Blick über den Tellerrand: Digitale Identitäten in der EU

Digitale Identitäten sind ein Grundpfeiler der Digitalisierung. Mit dem Vorschlag zu eIDAS 2.0 der EU-Kommission soll die digitale Identität auf dem Smartphone gespeichert und für verschiedene Anwendungsfälle – etwa bei einer Bankkontoeröffnung, beim Freischalten eines Mietwagens, der Aktivierung einer Prepaid-SIM Karte oder beim Online-Check-in im Hotel – intuitiv einsetzbar sein, und zwar in der gesamten EU. Bislang müssen sich Nutzende noch für jeden Use Case und bei jedem Anbieter immer wieder aufs Neue identifizieren. Das soll sich voraussichtlich ab 2024 mit der kommenden eIDAS 2.0-Verordnung ändern.
Von   Heinrich Grave   |  Senior Vice President Digital Identity   |  IDnow
7. Juli 2023

Um die EU-Verordnung umzusetzen, braucht jeder Mitgliedsstaat eine geeignete digitale Wallet-Lösung. Der Startpunkt für die Umsetzung sieht hier von Land zu Land jedoch sehr unterschiedlich aus. In Deutschland sind bekanntermaßen zuletzt der digitale Führerschein und die Smart-eID an technischen Problemen zumindest vorrübergehend gescheitert. Ein Blick in die Nachbarländer und den Norden der EU lohnt sich deshalb.

Österreich rollt „ID Austria“ aus

Im März 2022 kündigte die österreichische Regierung an, die bestehende „Handysignatur“ künftig durch das Modell „ID Austria“ zu ersetzen. Die App der ID Austria soll Personalausweis, Führerschein sowie weitere Ausweisdokumente digital speichern. Aktuell befindet sie sich noch in der Test- und Roll-out-Phase. Alle neu beantragten Ausweise werden künftig automatisch eine ID Austria enthalten und sich über das Smartphone mit Touch- oder Face-ID nutzen lassen. Je nach Umfang kann die ID Austria über die Behörden aktiviert oder über eine zusätzliche App freigeschaltet werden. Ab Sommer 2023 soll sie bei allen Registrierungsbehörden verfügbar sein. Das ist zumindest die Theorie, in der Praxis stellt sich die flächendeckende Verbreitung häufig zäher als gedacht heraus.

Mit der ID Austria sollen die Identifizierung sowie weitere digitale Dienste wie Behördengänge und die digitale Unterschrift im Laufe des kommenden Jahres in der gesamten EU nutzbar sein. Bislang ist es außerhalb Österreichs nur möglich, eine digitale Signatur durchzuführen.

Erste Schritte in Frankreich  

Auch die französische Regierung bereitet sich auf eIDAS 2.0 vor. Im April 2022 kündigte sie den „Service zur Gewährleistung der digitalen Identität“ (fr. Service de garantie de l’identité numérique, SGIN) an. Dabei handelt es sich um eine App, die Daten aus biometrischen Ausweisen zusammenfasst und digitalisiert. Ähnlich wie bei der ID Austria soll die App auch die Behördengänge in Frankreich weiter digitalisieren. Das Modell beruht auf dem 2021 eingeführten, NFC-fähigen Personalausweis und wird in Übereinstimmung mit den Vorgaben von eIDAS 2.0 entwickelt.

Mit der App sollen sich rund 1.000 Online-Dienste nutzen lassen, die an FranceConnect angeschlossen sind. FranceConnect, betrieben von der französischen Regierung, ist ein Zusammenschluss von Identitätsanbietern und erleichtert seit 2016 den Zugang zu digitalen Diensten im Nachbarland. Französische Bürgerinnen und Bürger können sich nach einmaliger Identifizierung bei über 1.500 Behörden und Dienstleistern anmelden. Die Plattform wird deshalb auch schon von knapp 40 Millionen Bürgern genutzt. Nach der einmaligen automatisierten Identitätsverifizierung wird die digitale Identität gespeichert und lässt sich für andere Dienste weiterverwenden.

Bemerkenswert ist der offene Plattformansatz, den Frankreich hierfür gewählt hat. Anders als in Deutschland gibt es nicht nur eine staatliche Identifizierungsmethode, sondern der Nutzer kann aus mehreren Identifizierungsdienstleistern wählen. So können sich auch private Identitätsdienstleister für FranceConnect zertifizieren lassen. Dabei behält der Staat die Kontrolle über die Infrastruktur und gewährleistet den Bürgern durch die breite Auswahl ein optimales Nutzererlebnis.

itsme: Erfolgreiche privatwirtschaftliche Lösung in Belgien

Die führenden belgischen Banken und Telekommunikationsunternehmen haben sich bereits vor Jahren zu einem Konsortium zusammengeschlossen und 2017 die App „itsme“ auf den Markt gebracht. itsme ist eine mobile ID und hat sich bereits bei 80 Prozent der belgischen Bevölkerung durchgesetzt. Die Bürger können damit Dokumente wie Arbeitsverträge signieren, aber auch zahlreiche andere Anwendungen aus dem Finanz- und Telekommunikationsbereich nutzen. Über 1.000 Plattformen des öffentlichen Sektors und mehr als 250 Unternehmen nutzen itsme inzwischen als Identifizierungsmethode.

