Zukunft made in Germany: Der Wandel von Auto- zu Medi-zintechnologie

Deutschland erlebt einen wirtschaftlichen Umbruch. Während traditionelle Industrie-zweige wie die Automobilindustrie mit Produktionsrückgängen und strukturellen Herausforderungen kämpfen, wächst die Medizintechnikbranche stetig und zeigt be-eindruckende Innovationskraft. Mit jährlichen Wachstumsraten von acht Prozent und Milliardeninvestitionen in Forschung und Entwicklung stellt sich die Branche als po-tenzieller Zukunftssektor Deutschlands auf. Doch trotz ihrer Stärke steht der Med-tech-Standort unter Druck – Bürokratie, steigende Kosten und Fachkräftemangel könnten den Boom bremsen. Unternehmen aus Deutschlands Medizintechnikbranche beweisen jedoch, dass innovative Forschung in dem Bereich „Made in Germany“ eine neue wirtschaftliche Ära einläuten kann.
Von   Karl Stoklosa   |  CEO   |  Precisis GmbH
7. Juli 2025

Zukunft made in Germany:

Der Wandel von Auto- zu Medi-zintechnologie

 

Eine Nation, die sich wie kaum eine in einer wirtschaftlichen Neuausrichtung befindet: Deutschland. Jahrzehntelang war die Automobilindustrie das unangefochtene Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Doch Produktionsrückgänge – allein seit 2017 um über 15 Prozent[1] –, neue Umweltauflagen und die Konkurrenz aus Asien setzen die Branche unter Druck. Die Rezession ist längst spürbar, wobei die Krise in der Automobilindustrie erheblich zu diesem Abschwung beiträgt. Auch die Stahlindustrie kämpft mit hohen Energiekosten und einer schwächelnden Nachfrage. Der Wandel ist unausweichlich: Deutschland muss in neue, zukunftsfähige Wirtschaftszweige investieren. Ein vielversprechender Kandidat ist die Medizintechnik. Mit einem Marktanteil von rund 25 % am europäischen Medizintechnik-Umsatz[2] und über 257.000 Beschäftigten in Deutschland bleibt die Branche ein zentraler Innovationstreiber.[3] Die Medizintechnikbranche zeigt, dass Deutschland in Hochtechnologien weiterhin weltweit führend sein kann – wenn die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen werden.

 

Forschung statt Stillstand: Deutsche MedTech-Branche wächst, doch es hakt

Die Medizintechnik-Branche wächst stabil – trotz wirtschaftlicher Unsicherheiten. Laut Marktstudien steigerten die Top 100 Unternehmen ihre Umsätze seit 2019 um jährlich acht Prozent. Doch die Branche warnt: Ohne bessere wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen könnten steigende Kosten und Bürokratie das Wachstum bremsen.[4] Dies zeigt sich auch in den Investitionen in Forschung und Entwicklung: Neun Prozent des Branchenumsatzes – über 3 Milliarden Euro jährlich – fließen in Innovationen, was Deutschland zur europäischen Spitze im Bereich Medizintechnik macht.[5] Die Innovationskraft spiegelt sich auch in der Zahl der Patentanmeldungen wider: 1.380 neue Patente wurden allein 2023 beim Europäischen Patentamt angemeldet. Wir erleben in der Branche gerade eine Phase des Umbruchs, in der neue Technologien die Versorgung revolutionieren. Besonders dynamisch entwickelt sich die MedTech-Branche in Deutschland in Bereichen wie digitale Gesundheit, KI-gestützte Diagnostik und personalisierte Implantate. Smarte Sensorik ermöglicht eine präzisere Therapieplanung, während KI-basierte Analyseverfahren neue Wege in der Früherkennung neurologischer Erkrankungen eröffnen. Auch minimalinvasive Neuroimplantate, wie z. B. das EASEE®-System, das bei der Behandlung von Epilepsie eingesetzt wird, zeigen das Potenzial für maßgeschneiderte Therapien.

 

Stark in der Medizintechnik: Baden-Württemberg setzt Maßstäbe

Die Medizintechnik-Branche beschäftigt in Deutschland rund 257.000 Menschen – mehr als in jedem anderen EU-Land. Laut der BVMed-Herbstumfrage 2024 planen 32 Prozent der Unternehmen in diesem Sektor, ihre Belegschaft im Vergleich zum Vorjahr auszubauen. Die durchschnittliche Mitarbeiterzahl der zugehörigen größten Unternehmen in Deutschland wuchs seit 2019 um jährlich sechs Prozent. Besonders stark ist die Branche in Baden-Württemberg, wo ein Drittel der führenden Medizintechnik-Unternehmen angesiedelt ist. Auch in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Hessen haben sich starke Innovationscluster gebildet.[6] Doch gerade der Fachkräftemangel droht zum Engpass zu werden: Hochqualifizierte Spezialisten sind stark nachgefragt, was den Wettbewerb um Talente verschärft. Deutschland braucht eine gezielte MedTech-Strategie, um Talente und Investitionen im Land zu halten. Ohne wirtschaftsfreundliche Rahmenbedingungen riskieren wir, dass Innovationen und Arbeitsplätze ins Ausland abwandern.

