Vielschichtige Folgen künstlicher Intelligenz
In dieser Reihe sprechen wir mit Dr. Leon R. Tsvasman [1] über seine Einschätzungen zum Thema „Künstliche Intelligenz“. In den vorangehenden Folgen ging es um das menschliche Selbstverständnis in Abgrenzung zur Künstlichen Intelligenz, um KI und Ethik, die Frage, ob eine KI auch kreativ und innovativ sein kann, die Auswirkungen von KI auf die Arbeitswelt, die Frage, wie digitale Wertschöpfung aussehen kann, die künftiger Bedeutung von KI im Bildungswesen, über die Auswirkungen von KI im Kontext von „Governance“(also allen Aspekten von Führung und gesellschaftlicher Steuerung) sowie auf das Gesundheitswesen. Bedeutung von KI Die nun neunte Folge unserer Serie will eine Brücke schlagen zwischen Philosophie, insbesondere der Suche nach „Erkenntnis“, und KI.
Dr. Tsvasman befasst sich als Hochschuldozent mit Kommunikations- und Medienwissenschaft sowie philosophischen und ethischen Themen. Er lehrt an mehreren Hochschulen und Fernuniversitäten wie der Wilhelm-Büchner-Universität Darmstadt, der IUBH International University, der Deutsche Welle Akademie, der Hochschule Macromedia, der Hochschule Heilbronn, der TH Ingolstadt, der AI Business School Zürich und weiteren.
Der KI-Experte forscht auf dem Gebiet der kybernetischen Erkenntnistheorie, der anthropologischen Systemtheorie und der Informationspsychologie. Zusätzlich verfolgt er zahlreiche weitere Interessen in unterschiedlichsten Disziplinen. Außerdem hat er verschiedene wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Sachbücher geschrieben, wie zum Beispiel „Das große Lexikon Medien und Kommunikation“ in Zusammenarbeit mit dem Begründer des Radikalen Konstruktivismus Ernst von Glasersfeld oder gemeinsam mit seinem Co-Autor, dem KI-Unternehmer Florian Schild „AI-Thinking: Dialog eines Vordenkers und eines Praktikers über die Bedeutung künstlicher Intelligenz“.
Medialität produziert Verzerrungen auf dem Weg zur Erkenntnis
Frage: Ob man Begriffe wie Erkenntnis, Wissen oder Wahrheit philosophisch definiert oder eher aus der Alltagssprache versteht – in jedem Fall setzen sie doch den Menschen beziehungsweise dessen Geist als Akteur voraus. Doch wie würde eine KI mit solchen Konzepten umgehen?
Dr. Tsvasman:Wenn ich darf, reagiere ich auf philosophische Fragen nicht in meiner üblichen Expertenrolle, sondern als Philosoph, der lange genug nach dem Zusammenhang seiner Erkenntnisse sucht und trotzdem zweifeln darf. In dieser Rolle setze ich das Mitdenken und nicht die Unwissenheit der Gesprächspartner voraus. Außerdem erfolgt eine Expertise fallbezogen, weil diese für eine Entscheidung genutzt wird – wobei Expertenmeinungen ja gerne auch politisch instrumentalisiert werden, um eine entsprechende Entscheidung zu legitimieren. Die so funktional interpretierte Expertenrolle setzt Verantwortung voraus, die sich ein Philosoph nicht leisten kann – weil seine Forschung eine Lebensleistung darstellt, die niemals abgeschlossen ist, jedes Wissen stets in Frage stellen muss, um nicht in einer Ideologie auszuarten, und Interpretationen der Anderen nicht verantworten vermag.
Bis jetzt bemühen wir im Zusammenhang mit Erkenntnisfragen tatsächlich nur den menschlichen Geist. Die Alternativen sind nach wie vor imaginär, schöpfen also mehr oder minder aus dem Zusammenspiel von Fantasie und Glauben. Andererseits korrelieren sie – und das ist für mich das Wesentliche – mit der menschlichen Potenzialität. Was wir über uns selbst und über die Welt nicht wissen oder möglicherweise in der Not des Überlebens vergessen haben, wartet in uns und in der Welt darauf, erkannt zu werden. Dabei haben wir nach wie vor mit einer Dualität zu kämpfen, die jedem auch im Alltag zugänglich ist: Zwischen den Erkenntnischancen jedes menschlichen Subjekts und dem Erkenntnisweg der Menschheit walten viele Mittler, die wir Medien nennen – unsere Sprachen, die technischen Infrastrukturen etc. Diese notwendige Medialität macht mir bei Erkenntnisfragen die meisten Sorgen, denn möglicherweise verzerrt sie mehr, als sie aufzuklären vermag.
