Kundeninteraktionen als oberste Priorität: Der Shift vom Fahrzeugverkauf zum Service-Ökosystem

Von   Matthias von Alten   |  VP Strategy Transportation & Mobility   |  Publicis Sapient
1. März 2022

Das Wesen der Automobilindustrie hat sich dramatisch verändert. Autofahrer verlangen heute ein viel höheres Maß an Flexibilität und Komfort als früher. Die Marke und das Fahrzeug selbst werden immer unwichtiger, denn die Loyalität der Kunden wird durch jede einzelne Interaktion gewonnen oder verloren. Die Verbraucher sind unversöhnlich, wenn es um schlechte Kundenerfahrungen geht. So gaben laut einer Studie [1] 72 Prozent an, dass sie nach nur einer schlechten Experience mit großer Wahrscheinlichkeit den Anbieter wechseln würden.

Neue Player erhöhen den Druck

Der Markt wird immer komplexer. Das Angebot der Automobilhersteller umfasst heute nicht nur den Verkauf von Neu- oder Gebrauchtfahrzeugen, sondern auch diverse Mobilitätsdienstleistungen, für die häufig Partnerschaften mit Drittplattformen eingegangen werden. Gleichzeitig treten neue Akteure wie die Tech-Giganten Google, Amazon oder Baidu in die Wertschöpfungskette ein. Honda [2] beispielsweise nutzt Googles eingebettetes Betriebssystem Android Automotive OS, das den sprachgesteuerten Assistenten, Google Maps und andere für Fahrzeuge zugelassene Android-Apps enthält. Auch die diesjährige Tech-Messe CES 2022 zeigte zahlreiche Innovationen im Bereich der Mobilität. So präsentierte der japanische Elektronikriese Sony sein zweites Konzeptauto, den Vision S EV, und deutete damit an, dass man mit der Tochtergesellschaft Sony Mobility künftig selbst Fahrzeuge entwickeln und verkaufen wolle. Die Bosch-Gruppe, bekannt für ihre Elektrowerkzeuge und Haushaltsgeräte, investiert jedes Jahr drei Milliarden Euro [3] in die Entwicklung neuer Codes für den Automobilsektor. Auf der Konferenz stellte das Unternehmen seine jüngsten Softwareentwicklungen vor, die von vielen Fahrzeugherstellern für Bordsteuergeräte genutzt werden.

Interaktionsmanagement im Visier

Für die Differenzierung vom Wettbewerb und Kundenbindung sind die Interaktionen mit den Verbrauchern von elementarerBedeutung. Dies gilt nicht nur für den Fahrzeugverkauf, sondern für das gesamte Service-Ökosystem rund um das Thema Mobilität. Automobilhersteller müssen daher nicht nur die Driver Experience, sondern alle Kontaktpunkte und Kundenerlebnisse mit ihrer Marke fokussieren. Diese umfassen die physische wie digitale Ebene der Customer Journey, sei es im Autohaus, im Callcenter, vor, während, oder nach dem Fahrzeugverkauf. Im digitalen Bereich sind es Kanäle wie die Website und E-Commerce-Plattform sowie Interaktionen via Live-Chat, E-Mail oder Live-Video, die ausschlaggebend sind. Auch die sozialenMedien haben großen Einfluss darauf, wie Kunden die Interaktionen mit einem Produkt oder Service wahrnehmen. Diese Wahrnehmung wiederum beeinflusst die Meinung bezüglich der Marke.

Customer Lifetime Value als Entscheidungsgröße

Um ein positives Markengefühl zu gewährleisten, müssen Autohersteller den sich rasant wandelnden Kundenerwartungen gerecht werden. Es ist dafür unabdingbar, sich vom Fokus auf die reine Vorverkaufs- und Verkaufsphase zu verabschieden, und den Customer Lifetime Value in den Mittelpunkt zu rücken – also die gesamte Besitzdauer des Kunden über alle Kanäle, sowohl persönlich als auch digital.

Andere Branchen sind dem Automobilsektor weit voraus, wenn es darum geht, sich auf den Customer Lifetime Value zu konzentrieren. So ist beispielsweise die Kundenbindung bei Amazon enorm hoch. Prime-Mitglieder in den USA haben eine Bindungsrate von 93 Prozent [4] nach dem ersten Jahr und 98 Prozent nach zwei Jahren. Wie hat Amazon das erreicht?