 

Politik muss handeln: Bürokratie und steigende Kosten bremsen aus

Trotz positiver Wachstumszahlen sieht sich die Medizintechnik-Branche erheblichen Herausforderungen gegenüber. Eine Umfrage zeigt, dass 78 Prozent der Unternehmen die wachsende Bürokratie als größte Herausforderung sehen, gefolgt von steigenden Personalkosten (72 %) und regulatorischen Hürden durch die EU-Medizinprodukteverordnung (66 %).[7] Die Branche fordert daher von der Bundesregierung eine eigenständige MedTech-Strategie, um regulatorische Hürden zu senken und Innovationen gezielt zu fördern. Stimmen der Branche sehen ebenso die Politik in der Pflicht. Wir haben in Deutschland das Know-how, die Forschungseinrichtungen und die Innovationskraft. Aber wir brauchen auch wirtschaftsfreundliche Rahmenbedingungen, um international wettbewerbsfähig zu bleiben.

 

Präzisere Diagnosen, gezieltere Therapie: Woran bereits geforscht wird

Die Medizintechnik in Deutschland befindet sich im Wandel – getragen von Fortschritten in künstlicher Intelligenz und innovativer Neurostimulation. Besonders eindrücklich zeigt sich dieser Trend in der Entwicklung minimalinvasiver Verfahren zur Behandlung pharmakoresistenter Epilepsien. Eine aktuelle multizentrische Studie zur epicranialen Fokalstimulation (FCS) bei fokaler Epilepsie (Schulze-Bonhage et al., 2024) zeigt, dass über zwei Jahre hinweg bei 65 % der Patient:innen eine mindestens 50-prozentige Reduktion der Anfallshäufigkeit erzielt wurde – bei gleichzeitig hoher Therapietreue und guter Verträglichkeit.

Diese Ergebnisse deuten auf das wachsende Potenzial neurotechnologischer Innovationen hin, um konventionelle pharmakologische Therapien zu ergänzen – oder langfristig teilweise zu ersetzen. Besonders bemerkenswert: Auch Patient:innen, bei denen Medikamente zuvor nur wenig Wirkung zeigten, profitierten von der neuartigen Therapieform. Die mittlere Anfallshäufigkeit sank im Studienverlauf von 33,7 auf 19,2 pro Monat, die mediane sogar von 12 auf 5.

Neben der reinen Anfallskontrolle wurden in der EASEE-Studie (2024) auch Parameter wie Lebensqualität, kognitive Leistungsfähigkeit und depressive Symptome erfasst – mit tendenziell positiven Entwicklungen. Die Lebensqualität der Patient:innen verbesserte sich signifikant, und auch das kognitive Profil blieb im Langzeitverlauf stabil bzw. zeigte leichte Verbesserungen. Nach aktuellem Kenntnisstand werden sowohl das Implantat als auch die Therapie gut vertragen. In der Langzeitbeobachtung wurden keine schwerwiegenden stimulationsbedingten Nebenwirkungen festgestellt.

Gerade vor dem Hintergrund des wachsenden globalen Bedarfs an nicht-medikamentösen Therapiealternativen zeigt sich: Der Innovationsstandort Deutschland kann im Bereich MedTech und Neurotechnologie international Akzente setzen – vorausgesetzt, regulatorische und strukturelle Hürden werden frühzeitig erkannt und adressiert.

 

Die MedTech-Branche als Chance für Deutschland

Die Faktenlage beweist, dass Deutschland auch nach dem Niedergang klassischer Industrien weiterhin wirtschaftlich stark sein kann. Mit ihrer Innovationskraft, Exportstärke und stabilen Nachfrage bietet die Medizintechnikbranche eine realistische Perspektive für die wirtschaftliche Zukunft des Landes. Doch es braucht gezielte politische Maßnahmen, um diesen Wachstumssektor zu sichern. Wir haben das Potenzial in dieser Umbruchsphase, die Medizintechnik zu einer Leitindustrie Deutschlands zu machen – aber dafür müssen Bürokratien abgebaut, Investitionen erleichtert und Talente gefördert werden. Die MedTech-Branche kann einen entscheidenden Beitrag zur wirtschaftlichen Stabilität Deutschlands leisten – aber nur, wenn Politik und Wirtschaft gemeinsam handeln. Es braucht gezielte Investitionsanreize und Bürokratieabbau, damit Deutschland als Innovationsstandort konkurrenzfähig bleibt.

 

 

Quellen:

[1] https://www.bundesbank.de/en/tasks/topics/monthly-report-weakness-in-the-german-automotive-industry-continues-945866
[2] https://covendit.de/m-a-wissen/ma-branchenreport-der-markt-fuer-medizintechnik/
[3] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/640836/umfrage/beschaeftigung-in-medizintechnik-industrie-in-europa-nach-laendern/
[4] https://www.meyer-industryresearch.de/
[5] https://www.gtai.de/de/trade
[6] https://www.bvmed.de/
[7] https://www.eurosearch.de/post/medizintechnik-2025-die-rolle-der-beschaeftigten-im-wandel-der-branche

Karl Stoklosa ist CEO der PRECISIS GmbH, einem MedTech-Unternehmen mit Sitz in Heidel-berg. Dort verantwortet er die strategische Weiterentwicklung und internationale Skalierung neuromodulatorischer Therapien wie dem EASEE®-System zur Behandlung von Epilepsie.

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