Große Sprachmodelle – Wie Medizin und Pflege von KI profitieren

Im Krankenhaus, in der Arztpraxis, im Forschungslabor – die Einführung intelligenter Sprachassistenten, die auf Künstlicher Intelligenz (KI) basieren, eröffnen im Gesundheitswesen zukunftsweisende Möglichkeiten. Sowohl Patientinnen und Patienten als auch Fachkräfte können von den sogenannten großen Sprachmodellen, profitieren, die zum Beispiel auch ChatGPT, Bard und LlaMA zugrunde liegen. Vor allem die Auswertung großer Datenmengen bietet in Medizin und Pharmaforschung bedeutsame Potenziale in verschiedenen Einsatzfeldern. Allerdings sind vor einem breiten Einsatz der neuen Sprachassistenten noch einige Hürden zu überwinden.  
Von   Thomas Schmidt   |  Geschäftsstellenleiter   |  acatech
4. August 2023

Künstliche Intelligenz ist keine Zukunftsmusik mehr. Die Technologie steckt bereits in vielen Anwendungen, die wir tagtäglich nutzen – sei es im Navigationsgerät, in der Übersetzungs-App oder in der Empfehlungsliste beim Musik-Streaming. Auch in der Medizin und Pharmaforschung ist Künstliche Intelligenz nicht mehr wegzudenken. So kommt KI zum Beispiel heute schon bei der Auswertung radiologischer Bilder zum Einsatz. Grundsätzlich gilt: KI ist ein Werkzeug, welches hilft, in kurzer Zeit große Datenmengen auszuwerten, die der Mensch nicht so schnell erfassen könnte. Das ist gerade in der Medizin von Vorteil. In der Bildgebung kann ein KI-System zum Beispiel einen bösartigen Tumor erkennen, der für das menschliche Auge so rasch nicht zu identifizieren wäre. Vor allem die Zukunft der personalisierten Medizin ist ohne Künstliche Intelligenz kaum denkbar. Jeder Mensch ist einzigartig und so auch seine Krankheitsverläufe. Auf die vielfältigen Konstellationen an Patientendaten eine jeweils individuell optimierte Therapieantwort zu finden, wird ab einer bestimmten Menge an Datenpunkten den KI-Einsatz notwendig machen.

„Große Sprachmodelle versprechen mächtige Lösungen für Wirtschaft und Gesellschaft“

Neue Dialogsysteme wie ChatGPT oder Bard nutzen große Sprachmodelle und sind ein Meilenstein in der Entwicklung der KI: Diese neuartigen Modelle gehen schöpferisch mit menschlicher Sprache um, von der sie im Training sehr viel gesehen haben. Sie verfassen eigene Texte und ihre Werke sind denen von Menschen häufig zum Verwechseln ähnlich – oder sogar besser.

Große Sprachmodelle wie GPT4 in ChatGPT versprechen mächtige Lösungen für Wirtschaft und Gesellschaft. Ihre Funktionen reichen vom Verstehen, Verfassen und Verarbeiten bis hin zum Übersetzen von Sprache und bilden daher den Kern vielfältiger Anwendungen. Zudem heben sie die Datenanalyse auf eine neue Ebene, denn sie können gigantische Mengen an unstrukturierten Daten zum Training nutzen. Im medizinischen Bereich liegt die Hoffnung darin, schnell und weltweit neueste wissenschaftliche Studien auswerten und mit Behandlungsdaten abgleichen zu können. Vortrainierte große Sprachmodelle haben darüber hinaus den Vorteil, dass sie sich für ganz unterschiedliche Zwecke anpassen lassen. Sie können auch die Sprachen des Lebens, etwa Gensequenzen oder Proteinfaltungen, analysieren. Auf diese Weise können neue Wirkstoffe und Therapiemöglichkeiten entdeckt, entwickelt und eine personalisierte Behandlung ermöglicht werden. Bevor Sprachmodelle aber breit in einer evidenzbasierten Medizin eingesetzt werden, müssen noch Probleme gelöst werden – zuallererst das Erfinden von Quellen und Fakten, die nicht existieren, dem sogenannten Halluzinieren. Denn diese kreative Eigenschaft, die beim Schreiben von Gedichten oder Drehbüchern einen Vorteil darstellt, wäre im Kontext der Gesundheit höchstbedenklich: Da die generierten Texte den Eindruck von Professionalität erwecken, ist der halluzinierte Fehler für Menschen noch schwerer zu erkennen. Unkontrolliertes Halluzinieren würde somit nicht nur die Belastung von Fachkräften erhöhen, im schlimmsten Fall könnten sogar Fehler in der Behandlungsempfehlung folgen. Das Beispiel zeigt, wie wichtig auch die KI-Sicherheitsforschung ist, damit die enormen Potenziale für Patientinnen, Patienten und Fachkräfte zuverlässig genutzt werden können.