Obwohl es mit itsme bereits eine sehr erfolgreiche Lösung gibt, kündigte die belgische Regierung im Oktober 2021 an, zusätzlich die ID-Wallet „myID.be“ als eigene staatliche Lösung einzuführen. Die Wallet soll als digitale Version des Personalausweises dienen und für Behördengänge (z. B. Führerscheinantrag oder Baugenehmigung) nutzbar sein. myID.be wird dabei in Einklang mit den Vorgaben von eIDAS 2.0 entwickelt. Das staatliche System soll noch 2023 ausgerollt werden und die bestehende itsme-App ergänzen beziehungsweise nach Wunsch der belgischen Regierung ersetzen. Die Nutzerfreundlichkeit wird langfristig darüber entscheiden, ob dies gelingt.

BankID: Skandinavisches Bankkonsortium aus den 2000er Jahren

Bereits seit vielen Jahren hat sich die digitale Identität in den skandinavischen Ländern etabliert – sie ist heute fester Bestandteil des Alltags. Schon Anfang der 2000er gründeten die größten Banken in Schweden und Dänemark ein Konsortium für die Entwicklung der sogenannten „BankID“. Nur drei Jahre später war eine erste Version verfügbar. Der rasche Markteintritt war auch der schwedischen Regierung zu verdanken, die innerhalb von zwei Jahren die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen schuf. Die Plattform wurde über die Jahre stetig weiterentwickelt und war 2020 die wichtigste App in Schweden – noch vor sämtlichen Social Media-Plattformen.

Der Erfolg der App liegt zum einen in der engen Kollaboration zwischen Staat, Banken und der Privatwirtschaft begründet. Alle Beteiligten haben über die Jahre neue Anwendungsfälle geschaffen und ihr Know-how sowie die Erfahrungen mit dem digitalen Identitätsnachweis miteinander geteilt. Der pragmatische Ansatz, auf bereits bestehende Infrastrukturen zurückzugreifen, erleichterte die Implementierung zusätzlich. Zum anderen führten die vielen Anwendungsmöglichkeiten – etwa die Verwaltung von Kreditkarten und Bankkonten, die Dienstleistungen im öffentlichen Bereich, der Zugriff auf medizinische Daten sowie die Signatur von Verträgen – zu hohen Nutzerzahlen: 80 Prozent der schwedischen Bürger setzten die App 2018 ein.

Digitalisierungsvorreiter Estland

Anders als die skandinavischen Länder verfügt Estland über eine eigene staatliche eID-Lösung, mit der das baltische Land zu den am weitesten digitalisierten Ländern in der EU gehört. Bereits 2002 wurde die digitale Identitätslösung „e-Estonia“ entworfen. Heute werden 99 Prozent der Behördengänge in Estland digital angeboten. Physische Dokumente entfallen, da alles auf dem Smartphone gespeichert wird. Estland setzt für sein eID-Modell auf die Verbindung zu einer Personennummer, die mit allen Ausweisattributen und der entsprechenden App verknüpft ist.

Was bedeutet eIDAS 2.0 für ein Land, das der Verordnung vergleichsweise weit voraus ist? Aktuell hält sich Estland bei einer Stellungnahme zur Auslegung der Verordnung noch zurück. Die EU hat zwar bestätigt, dass die eIDs und Systeme der Mitgliedstaaten bestehen bleiben und als Grundlage des digitalen Wallet der EU dienen sollen. Allerdings ist der gegenwärtige Entwurf noch nicht darauf ausgelegt, entwicklungsbezogene Entscheidungen zu treffen. Die Standards und Anforderungen sind noch zu abstrakt und müssen erst von der Kommission und den Mitgliedsstaaten erarbeitet werden.

Einheitliche Regulierung auf EU-Ebene, starke Unterschiede in den Mitgliedsstaaten

Der Blick über den Tellerrand zeigt: Einige Länder haben bereits lokal geeignete Lösungen, andere arbeiten noch an der Umsetzung, und wieder andere stehen am Anfang. Damit es in Zukunft möglich ist, sich EU-weit mit dem Smartphone über einen Wallet auszuweisen und in jedem Mitgliedstaat die gleichen Anwendungsfälle zu nutzen, sollten die EU-Ländern voneinander lernen.

Damit eIDs funktionieren, müssen sie für Behörden und Unternehmen sowie für Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen einen Mehrwert bieten. Daher ist es zentral, eine hohe Zahl von Anwendungsfällen, sowohl im öffentlichen wie im privaten Bereich, zu schaffen. Für die Mitgliedstaaten gilt es, das Henne-Ei-Problem aus geringer Nutzerschaft und fehlenden Anwendungsfällen zu lösen.

Die Beispiele Schweden, Belgien, und Frankreich zeigen jedoch, wie die Zusammenarbeit zwischen Staat und Privatwirtschaft die Verbreitung fördert. Damit eIDAS 2.0 und Digital Identity Wallets ein langfristiger Erfolg werden, müssen europäische Politik und Wirtschaft aus der ersten Generation der eIDs lernen. Eine wichtige Voraussetzung ist sicherlich ein offenes Ökosystem für Digital Wallets. Denn nur so kann die digitale Identität als Katalysator für die Digitalisierung unseres gesamten Alltags dienen.

Dr. Heinrich Grave leitet bei IDnow als Senior Vice President Digital Identity die Sparte ‚Digitale Identität‘ und treibt dabei die Entwicklung der IDnow Identity Wallet voran. Als Experte für KYC und Identitätsprüfung arbeitet er unentwegt an der Weiterentwicklung von digitaler Identität in Europa.

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