Wie eine Shopfloor-App die Flexibilität eines KMU steigert

Von   Dipl.-Kfm. techn. Christian K. Bosse   |  Wissenschaftlicher Mitarbeiter   |  Institut für Technologie und Arbeit (ITA)
  Dipl.-Wirtsch.-Ing. Viola Hellge   |  0   |  ITA
14. Januar 2019

Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) haben aufgrund ihrer flexiblen Strukturen die Chance, auf individuelle Kundenwünsche einzugehen und sich mit ihrem Angebot am Markt zu behaupten. Durch diesen strategischen Vorteil bieten sich den KMU große Potenziale, die aber auch mit neuen Herausforderungen einhergehen. So bedeuten individuelle Kundenwünsche meist eine hohe Variantenvielfalt, die es für das Unternehmen zu bewältigen gilt. Inwiefern sich dies auf die Effizienz in der Fertigung auswirkt, hat die PS Automation GmbH aus Bad Dürkheim erfahren müssen und das Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Kaiserslautern um Unterstützung bei der Auswahl einer Lösung basierend auf digitaler Technologie gebeten. Das Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Kaiserslautern ist Teil der Förderinitiative Mittelstand Digital des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) und bietet KMU aus Rheinland-Pfalz sowie den angrenzenden Regionen vielfältige Informationen zum Thema Industrie 4.0 und Digitale Transformation, ebenso wie Unterstützung bei der Umsetzung konkreten Digitalisierungsprojekte.

Flexibilität als Herausforderung für Unternehmen

Seit über 25 Jahren produziert die PS Automation GmbH verschiedene Stellantriebe zur Steuerung und Regelung von Gasen oder Flüssigkeiten. Sie stellen den Betrieb von Gebäudetechnik und Anlagen in der Industrie rund um die Uhr sicher. Die Stellantriebe aus Bad Dürkheim sind weltweit im Einsatz: Sie bewegen die gläsernen Wendeflügel in der Fassade der Hamburger Elbphilharmonie, verrichten ihren Dienst in türkischen Sodafabriken und sorgen am Flughafen von Abu Dhabi für Kühlung. Entsprechend groß ist das Produktportfolio des Familienunternehmens und die Anzahl der gefertigten Varianten durch spezielle Kundenwünsche steigt stetig. Flexibilität ist für ein mittelständisches Unternehmen sowohl Fluch, als auch Segen zugleich. Denn während das Eingehen auf spezifische Anforderungen die Zufriedenheit der Kunden und die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens steigert, bedeutet die Flexibilität zugleich eine Zunahme der Komplexität für die Mitarbeiter an den manuellen Montagestationen.

Die Varianten unterscheiden sich dabei teilweise nur anhand kleiner Details, beispielsweise einem anderen Material bei einem Zahnrad oder anderen Schrauben. Hier einen Überblick zu behalten und die Informationen zu Änderungen den Produktionsmitarbeitern immer aktuell bereitzustellen, ist eine zeitaufwändige Aufgabe. Insbesondere neue Angestellte oder Aushilfskräfte müssen sich im Gegensatz zu langjährigen Mitarbeitern für die Montage der komplexen Stellantriebe immer wieder bei Kollegen erkundigen oder dicke Papierordner mit gedruckten Konstruktionsplänen wälzen. Werden die Ordner benötigt, sind sie häufig an einem anderen Arbeitsplatz in Gebrauch, Änderungen nicht eingepflegt oder Pläne für eine neue Variante noch nicht ausgedruckt. Das kostet in der Fertigung viel Zeit und kann zu Fehlern führen. Um die Effizienz in der Produktion zu steigern und die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, setzt  das  Unternehmen  auf  eine  digitale  Lösung, die den Zugang zum Montagewissen erleichtert. „In einer Produktion, in der fast ausschließlich manuell gefertigt wird, nehmen die Mitarbeiter eine zentrale Rolle ein. Sie müssen optimal unterstützt und motiviert werden, “ bekräftigt Geschäftsführer Christian Schmidhuber die Entscheidung zur Einführung eines digitalen Wissensmanagements.

