Warum Personalgewinnung in Osteuropas IT-Szene zur Geduldsprobe wird
Nearshoring-Softwareentwicklung nach Osteuropa entwickeln sich zu einem zunehmend beliebten Geschäftsmodell für mittelständische IT-Firmen, die hierzulande mit personellen Engpässen konfrontiert sind. Unternehmen, die Schlüsselpositionen vor Ort besetzen wollen, müssen sich gegen internationale Konkurrenz durchsetzen – und um heiß begehrte Führungskräfte werben.
Im Jahr 2023 gab es rund 150.000 unbesetzte IT-Stellen in deutschen Unternehmen. So sagt es eine aktuelle Studie des Branchenverbands Bitkom. Dem gegenüber stehen mehr als 1 Million Entwickler in Osteuropa; rund die Hälfte von ihnen leben in Polen, Rumänien und Tschechien.[1] Kein Wunder also, dass Firmen Kapazitäten dorthin bereits verlagert haben oder dies anstreben. Nach Angaben einer KPMG-Umfrage mit dem Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft planen 42 % der befragten Unternehmen zeitnah Investitionen in dieser Region.[2] Neben geografischer Nähe, kurzen Lieferketten und niedrigeren Lohnkosten lockt laut Umfrage ein Talentpool ausgebildeter Fachkräfte. Einem bekannten Tech-Unternehmen zufolge, zählen osteuropäische IT-Spezialisten im globalen Vergleich zur Entwickler-Elite.
Osteuropäische Länder, vor allem die EU-Mitgliedsstaaten, bieten deutschen IT-Unternehmen einen attraktiven Marktzugang. Doch geeignete Fach- und Führungskräfte zu identifizieren, ist eine Herausforderung. Voraussetzung für die gelungene Talentakquise ist ein umfassendes Verständnis für den lokalen Arbeitsmarkt. Sonst bleibt der Erfolg Zufall.
Alles beginnt mit der Schlüsselperson
Der Erfolg eines neuen Standorts hängt maßgeblich von der „Person der ersten Stunde“ ab. Besetzen Firmen diese Hauptrolle bestmöglich, gewährleisten sie darüber eine ruckelfreie Expansion.
Die Arbeitsmärkte jedoch sind anspruchsvoll. Mittelständler, die sich bei Expansionserwägungen für Tschechien und Polen entscheiden, treffen auf die europaweit niedrigste Arbeitslosenquote.[3] Hier zieht die heimische Wirtschaft ihre eigenen Fachkräfte ab. Ebenso wenig existiert in Rumänien, Polen und der Ukraine ein Pool an günstigen Fach- und Führungskräften, die auf Westeuropa wartet.
Wenn deutsche Unternehmen in Osteuropa Fach- und Führungskräfte suchen, konkurrieren sie mit anderen Ländern. Rekrutieren beispielsweise IT-Unternehmen Geschäftsführer für einen neuen Standort in Polen, Tschechien oder der Ukraine, stehen sie primär mit lokalen Unternehmen und vor allem mit internationalen Konzernen im Wettbewerb. Zahlreiche Weststaaten haben Schwierigkeiten, IT-Entwickler im eigenen Land zu rekrutieren. So schätzen Branchenkenner den Fachkräftemangel für Tech-Positionen im Vereinigten Königreich auf 70 %.[4] Bis zu 48 % aller britischen Unternehmen lagern die Software-Entwicklung deshalb ins Ausland aus, ermittelt YouGov im Rahmen einer Erhebung.
Tech braucht Female Talents
Trotz rasant zunehmender Digitalisierung bleibt der Frauenanteil in Tech-Berufen niedrig: Einer Studie aus dem Jahr 2023 zufolge sind lediglich 22 % der Tech-Jobs in Europa mit Frauen besetzt. Dabei zeigt sich deutlich, welches Potenzial in mehr Geschlechtervielfalt steckt – eine Verdopplung dieses Anteils könnte das europäische BIP bis 2027 um bis zu 600 Milliarden Euro steigen lassen. Für Unternehmen lohnt es sich also zweifach, gezielt in weibliche IT-Talente zu investieren: Sie sichern sich nicht nur dringend benötigte Fach- und Führungskräfte, sondern stärken gleichzeitig ihre Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit.