Mitglieder der Arbeitsgruppe Technologische Wegbereiter und Data Science der Plattform Lernende Systeme haben ein Whitepaper mit dem Titel „Große Sprachmodelle – Grundlagen, Potenziale und Herausforderungen für die Forschung“ zu technischen Herausforderungen und offenen Forschungsfragen bei Sprachmodellen verfasst. Sie betonen, dass leistungsfähige und kommerziell nutzbare monolinguale Modelle fehlten, welche auf deutschen Textdaten beruhen. Wir brauchen Modelle, die verschiedene Industriezweige kostengünstig an ihre domänenspezifische Sprache anpassen können. Dies gilt insbesondere im sensiblen medizinischen Anwendungsbereich, denn die KI-gestützte Verarbeitung medizinischer Texte ist aufgrund von Fachvokabular, Abkürzungen und verdichtetem Sprachstil komplex. Zudem ist es notwendig, Modelle und Methoden für die Forschung offen zugänglich bereitzustellen.

„Zukünftig wird KI im Gesundheitswesen so selbstverständlich sein, wie heute diverse Smartphone-Anwendungen“

Bei allen KI-Anwendungen im Gesundheitsbereich ist die evidenzbasierte Orientierung an den Patientinnen und Patienten weiterhin das Maß aller Dinge. Deshalb hat die Arbeitsgruppe Gesundheit, Medizintechnik, Pflege der Plattform Lernende Systeme in einem Workshop Patientenvertretungen befragt: Sie bewerteten den Einsatz von KI-basierten Assistenzsystemen in Medizin und Pflege überwiegend als Chance. Die Mehrheit der Befragten erhoffte sich eine stärker personalisierte Behandlung sowie eine umfassendere und schnellere Diagnose. Ein solcher Vertrauensvorschuss kann jedoch schnell verspielt werden. So sorgten sich die befragten Patientenvertreterinnen und -vertreter etwa um den Missbrauch ihrer Daten sowie fehlerhafte oder diskriminierende Entscheidungen, die auf Basis der KI-Systeme getroffen werden. Deshalb ist es auch wichtig, Haftungsfragen bei Fehldiagnosen zu klären. So gilt es auf der einen Seite zu klären, wer die die Verantwortung trägt, wenn beispielsweise ein Arzt einer falschen Empfehlung eines KI-Systems folgt. Auf der anderen Seite sind solche Fälle zu klären, in denen entgegen der Empfehlung eines KI-Assistenten gehandelt wird – und unter welchen Umständen die Nichtbeachtung einer KI-Empfehlung gerechtfertigt werden sollte. Dennoch wird vor allem in der Personalisierung der Medizin und Pflege ein großes langfristiges Potenzial von KI-Systemen gesehen: KI-gesteuerte Beinprothesen, die sich der Patientin anpassen, oder individuelle Krebstherapien sind eindrucksvolle Beispiele. Gleichzeitig fallen auch in der Arznei- und Wirkstoffforschung große Datenmengen an, in denen KI-Systeme schnell und effizient Muster und Zusammenhänge aufdecken können.

Der Algorithmus, der aus einer Vielzahl von Röntgenbildern lernt, die Insulinpumpe, die aus vielen Datenpunkten den individuellen Bedarf des Diabeteskranken errechnet, oder das Sprachmodell, das Studienergebnisse aggregiert und verständlich macht – zukünftig wird KI im Gesundheitswesen so selbstverständlich sein, wie schon heute diverse Smartphone-Anwendungen. Große Hoffnung wird dabei in die Steigerung der Autonomie der Patientinnen und Patienten gesetzt: Mithilfe der großen Sprachmodelle kann der Computer endlich menschgerecht kommunizieren. Wenn nun die noch bestehenden Unzulänglichkeiten der Sprachmodelle behoben werden, werden die Menschen in Zukunft viel mehr über ihre Erkrankungen verstehen können.

Thomas Schmidt ist Leiter der Geschäftsstelle der Plattform Lernende Systeme. Seit 2018 koordiniert er für die Plattform die Arbeitsgruppe Gesundheit, Medizintechnik, Pflege. Dabei arbeitet er eng mit Expertinnen und Experten aus der Gesundheitsforschung zusammen, um den gesellschaftlichen und politischen Diskurs zu unterstützen. Zuvor hat er zwischen 2011 und 2014 an der Freien Universität Berlin am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft promoviert und sich in seiner Doktorandenausbildung und seiner Postdoc-Zeit zwischen 2014 und 2017 fundierte Kenntnisse empirischer Forschungsmethoden angeeignet.

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