrielle Arbeit untersucht.

Die Expertise befasst sich mit den allgemeinen Grundlagen von Industrie 4.0 und KI, gibt den Stand der Technik wieder und beschreibt Anwendungsfälle von KI in der Industrie in der Instandhaltung, der Logistik, der Qualitätskontrolle oder auch der Produktentwicklung. Zudem befasst sich die Expertise mit den Auswirkungen dieser Technologien auf Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitnehmer. Außerdem werden verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten und Entwicklungsansätze für die Nutzung von KI in der industriellen Arbeit diskutiert. Unter anderem gehören dazu die Anpassung von Arbeitsumgebungen an KI sowie entsprechende Schulungen für die Mitarbeitenden. Verschiedene Jobprofile im Produktionsumfeld werden im Hinblick auf die Auswirkungen von KI analysiert, einschließlich möglicher Veränderungen in der Arbeitsteilung zwischen Menschen und Maschine. Dazu wurden Experteninterviews und Workshops durchgeführt, um den aktuellen Stand der Technik, den Einsatz von KI und die Auswirkungen auf die Beschäftigungsbereiche zu analysieren. Die Expertise zielt darauf ab, Unternehmen und politischen Entscheidungstragenden eine fundierte Grundlage zu bieten, um die Implementierung von KI-Technologien in einer Weise zu gestalten, die sowohl technisch innovativ als auch sozial verantwortlich ist. Sie betont die Notwendigkeit, KI-Systeme so zu gestalten, dass sie den Menschen unterstützen und ergänzen, anstatt ihn zu ersetzen. Vor allem wird die Notwendigkeit betont die industrielle Arbeit attraktiv zu gestalten. Außerdem werden Herausforderungen sowie Chancen der Nutzung von KI skizziert.

Ein besonderer Fokus liegt darauf, dass KI die Arbeit bereichern kann, wenn sie menschzentriert entwickelt wird. In der Diskussion über KI am Arbeitsplatz existieren oft unterschiedliche Standpunkte. Es werden mitunter auch Schreckensszenarien von einer Zukunft beschrieben, in der Industriemitarbeitende als eine Art Cyborgs in der Werkhalle operieren. Der Kern der KI-Debatte sollte jedoch stärker über die Art der Arbeitstätigkeiten geführt werden. Die Auswirkungen von KI auf die Arbeitsabläufe werden dabei in drei Szenarien eingeteilt: Substitution, Polarisierung und Anreicherung. Substitution bezieht sich auf das Ersetzen menschlicher Arbeit durch KI, etwa bei standardisierten Tätigkeiten. Polarisierung beschreibt das Szenario, in dem mittlere Qualifizierungsgruppen durch die Automatisierung an Bedeutung verlieren und somit einerseits Tätigkeiten mit hohem Qualifikationsniveau und andererseits nicht automatisierte Tätigen mit niedrigem Qualifikationsniveau verbleiben. Dies könnte negative Anreize für hochqualifizierte Mitarbeitende erzeugen, Erfahrungen und Kenntnisse zu teilen und damit ihren Informationsvorteil aufzugeben. Auch für die weniger qualifizierten Mitarbeitenden können etwa Lohnspannungen entstehen, indem sie in der Folge anspruchsvollere Aufgaben erfüllen und dennoch weiter im Rahmen ihrer vorherigen Aufgaben bezahlt werden. Generell enthält eine Polarisierung die Gefahr, Ungleichheiten und Unzufriedenheit in Unternehmen zu verstärken. In der industriellen Produktion spielt außerdem die Anreicherung bestehender Tätigkeiten eine Rolle. Ein Anwendungsgebiet eines KI-Programms kann dabei beispielsweise die Entwicklung von Handlungsoptionen auf Basis zugrundeliegender Daten sein, die dann wiederum als Grundlage für Mitarbeitende dienen, eine der Optionen auszuwählen. Für diesen Abwägungsprozess ist dann weiterhin das erfahrungsbasiertes Wissen der Mitarbeitenden gefragt. Diese endgültige Entscheidungskompetenz muss dabei beim Menschen liegen, damit das Programm nicht als einschränkend, sondern als helfend und unterstützend genutzt wird.

 

Handlungsoptionen und KI-Stellschrauben für Industrieunternehmen

 