Kulturell nah, technisch stark
Der Großteil deutscher KMU, die nach Osteuropa expandieren, gründen dort zunächst eigene Vertriebsgesellschaften. Sie suchen Manager mit internationaler Erfahrung und Kenntnis über westeuropäische Business-Kulturen. Tiefgreifendes IT-Know-how und kulturelle Passung – in osteuropäischen Ländern lassen sich diese Profile durchaus finden. Ähnliche Steuergesetze, Geschäftsmodelle sowie Verbraucherbedürfnisse machen es den Partnern leichter, die Erwartungshaltung der anderen zu verstehen und sie in die Praxis umzusetzen. Marginale kulturelle Unterschiede und eine analoge Geschäftsetikette sorgen für eine störungsfreie Zusammenarbeit, Kommunikation und Verständigung. Apropos Verständigung: Laut EF English Proficiency Index weisen ITler aus Polen, der Slowakei, Rumänien und Ungarn die besten Englischkenntnisse in Wort und Schrift vor.
Auch die technologische Kompatibilität ist ein Plus. Osteuropäische Entwickler nutzen mehrheitlich dieselben Programmiersprachen und Frameworks wie ihre deutschen Kollegen. Das erleichtert den Einstieg ins Nearshoring für IT-Unternehmen zusätzlich.
Wo Osteuropas Entwickler was kosten
Innerhalb Osteuropas unterscheiden sich die Nearshoring-Standorte deutlich in Größe, Kompetenzschwerpunkten und Lohnstrukturen. Polen gilt mit über 400.000 Entwicklern, nahezu 60.000 IT-Unternehmen und einem durchschnittlichen Stundensatz zwischen 45 und 70 US-Dollar als der bedeutendste Softwareentwicklungsmarkt der Region.
Hohe Dienstleistungsqualität bei moderaten Kosten bietet die Ukraine: Trotz anhaltendem Krieg wächst der dortige IT-Sektor weiter. Die Tarife liegen bei 30 bis 60 US-Dollar pro Stunde.
In Tschechien bewegt sich das Lohnniveau mit 50 bis 70 US-Dollar im oberen Bereich, dafür profitieren Auftraggeber von geringer Fluktuation und hoher fachlicher Spezialisierung. Ungarn, mit einem Stundensatz zwischen 40 und 65 US-Dollar, verfügt über eine hochqualifizierte, städtisch konzentrierte Entwicklerlandschaft. Rumänien wiederum markiert mit 25 bis 50 US-Dollar die preisliche Untergrenze. Der Markt zeigt starke Wachstumsdynamik, weicht in puncto Servicequalität allerdings von seinen Nachbarn ab.[5]
Nearshoring mit Weitblick
Für mittelständische IT-Unternehmen bietet Nearshoring nach Osteuropa eine strategisch sinnvolle Antwort auf den anhaltenden Fachkräftemangel. Die Region überzeugt durch gut ausgebildete, englischsprachige Entwicklerteams mit hoher technischer Kompetenz und professioneller Arbeitsweise. Dank ähnlicher Zeitzonen lassen sich Projekte effizient und ohne Reibungsverluste koordinieren. Die Standorte bieten Kostenvorteile in der Softwareentwicklung, ohne in puncto Qualität Kompromisse einzugehen.
Bei alldem sollten sich deutsche Unternehmen nicht der Illusion hingeben, die Suche nach qualifizierten Fach- und Führungskräften in Osteuropa sei ein Selbstläufer. Die dortigen Märkte sind im Wandel: Löhne steigen genauso wie die Anspruchshaltung gut ausgebildeter IT-Expertinnen und -Experten an Arbeitgeber, Arbeitskultur und Entwicklungsperspektiven. Unternehmen, die in osteuropäischen Ländern ernsthaft Fuß fassen wollen, dürfen die Expansion nicht als reine Kostenalternative verstehen. Realitätsfremde Gehaltsvorstellungen und starre Strukturen sind oft Hindernisse, die Unternehmen selbst setzen. Wer im internationalen Wettbewerb um Fach- und Führungskräfte bestehen will, braucht Flexibilität und begreift Expansion als Bestandteil einer nachhaltigen Wachstumsstrategie.
[1] https://www.deutsche-startups.de/2020/03/13/osteuropa-silicon-valley/
[2] https://kpmg.com/de/de/home/media/press-releases/2025/01/umfrage-mittel-und-osteuropa-gewinnt-wirtschaftlich-weiter-an-bedeutung.html
[3] https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Bevoelkerung-Arbeit-Soziales/Arbeitsmarkt/EUArbeitsmarktMonat.html
[4] https://www.robertwalters.co.uk/insights/hiring-advice/e-guide/technology-research.html
[5] https://brainhub.eu/de/library/nearshoring-in-osteuropa-top-standorte
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