Es gibt viele Aspekte bezüglich des Interface, der Customer Experience und des Marketings von Amazon, an denen sich Automobilhersteller orientieren können, um ihre Kundenbindung zu steigern und nachhaltig zu verbessern. Amazon erzeugt bei den Verbrauchern das Gefühl, etwas zu verpassen (z.B. Prime Day), und bietet kostenlosen Versand und Vergünstigungen für treue Kunden. Auf diesem Weg ist es dem E-Commerce-Giganten gelungen, sensible Berührungspunkte zu nutzen, die eine hohe Kundenbindungsrate begünstigen. Best Practices wie Amazon verstärken den Veränderungsdruck in der Automobilbranche. Die Kunden erwarten von Autoherstellern ein ähnlich komfortables Angebot, Services und Experiences, wie man sie aus anderen Bereichen gewohnt ist.

OEMs (Original Equipment Manufacturers) müssen die Zukunft der Mobilität neu denken: Hyundai [5] beispielsweise entwirft eine Customer Experience Vision für Elektrofahrzeuge, die mehr als nur Mittel zum Zweck sein sollen, um Menschen von A nach B zu bringen. Es geht dem Unternehmen darum, das volle Potenzial der Fahrtzeit zu erschließen und den Reisenden die Möglichkeit zu geben, mehr zu tun, als nur hinter dem Lenkrad zu sitzen – beispielsweise die Umgebung zu erkunden oder einzukaufen. Man setzt dabei auf neueste Technologien und intelligentes modulares Design, damit Fahrer und Passagiere beim Vorbeifahren an Sehenswürdigkeiten oder Restaurants mit relevanten Informationen versorgt werden.

Services als mehrwertstiftende Interaktionsgelegenheiten

Das Wachstum des Automobilmarktes hat sich verlangsamt und der Konkurrenzkampf um die Kunden wird härter. Die Hersteller investieren massiv in fortschrittliche Lösungen wie Kundendatenplattformen, CRM-Systeme, Websites, Apps, Data Lakes und maschinelles Lernen. Aber wie kann man sich als Marke in Zukunft von der Konkurrenz abheben?

Services bedingen Interaktionen und bergen damit große Chancen, Kundenloyalität zu fördern. Während es in Vergangenheit bei den Services meist nur um dem After-Sales-Bereich ging, werden in Zukunft Mobilitätsdienste, Payment und Non-Payment Services sowie Connected Devices eine wichtige Rolle spielen. OEMs müssen Dienstleistungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette gestalten, sowohl vor, während und nach dem Kauf oder der Nutzung, gebührenpflichtig oder kostenfrei. Eserfordert eine integrierte Omnichannel-Serviceperspektive, um kontinuierlich Wertschöpfung zu schaffen. Investitionen in hochwertige, mehrwertstiftende Dienstleistungen können den Herstellern dabei helfen, nachhaltige Bindungen aufzubauen, neueUmsatzmöglichkeiten zu generieren und wichtige Kundendaten zu erfassen.

Autohäuser waren bisher die wertvollsten Kundenkontaktpunkte. Laut Automotive Customer Report 2021 [6]bevorzugen zwei Drittel der Befragten nach wie vor den Kauf beim Händler. Wartungs- und Reparaturdienste verleihen dem Handel eine zusätzliche, zentrale Rolle. Doch das ändert sich. Der Kauf über digitale Kanäle [7] oder direkt beim Hersteller ist auf dem Vormarsch. Virtuelle Probefahrten haben das Potenzial, reale zu ersetzen. Jeder Dritte wäre sogar dazu bereit, ein Auto ohne vorherige Testfahrt zu kaufen.

Das Angebot wertschöpfender Dienstleistungen bietet auch den Autohäusern eine einmalige Chance. Einerseits wächst zwar dieNachfrage nach Online-Services und direkten Interaktionen mit den Herstellern. Anderseits haben Händler immer noch dieunschätzbare Möglichkeit, „persönliche Gespräche“ zu führen und die Online- wie Offline-Welt zu verbinden. Sie können tiefes Kundenverständnis entwickeln und damit enge Bindungen schaffen.

Schritte zum Aufbau eines treuen Kundenstamms

Da die Anzahl an Interaktionen steigt, wird es immer wichtiger, die Kunden im Ökosystem der eigenen Marke zu halten. Denn esist wahrscheinlich, dass sich Kunden abwenden, wenn sie bei einer anderen Marke bequemere, schnellere und bessere Interaktionen erleben. OEMs müssen kontinuierlich innovieren und reagieren, um Produkte und Dienstleistungen anzubieten, die den Ansprüchen ihrer Kunden gerecht werden.