Generell ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass Unternehmen die Entwicklung und den Einsatz von KI von Anfang an mit den Mitarbeitenden diskutieren, um Polarisierung und Ungleichheit zu vermeiden. Die Einführung von KI-Tools erfordert eine iterative Anpassung und den Aufbau einer geeigneten Datenbasis. Konkret ist außerdem zu berücksichtigen, dass durch den Einsatz von KI auch vollständig neue Arbeit und Jobprofile entstehen können, die vorher oder aktuell in der Industrie eine untergeordnete oder gar nicht existente Rolle gespielt haben. Beispielhaft dafür sind etwa Fachkräfte für den Aufbau oder die Betreuung von Data-Analytics-Plattformen oder kollaborativen KI-Robotern. Auch dies ist ein Ansatzpunkt für eine menschzentrierte Transformation. In diesem Zusammenhang ist an Schulen und anderen Ausbildungsstätten eine Priorisierung dieser neuen Jobprofile sowie die Schaffung von Weiterbildungsmöglichkeiten zentral, um sowohl wirtschaftlich erfolgreich als auch in Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmern die Transformation zu gestalten. Eine dreijährige Ausbildungsdauer, wie in Bachelorstudiengängen oder Ausbildungen üblich, wird als zu langsam und schwerfällig betrachtet, um mit der hohen Dynamik umzugehen und dem Bedarf der Industrieunternehmen zu begegnen. Eine Entwicklung neuer innovativer Formate, auch und insbesondere für Führungskräfte, ist deshalb notwendig, um in fokussierten Modulen schnell neue Kompetenzen aufzubauen. Eine solche Anpassung ist nicht nur für die globale Wettbewerbsfähigkeit notwendig, sondern auch, um einen Rückgriff auf standardisierte KI-Instrumente zu vermeiden. Solche standardisierten Instrumente bieten andernfalls das Risiko, mittelfristig zu einer technologischen Abhängigkeit mittelständischer Unternehmen zu führen.

Am Anfang einer erfolgreichen KI-Integration steht auch für mittelständische Industrieunternehmen die Qualität der Trainingsdaten, ähnlich wie bei generativen Large Language Models, wie ChatGPT. Für KMU bedeutet das, dass eine qualitative Generierung und ein entsprechendes Management von Daten erfolgen müssen, bevor KI-Anwendungen in die Arbeitsabläufe integriert werden können. Eine weit fortgeschrittene Digitalisierung in Unternehmen erleichtert daher wenig überraschend die erfolgreiche KI-Implementation. Da dennoch in der Regel noch wenig Kompetenzen zur sinnvollen Nutzung von KI in den Unternehmen vorhanden ist, ist eine regelmäßige Überprüfung und Verbesserung der KI-Bedarfe und -Einsätze als fortlaufender Prozess sinnvoll. Ein enger Austausch zwischen Unternehmen, Ausbildungsstätten und Forschungseinrichtungen ist dabei entscheidend, um gemeinsam Fortschritte zu erzielen.

 

Ergebnisse der Expertise

 

Die Resultate der Untersuchung zeigen auf, dass die meisten betrachteten Unternehmen sich noch in einem frühen Stadium der Einführung von KI befinden. Wenn die Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung mit der Anwendung und Integration in Industrieunternehmen verglichen wird, fällt daher eine große Diskrepanz auf. Allerdings geben die befragten Akteure an, dass viele Tätigkeiten ihrer Erwartung nach in Zukunft vollständig von KI-Programmen übernommen werden. Dies betrifft einen großen Teil der Industriejobs. Dennoch wird nicht von einem vollständigen Ersetzen der Mitarbeitenden durch KI ausgegangen, sondern vielmehr von einer Zusammenarbeit zwischen Mitarbeitenden und KI, was als großer Vorteil für die Produktivität betrachtet wird. Diese Annahmen stehen jedoch unter dem Vorbehalt, dass aufgrund der bisher geringen Integration von KI in der Industrie keine gesicherten Aussagen über die Effekte auf die Beschäftigung getroffen werden können. Trotz eingeschränkter Aussagekraft besteht eine Tendenz dazu, dass Tätigkeiten in einem mittleren Qualifikationsbereichen eher wegfallen, während Tätigkeiten, die eine hohe oder niedrige Qualifikation erfordern, bestehen bleiben. Auf diesen Annahmen basierend wurden Maßnahmen für eine anzustrebende Gestaltung der Arbeit in verschiedenen Handlungsfeldern und Gestaltungsmöglichkeiten entwickelt. Für den Erfolg ist, wie bereits angedeutet, elementar, Beschäftigte früh und intensiv in den Prozess der Einführung von KI zu inkludieren. Somit kann Akzeptanz geschaffen werden und außerdem das elementare betriebliche erfahrungsbasierte Wissen der Mitarbeitenden genutzt werden. Andere Handlungsfelder stellen etwa die Ausarbeitung konkreter KI-Strategien, die Verfügbarkeit wichtiger Daten, eine entsprechende Kultur sowie der Aufbau eigener Kompetenzen für die Nutzung der KI dar. Die Expertise gibt Unternehmen damit Orientierung für eine sinnvolle Einführung von KI-Anwendung, die die Mitarbeitenden in den Mittelpunkt stellt und mitnimmt. Außerdem hilft das Papier dabei die oft hochemotional geführte KI-Debatte zu versachlichen und konstruktiv weiterzuentwickeln.

 

Angelika C. Bullinger-Hoffmann ist Professorin für Arbeitswissenschaft und Innovationsmanagement an der TU Chemnitz und Mitglied im Forschungsbeirat Industrie 4.0. Sie forscht zur Mensch-Technik-Interaktion. Sie hat an FAU Erlangen-Nürnberg und an der University of Pennsylvania, PA, habilitiert.

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