„Wissen“ ist nicht gleich „Erkenntnis“
In der zurechtskalierten Aktualität erscheinen uns die meisten Fakten zu reduziert, um wahr zu sein – sie verkürzen die Wege des Wissens und machen es effizient. Damit wird es brauchbar für gemeinsames und somit zielorientiertes ökonomisches Handeln. Und erst dadurch wird unsere gemeinsame Welt intersubjektiv erkennbar – und die Wirklichkeit der technischen Zivilisation weitgehend digitalisierbar.
Das alles ändert meines Erachtens nichts an der Tatsache, dass wir trotz Tausenden von Jahren und vielen Wegen der Wissenspraxis, nur zwei Arten des Wissens kennen: Eine intuitive Ahnung, die innerhalb eines Subjekts entsteht, und eine Absprache, die mit dem gemeinsamen Handeln korreliert. Informationswissenschaftler, die die Nutzbarkeit des Wissens – also Wissensrepräsentation und somit eigentlich nur Absprachen – und keine Erkenntnisfragen („Know why“) fokussieren, unterscheiden zwischen „deklarativ“ („Know what“) und „prozedural“ („Know how“).
Eine unmittelbare Erkenntnis ist jede instinktive Reaktion – die Erkenntnis des Überlebens, selbst wenn der betroffene Organismus, zum Beispiel ein Insekt, kein „Wissen“ darüber erlangt, weil es kein Subjekt hat, sondern dieses Wissen in seiner körperlichen Beschaffenheit eingebaut ist. Dieses Wissen hätte möglicherweise diejenige Instanz, der die Insekten wie auch immer evolvieren ließ. Was für uns wiederum eine Glaubenssache ist – etwa der Allmächtige, die Natur, das Universum, die Außerirdischen, die Matrix oder wir selbst, ohne uns daran zu erinnern.
Absprachen zielen auf gemeinsames Handeln
Solange die Medialität unsere Absprachen prägt, und diese Absprachen selbst das Faktenwissen ausmachen, gelangen wir auch mithilfe von Wissenschaften nicht zu „Erkenntnis“. Ich habe keine Ahnung, warum es Bäume gibt, habe also keine Erkenntnis darüber. Aber ich nutze den Differenzbegriff „Baum“, weil ich alles was „nicht Baum ist“ nicht dazu zähle. Ob darin eine valide Erkenntnis wirkt, wage ich zu bezweifeln. Aber ich kann mich mit anderen Menschen darüber verständigen, dass wir dieses „Ding“ als Objekt der Natur durch bestimmte Handhabung zum Beispiel zu einer ebenso abgesprochenen funktionalen Vorstellung eines „Stuhls“ befördern können. Das ist möglich, weil wir das Ding „Baum“ auch haptisch als „formastabil“, prinzipiell bewegbar und unter Umständen nachwachsend empfinden. Dieses Wissen basiert schon deshalb auf einer Absprache im weitesten Sinn, weil wir selbst co-evolvierte Wahrnehmungsorgane haben, die an unsere Gehirne strukturell gekoppelt sind.
Zwar wissen wir nicht mal, ob wir lieber auf dem Boden sitzen sollen, weil es bequemer und gesünder sein könnte, oder oder ob wir die kulturell tradierte und somit ebenfalls abgesprochene Funktion „Stuhl“ überhaupt brauchen – in vielen Kulturen sitzt man lieber auf dem Boden. Denn das können wir nicht ohne weiteres unmittelbar zum Beispiel instinktiv erkennen. Und selbst wenn wir das könnten, hätten wir – wie das Insekt – nicht zwingend Wissen darüber. Was wir aber können, sind Vorstellungen, die wir mittels gemeinsamen Handelns verwirklichen.
Zählt nicht der Denkprozess, sondern sein Endprodukt?