Der Mitarbeiter im Mittelpunkt der Entwicklung

Da der Erfolg einer solchen digitalen Lösung in der Akzeptanz der Mitarbeiter sowie der einfachen Anwendbarkeit im Rahmen der bestehenden Arbeitsprozesse liegen, stand die Beteiligung der Belegschaft im Mittelpunkt des Projekts. Startschuss für die Digitalisierung waren daher ausführliche Interviews mit den Produktionsmitarbeitern sowie eine Analyse der bestehenden Arbeitsprozesse, um die spezifischen Anforderungen und Bedürfnisse an den Arbeitsstationen zu erfassen. Sie dienten als Grundlage für die Konzeption der verschiedenen Lösungsansätze, die von der eigenen App-Entwicklung bis hin zur simplen Bereitstellung digitaler Konstruktionspläne über Touchscreens reichten. „Für uns war damit eine der größten Hürden genommen. Es war schwer, sich einen Überblick der spezifischen Anforderungen an den verschiedenen Arbeitsstationen in der Produktion zu verschaffen. Natürlich waren dafür die Mitarbeiter, die an diesen Stationen arbeiten, die beste Informationsquelle. Die externen Experten des Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrums Kaiserslautern haben uns sehr dabei geholfen, eine neutrale und offene Betrachtung seitens unserer Mitarbeiter zu erhalten, “ erklärt Schmidhuber.

Die Ergebnisse der Anforderungserhebung verdeutlichten, dass insbesondere an den manuellen Arbeitsstationen mit zunehmender Komplexität und Vielfalt der Montageprozesse ein steigender Informationsbedarf besteht. Suchzeiten infolge fehlender oder nicht aktueller Informationen können zu abnehmender Produktivität, Montagefehlern oder Nacharbeiten führen. Um dem entgegenzuwirken ist der Einsatz eines informatorischen Assistenzsystems, das die zentralen Bedarfe der Produktions- und Montagemitarbeiter an den Stationen adressiert, erfolgsverrepchend. So standen unter anderem eine strukturierte und schnelle Bereitstellung von Informationen in Form von Konstruktionsplänen und Produktionshandbüchern für den jeweils zu fertigenden Antrieb im Zentrum des Bedarfs, während Videosequenzen im Vergleich eher von den Mitarbeitern als zu zeitintensive Unterbrechung im Arbeitsprozess angesehen wurden. Ein weiterer Faktor, der bei der Erhebung deutlich herausgearbeitet wurde, war die Aktualität der Informationen. Kurzfristige Änderungen aufgrund von spezifischen Kundenwünschen führten in der Vergangenheit zu Unklarheiten und Komplikationen bei den Montagetätigkeiten. Die hohe Komplexität einer Variantenmontage erfordert ein hohes Maß einer adaptiven Informationsbereitstellung, die durch ein digitales Assistenzsystem bereitgestellt werden kann.

Digitalisierung soll echten Mehrwert bieten

Letztendlich bot eine Lösung in Verbindung mit dem bestehenden System zur Unternehmensressourcenplanung (Enterprise-Resource-Planning, kurz ERP) die größten Potenziale. Die im Unternehmen digital vorliegenden Dokumente, wie zum Beispiel die Konstruktionspläne für die verschiedenen Antriebstypen, wurden systematisch im ERP-System erfasst. Dadurch können sie mit den Aufträgen und den individuellen Kundenwünschen verknüpft und zielgerichtet an den entsprechenden Arbeitsstationen in der Fertigung über Tablets angezeigt werden. Auf den mobilen Endgeräten läuft hierfür eine gemeinsam mit dem ERP-Anbieter entwickelt Web-Applikation, die nach einem Barcodescan der Auftragsnummer direkt auf die individuellen Auftrags- und Kundeninformationen im ERP-System zugreift. Auf diese Weise werden in Sekundenschnelle immer die aktuellsten Konstruktionspläne und Fertigungsinformationen für den vorliegenden Arbeitsauftrag angezeigt. Unnötige Laufwege, Nachfragen und zeitaufwändiges Blättern in Papierunterlagen gehören damit in der PS Automation GmbH der Vergangenheit an. „Im ERP-System bereits vorhandene Informationen konnten entsprechend der Anforderungen und Bedürfnisse an den verschiedenen Arbeitsstationen aufbereitet werden. So können die Mitarbeiter mit Hilfe der neuen Web-Anwendung optimal bei ihren Tätigkeiten unterstützt werden, “ erklärt Christian Schmidhuber den Vorteil und Mehrwert der Shopfloor-App.

