Der Mensch zuerst

Von   Uwe Walter   |  Storytelling- und Change-Experte   |  waltermedia
15. Juni 2021

Die digitale Welt hat uns neue Möglichkeiten eröffnet, miteinander in Kontakt zu treten. Asynchron, unverbindlich und demokratischer. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Damen im Vorzimmer entscheiden, wer durchgestellt wird. Heute reicht das Premiumabo bei LinkedIn und schon kann ich anschreiben, wen ich will.

Was sich erst einmal anhört wie paradiesische Zustände, ist bei näherem Hinsehen eine Einladung zur Zeitverkürzung. Ganze Phasen der Geschäftsanbahnung fallen unter den Tisch und damit auch das Wichtigste, was gute Bezie-hungen ausmacht.

Der bloße digitale Zugriff kann zwischenmenschliches Vertrauen nicht ersetzen. Getippte Buchstaben sind nicht das Gleiche wie Gespräche, in denen wir Antennen für unser Gegenüber entwickeln. In denen wir mal einen Schritt vorpreschen, um dann zu merken, dass der andere nicht reagiert. Deshalb wieder warten, ihn reden lassen, ihm zuhören und plötzlich verstehen, warum unser Gesprächspartner eben noch verhalten reagiert hat.

Mitgefühl können wir nur im menschlichen Miteinander entwickeln. Im Austausch, im gemeinsamen Erleben und Betrachten von Situationen und Herausforderungen. Erst wenn sich zwei Menschen wirklich kennen, ihre Bedürfnisse und Historie füreinander greifbar werden, macht es Sinn, über gemeinsame Pläne und Geschäfte zu sprechen.

So schließt der Begriff „Kaltakquise“ einen Beziehungs-mangel mit ein. Wer sich kalt begegnet, ist vorher nicht warm miteinander geworden. Der Flyer eines Politikers im Briefkasten wird nie die gleiche Wirkung haben, wie eine Tür-zu-Tür-Offensive, in der der Politiker sich persönlich vorstellt und sich Fragen öffnet. Sich in die Augen zu schauen, wird nie altmodisch.

Anstatt also gleich im dritten Satz Leistungen anzubieten oder auf LinkedIn vorgefertigte Massenmails zu schicken, sollten wir uns fragen: Wie baue ich eine Beziehung zu einem Menschen auf? Die Antwort ist immer gleich: Indem ich mich für ihn interessiere und ihm zuhöre. Mir Zeit nehme für diesen Menschen, seine Geschichte und sein Wesen.

Nur so entsteht eine Chance für mehr. Für Gespräche, verbindliche Verabredungen, gegenseitige Besuche und berührende Zeiten miteinander. Solche tragfähigen Beziehungen können auch in Aufträgen münden. Wer Weltanschauungen teilt, kann auch gemeinsame Geschäfts-ideen entwickeln, die dann auf sicherem Boden stehen. Sales-Funnel und geführte Customer Journeys sind sicher eine zeitgemäße Ergänzung, doch nichts schlägt die echte Verbindung zwischen Menschen. Ein Gedanke, der sich auch auf Teams ausweiten lässt.

Seit fast 20 Jahren leite ich Workshops. Abends vor der Veranstaltung treffen wir uns mit der gesamten Teilneh-mergruppe zum Abendessen. Wir tauschen uns aus und erzählen die echten, bewegenden Geschichten, die uns zu den Menschen gemacht haben, die wir heute sind. So können wir ein Gefühl für unser Sein entwickeln und am nächsten Morgen – auch fachlich – auf einer ganz anderen Ebene starten. Die nächsten Tage laufen in einem tiefen Vertrauen, weil sich die Menschen wirklich begegnet sind. Sie haben die Verletzlichkeit, die Werte und die Emotionen des anderen kennen- und respektieren gelernt. So entsteht Kreativität.

Erfolg kommt, wenn Menschen ein echtes Team sind. Dazu brauchen sie Zeit, sich zu erzählen und sich zu stützen. Beziehung geht vor Inhalt. Der Rest klappt dann schon.

ist Storytelling- und Change-Experte für Medien- und Industrieunternehmen. Er berät so unterschiedliche Kunden wie YouTube-Stars, Start-ups, Blogger, Verlage, Radio- und Fernsehsender sowie Filmproduktionen. Seine Expertise: Wie generiere ich Reichweite durch zukunftssicheres Erzählen?

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