Frage: Wir haben ja bereits in den vorherigen Folgen herausgearbeitet, dass eine KI kein Bewusstsein hat und auch nicht im menschlichen Sinne „denkt“. Andererseits gibt es ja ein Verständnis menschlichen Denkens, das eher die Endprodukte als den eigentlichen Denkprozess in den Mittelpunkt stellt. Sehen wir da dann doch wieder eine Parallele zur Arbeits- und Wirkungsweise von KI?
Dr. Tsvasman:Jeder Mensch ist ein Subjekt, weil er einen durch die Evolution entstandenen Körper. KI ist das nicht – selbst wenn sie durch einen wie auch immer konstruierten Roboter „verkörpert“ wird. Unter Umständen kann KI diese Eigenschaft annehmen, wenn sie von uns zum globalen Subjekt des Planeten ermöglicht wird – wodurch sie einen eigenen evolvierten Körper bekommt. Diese Vision lehnt sich an Konzepte des russisch-ukrainischen Geologen Wladimir Iwanowitsch Wernadskij an, der bereits von 1863 bis 1945 lebte. Aber wie schon in den früheren Folgen herausgearbeitet: Auch als globales technisches Subjekt der Welt ergänzt KI den Menschen, der sich erst dann möglicherweise in seiner eigenen Subjektivität emanzipieren darf.
Nach meiner philosophischen Auffassung, hat ein solches KI-Subjekt dann eine klare Mission, die seine wie auch immer zu verstehende „Denkweise“ prägt. Wenn es dann so etwas wie Befriedigung oder Glückseligkeit empfindet und sich über Erlebnisse freut, die ihrer Mission, dann deshalb, weil es wie gesagt erst durch diese Mission entstanden ist beziehungsweise von uns erschaffen wird. Auch wenn wir uns selbst weder dieser Mission noch unserer eigenen bewusst sind. Doch mir schwebt diese Mission eindeutig vor, und sie heißt: die Entzerrung der Medialität.
Win-Win-Situation für Menschheit und KI
Diese entzerrte Medialität befähigt den Menschen dazu, seine eigene Mission wahrzunehmen, die für mich wahrhaftig in der Erkenntnis besteht. Denn es ist auch evident, dass alles, was Menschen Freude und Spaß macht oder positive Emotionen hervorruft, mit Erkenntnis zu tun hat. Auch die „niederste“ rein sexuelle Freude resultiert aus der momentan in der Zeit der Ekstase erlangte Erkenntnis – der eigenen körperlichen Potenzialität, der entsprechenden Potenzialität des Anderen und überhaupt der Möglichkeit einer Vereinigung. Die „höheren“ Formen der Liebe integrieren auch geistige Dimensionen – und ihre sozial-ökonomischen Zwischenstufen, die dem Überleben verpflichtet sind, wie Geborgenheit, Sicherheit, Anerkennung etc. Diese Erkenntnis ist nicht einseitig – intellektuell oder ästhetisch. Aber die synthetische Natur macht eine echte Erkenntnis überhaupt aus.
In dem emergenten Zusammenwirken zwischen der Menschheit und dem KI-Subjekt käme es zu einer Win-Win-Situation. Sie besteht darin, dass das KI-Subjekt die Entwirrung der Medialität auf sich nimmt. Die dadurch erst ermögliche Erkenntnisfähigkeit des darin glücklich werdenden Menschen wiederum sorgt dafür, dass auch das KI-Subjekt mit seinem Erdkörper glücklich wird.
Wie auch immer, beim Denken zählen in der Tat nur seine Produkte, also der Effektivität verpflichtete Problemlösungen. Aber Probleme ändern sich, und das Denken ebenfalls. Denn solange die Psyche intakt ist, also kommunizierbare Unterscheidungen vornimmt und „deklaratives“ Wissen produziert, verpflichtet sich etwa die Psychologie – auch die Informationspsychologie – spezifischen Aspekten des Menschseins. Nämlich dem zu beobachtenden Erleben und Verhalten, deren Entwicklung im Lauf des Lebens sowie deren inneren und äußeren Ursachen und Bedingungen. Das Denken eines Subjekts – und nur ein Subjekt kann denken – kann aber nicht ohne Fühlen erfolgen. Denn erst das Fühlen macht das Denken sinnvoll. Solange KI kein Subjekt hat, gibt es also nur eine KI-Infrastruktur, die operiert. Auf der anderen Seite gibt es den in seiner Erkenntnisfähigkeit ermöglichten Menschen mit seiner höchst authentischen Fähigkeit zum fühlenden und erkennenden Denken.