Zunächst wurde der Pilot an einer zentralen Arbeitsstation eingeführt und das bei der Erprobung gesammelte Mitarbeiterfeedback floss in die Weiterentwicklung der App mit ein. So konnten eine hohe Nutzerfreundlichkeit sichergestellt sowie eine auf die Bedürfnisse und Anforderungen an den Arbeitsstationen bestmöglich zugeschnittene Lösung erarbeitet werden. Der Grundstein für das unternehmensinterne Wissensmanagementsystem ist gelegt und aufgrund der engen Einbindung der Mitarbeiter ist die Akzeptanz für das neue System hoch. In der Folge werden nun schrittweise weitere Arbeitsstationen mit Tablets oder Touchscreens ausgestattet und die Mitarbeiter für den Einsatz der neuen Anwendung geschult. Ebenso sind weitere Ausbaustufen wie Rückmeldungen der Mitarbeiter oder die Dokumentation individueller Erfahrungen (im Sinne von „Tipps und Tricks“) bei der Montage komplexer Antriebe bereits angedacht. Damit ist die PS Automation GmbH gut gerüstet für den Weg in eine digitale Zukunft.

Exkurs Wissensmanagement: Wissen ist Produktions- und Erfolgsfaktor

Ziel des Wissensmanagements allgemein ist es, das für das Unternehmen relevante Wissen systematisch aufzubereiten, sodass es zielgerichtet eingesetzt werden kann. Unter Wissen wird hierbei aber noch viel mehr verstanden, als nur die vorhandenen Daten und Dokumente. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht umfasst Wissen ebenso alle Kenntnisse und Fähigkeiten, die von den Mitarbeitern bei der Erledigung ihrer Tätigkeiten sowie zur Problemlösung eingesetzt werden. Das beste Beispiel hierfür ist das Erfahrungswissen. So ist ein neu eingestellter Berufsanfänger zwar durchaus mit den gängigen Arbeitsabläufen und Maschinen vertraut, dennoch fehlt diesem im Gegensatz zum langjährigen Mitarbeiter der Erfahrungshintergrund, um auch bei unerwarteten Problemen im Arbeitsablauf adäquat zu reagieren, sodass die Fertigung reibungslos weiterlaufen kann.

Die rasanten Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie eröffnen dem Wissensmanagement umfangreiche Möglichkeiten zur Speicherung, Bereitstellung und zielgerichteten Suche. Insbesondere der Erfahrungsaustausch kann durch digitale Lösungen selbst über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg unterstützt und gefördert werden. Aber die digitalen Technologien bringen auch Herausforderungen mit sich, so zum Beispiel bei der Auswahl geeigneter Medien oder einer nutzerfreundlichen Gestaltung. Hierzu gehören unter anderem  Aspekte der Software-Ergonomie wie zum Beispiel intuitive Bedienbarkeit und leichte Verständlichkeit. Ebenfalls muss dafür Sorge getragen werden, dass die Mitarbeiter über die nötige Qualifikation zur Bedienung des Systems verfügen und entsprechend geschult werden. Denn auch wenn die technischen Möglichkeiten ein großes Potenzial eröffnen, im Zentrum des Wissensmanagements steht weiterhin der Mensch als Wissensträger, der fähig und gewillt sein muss, die eingesetzte Technologie zu nutzen.

Fazit: Digitalisierung nicht nur der Digitalisierung wegen

In vielen Unternehmen steht die Digitalisierung ganz oben auf der Agenda. Während diese für größere Unternehmen eine Art „Spielwiese“ ist, können fehlgeschlagene Digitalisierungsvorhaben für kleine und mittlere Unternehmen bereits existenzbedrohend sein. Daher gilt insbesondere für KMU das Gebot der „Digitalisierung nach Maß“. Das bedeutet, dass die neuen digitalen Technologien zielgerichtet dafür einzusetzen sind, an bestehende Herausforderungen anzusetzen und die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens nachhaltig zu steigern. Dies verdeutlich das Vorgehen der PS Automation GmbH, die die Herausforderungen einer hohen Flexibilität sowie der daraus resultierende Variantenvielfalt mithilfe eines informatorischen Assistenzsystems in der Produktion angegangen ist.

Dipl.-Kfm. techn. Christian K. Bosse ist seit 2011 Mitarbeiter am ITA und zuständig für die Themen Digitalisierung und Arbeit der Zukunft. Als Experte im Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Kaiserslautern unterstützt er KMU bei ihrer digitalen Transformation und der partizipativen Einführung digitaler Lösungen.

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