  • Der Fokus auf den Customer Lifetime Value. Der Customer Lifetime Value ist eine Kennzahl [8], die den Gesamtumsatz angibt, den ein Unternehmen während der holistischen Geschäftsbeziehung mit einem Kunden erwarten kann. Genau hier müssen OEMs ansetzen und investieren. Amazon [9] forciert den Customer Lifetime Value durch die Segmentierung seiner Kunden, das Management der Kosten pro Akquisition und Cross-Selling. Tatsächlich schreibt Amazon bis zu 35 Prozent seines Umsatzes dem Cross-Selling zu, sowohl durch die Funktionen „Häufig zusammen gekauft“ als auch „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, haben auch gekauft“.
  • Der Aufbau eines Ökosystems rund um den Kunden. Ein vernetztes Ökosystem kann einwichtiges Differenzierungsmerkmal für Fahrzeughersteller sein, denn Autos sind heute Connected Devices wie Smartphones oder Tablets. OEMs müssen die Kundeninteraktionen dringend vertiefen und ausbauen, um die Beziehungen zu stärken und die Loyalität gegenüber ihrer Marke zu erhöhen.
  • Die Gewährleistung einer komfortablen Customer Journey über alle Kanäle hinweg. Einst lineare Customer Journeys können heute durch Always-on-Targeting-Lösungen ersetzt werden. Um ein reibungsloses Kundenerlebnis zu garantieren, stehen OEMs zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung: die Personalisierung der User Experience auf einer Website, die individualisierte Ansprache wiederkehrender Kunden, ein einfacher und unkomplizierter Checkout-Prozess oder die relevante Kontaktaufnahme abseits der Plattform.
  • Die Nutzung von Daten für die proaktive Gestaltung individueller Kundenangebote. Durch aktives „Zuhören“können OEMs kontinuierlich von ihren Kunden lernen und bessere Customer Experiences schaffen. Um individuelle Angebote gestalten zu können, sind jedoch einige Kernelemente [10] unerlässlich: Daten von guter Qualität, ein engagiertes Analyseteam, Verbraucherforschung sowie Datenbank- und Segmentmarketing.

Fazit

Die Automobilindustrie steht unter massivem Druck und muss aufholen, wenn es darum geht, Kundenerlebnisse, Vertrauen und Treue zu fördern. OEMs müssen die sich rasant wandelnden Kundenerwartungen über die gesamte Customer Ownership Journey hinweg im Blick haben. Um auch in Zukunft profitables Wachstum zu erzielen, gilt es das Interaktionsmanagement kontinuierlich zu optimieren und die Loyalität der Kunden zu stärken. Der Fokus auf die Vor- und Verkaufsphase reicht nicht mehr aus. Fahrzeughersteller müssen in Ökosystemen denken und über den gesamten Kundenlebenszyklus mehrwertstiftende Services sowie reibungslose Interaktionen bieten.

Quellen und Referenzen

[1] https://www.destinationcrm.com/Articles/CRM-News/CRM-Featured-Articles/72-Percent-of-Consumers-Will-Switch-Brands-After-One-Bad-Experience-Study-Finds-135838.aspx#:~:text=December%2019%2C%202019-,72%20Percent%20of%20Consumers%20Will%20Switch,One%20Bad%20Experience%2C%20Study%20Finds&text=The%20research%20also%20found%20that,even%20establish%20contact%20with%20companies.
[2] https://www.theverge.com/2021/9/23/22688309/honda-google-android-auto-assistant-driving-mode-gas
[3] https://www.breakinglatest.news/entertainment/ces-2022-the-car-according-to-bosch-and-the-digital-sun-visor/
[4] https://www.getbeamer.com/blog/how-amazon-maintains-over-90-customer-retention-year-over-year
[5] https://www.wired.co.uk/bc/article/how-hyundai-plans-to-enrich-peoples-lives-by-providing-a-customized-mobility-experience
[6] https://www.sitecore.com/de-de/landing/xc/2021/automotive-customer-report-2021
[7] https://www.publicissapient.com/insights/its-pedal-to-the-metal-for-automotive-ecommerce
[8] https://blog.hubspot.com/service/how-to-calculate-customer-lifetime-value
[9] https://insights.nozzle.ai/customer-lifetime-value-on-amazon
[10] https://uk.business.trustpilot.com/reviews/learn-from-customers/what-are-consumer-insights-and-how-do-i-use-them

Matthias von Alten verantwortet bei Publicis Sapient die globalen Management-Consulting-Aktivitäten für die Automobil- und Mobilitätskunden des Beratungsunternehmens. Der Fokus seiner Arbeit liegt auf der Identifikation und Transformation von kundenzentrierten Geschäftsfeldern.

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