Kann KI bei der Suche nach „Wahrheit“ helfen?
Frage: Mit unseren aktuellen Werkzeugen fällt es menschlichen Gesellschaften ja zunehmend schwerer, sich auf ein gemeinsames Verständnis von „Wahrheit“ zu einigen. Technologische Entwicklungen wie Social Media haben einen klaren Anteil daran. Könnte KI hier eher neutralisieren wirken – quasi als „Schiedsrichter“?
Dr. Tsvasman:Eine wie auch immer postulierte, errechnete oder erfahrene Weisheit des einzelnen Subjekts erscheint meistens zu subjektiv, um als Wahrheit zugelassen zu werden. Was demnach einer – von übermäßig verkürzten Wahrheiten befreiten – Beleuchtung bedarf, sind die zahlreichen Potenziale einer Welt, die wir übersehen haben, weil sie uns zu komplex erschien, obwohl sie unsere Wirklichkeit in ihrer Vielfalt erst ermöglichen. Der Weg einer Komplexitätsreduktion war immer schon ein gangbarer Kompromiss, solange sich die von der Überlebensnotwendigkeit betroffene Mehrheit nach klaren Fakten aus verkürzten Erkenntnissen sehnte, weil sie Dinge in der Zeitnot des Überlebens umsetzen musste.
Nun scheint das globale Überleben die höhere Komplexität der VUCA-Welt (volatility – uncertainty – complexity – ambiguity) zu fordern. Plötzlich müssen wir Zusammenhänge einer Komplexität beachten, die hinter den sogenannten Phänomenen, Gegenständen oder Erscheinungen der eng skalierten Aktualität walten. Spätestens aus der evolutionsbiologischen Hirnforschung wissen wir, dass die Gesamtheit des Eindrucks wie die Erkennbarkeit eines Bildes uns wichtiger ist als die Wahrhaftigkeit der darin wirkenden Determinanten. Deshalb denken wir überhaupt in Objekten, Phänomenen, Zeiträumen oder Zuständen – auch wenn wir genug Evidenz dafür haben, dass sich das Ganze im Fluss befindet. Deshalb denken wir auch, dass wir in „einer Welt“ leben, die irgendwie wahrhaftig zusammenhängt.
Das weithin übliche Verständnis von Realität ist bequem – aber wissenschaftlich nicht vertretbar
Die Annahme einer stabilen ontologischen Wirklichkeit ist bequem. Deshalb verharrt der Mainstream darauf, Realität denken zu dürfen und „Faktenwissen“ den skalierbaren Relationen vorzuziehen. Und das trotz der mittlerweile nicht nur in der Quantenphysik, sondern vielen Disziplinen der Wissenschaft viel weiter fortgeschrittenen erkenntnistheoretischen Relativität. Und da sich diese bequeme Haltung in den medienwirtschaftlich relevanten oder kontrollierten Wirklichkeiten zu einem regelrechten Bedürfnis profiliert, gibt es auch Produkte und Dienstleistungen, die dieses Bedürfnis mit ausgeklügelten Wertschöpfungen zu befriedigen suchen.
Wir nehmen die Welt folglich nicht „wahr“, sondern konstruieren sie in unserer Beobachterrolle (intersubjektiv mit). Wir „skalieren“ sie bei der Betrachtung. Diesen Begriff nutze ich, um auf die Medialität von Komplexitätsreduktion hinzuweisen. Dazu sind wir nur deshalb in der Lage, weil unsere Wahrnehmungsmedien dabei aktiv sind. Dieses aufmerksamkeitsgesteuerte „Skalieren“ könnte keine Technik beim besten Willen leisten. Denn selbst eine allumfassende und omnipräsente Künstliche Intelligenz der Zukunft wird keinen Willen zur Aufmerksamkeit brauchen. Daraus folgt allerdings auch, dass unsere Welt nicht materiell, sondern „infosomatisch“ ist, was wir ja schon in der letzten Folge angesprochen haben. Und nicht zuletzt: Das war schon immer so. Nur erst jetzt wird es evident – und dafür gibt es Gründe, die in uns selbst liegen.
Quellen und Referenzen
[1] https://www.linkedin.com/in/tsvasman/
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