Mobilitätstrends der Zukunft: Vom Besitz- zum Nutzkonsum

Von   Matthias von Alten   |  VP Strategy Transportation & Mobility   |  Publicis Sapient
  Alyssa Altman   |  Industry Lead Transportation & Mobility Nordamerika   |  Publicis Sapient
21. September 2020

Automobilhersteller stehen vor der großen Herausforderung, die Mobilität der Zukunft zu gestalten und den grundlegenden Wandel von einer Eigentümer- zu einer Nutzer-Ökonomie zu bewältigen. Die Mobilitätsbranche ist gefragt, sich auf die sich ändernden Bedürfnisse und Erwartungen der Bevölkerung einzustellen. Es geht nicht um die Befriedigung individueller Verbraucherwünsche, sondern um einen holistischen Wandel. Da sich die COVID-19-Krise negativ auf die Haushaltseinkommen auswirkt, werden Verbraucher künftig verstärkt auf flexible und kostengünstige Mobilitätsoptionen setzen. Automobilhersteller müssen sich jetzt in Position bringen, um den Weg in die Zukunft der Mobilität zu ebnen.

Treiber des Wandels

Die Treiber der Mobilität von morgen sind der Klimawandel, die Urbanisierung, Digitalisierung und Automatisierung. Für Automobilhersteller ist es unabdingbar, sich mit diesen Themen auseinandersetzen, um die Kundenbedürfnisse in den kommenden Jahren erfüllen zu können.

Während die Urbanisierung der Städte auf dem Globus voranschreitet, wächst die Notwendigkeit, städtische und ländliche Gebiete enger miteinander zu verbinden. Der Fluss von Menschen, Informationen, Gütern und Dienstleistungen ist entscheidend, um eine gesunde Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Metropolen weltweit haben Initiativen gestartet, die dem Autobesitz entgegenwirken sollen, beispielsweise „Berliner Straßen für alle“ [1] oder Großbritanniens „Future of Mobility Grand Challenge“ [2]. Gleichzeitig muss in die Infrastruktur wie Schienen und Straßen investiert werden, um urbane und ländliche Regionen enger zu vernetzen und von einem gegenseitig nutzbringendem Verhältnis profitieren zu können.

Aufgrund der Vielfalt an Transportmöglichkeiten, wachsender Umweltbedenken und zunehmenden Platzproblemen in den städtischen Ballungsräumen, entscheiden sich immer mehr Verbraucher für ein kleines, preiswertes und weniger luxuriös ausgestattetes Auto – wenn sie überhaupt eines kaufen. Gleichzeitig sehen sich Automobilunternehmen durch das WLTP-Prüfverfahren (Worldwide Harmonized Light Vehicle Test Procedure) dazu veranlasst, die Produktion von Benziner- und Diesel-Kleinwagen wie die Modelle Opel Adam, Ford Ka oder Volkswagen Up einzustellen. Denn um die WLTP-Normen zu erfüllen, müssten die Hersteller pro Fahrzeug zusätzlich 3.500 Euro aufbringen, um sie mit der notwendigen Technologie auszustatten. Diese Kosten würden letztlich auf die Verbraucher abgewälzt werden.

Der Komfort des Lebens in der Stadt mit umfassendem öffentlichen Nahverkehrsangebot und flexiblen Mobilitätslösungen wie Ride-Hailing, Bike-Sharing und E-Scootern wird sich in Zukunft über die bisherigen Grenzen ausbreiten. Denn ehemalige Stadtrandgebiete werden stärker in das Großstadtleben integriert werden. Die COVID-19-bedingten Mobilitätseinschränkungen und Richtlinien der sozialen Distanzierung werden die Nachfrage der Verbraucher nach flexiblen, individuellen Transportmöglichkeiten fördern.

Konsolidierung der Mobilität

Durch den technologischen Fortschritt wachsen bisher getrennte Mobilitätsangebote zusammen. Ride-Hailing und Taxis werden eins. Selbstfahrende Auto machen die Dienstleitungen menschlicher Fahrer obsolet. Car-Sharing und Autovermietungen verschmelzen zu einem Angebot. Der Übergang von einzelnen Mobilitätsdienstleistungen hin zu holistischen Mobilitätsplattformen [3] ist in vollem Gange.

Sixt beispielweise kombiniert die Services Vermietung und Sharing in einem Angebot. Die höhere Auslastung einzelner Fahrzeuge wirkt sich dabei positiv auf die Gesamtrentabilität aus. Die Sixt App [4] bietet außerdem Roller, Taxis und Ride-Hailing. Auch viele Automobilhersteller positionieren sich auf diesem Gebiet. Sie investieren in Mobilitätsunternehmen, schließen sich mit ihnen zusammen oder kaufen sie auf. Daimler und BMW haben ihre städtischen Mobilitätsdienstleistungen unter Your Now [5] zusammengelegt und bieten gemeinsam Services wie Ride-Hailing, Car-Sharing, Reiseplanung, mobiles Parken und das Laden von Elektrofahrzeugen. Toyota hat Investitionen in Revel [6] , May Mobility [7] und mehrere andere Unternehmen getätigt. General Motors liefert mit Maven [8] eine ganzheitliche Mobilitätslösung. Auch Pioniere des Mobility Sharing wie Uber investieren in neue Formen der Mobilität. So hat der US-Fahrdienstvermittler eine Partnerschaft mit dem Rollervermieter Lime abgeschlossen.

Diese folgende Grafik veranschaulicht die Konsolidierung im Mobilitätsbereich, wie sie in den nächsten Jahrzehnten zu erwarten ist: 

Schutz des Kerngeschäfts und Ausbau der Services

Aufgrund der sich verändernden Verbraucherpräferenzen und geringeren Margen durch den Fahrzeugverkauf sind die Automobilhersteller gezwungen, ihre Portfolios zu reduzieren. In der Vergangenheit trieben die Autobauer in jedem Segment neue Fahrzeugkonzepte voran. Heute ist die Kannibalisierung und Überschneidung innerhalb der Fahrzeugsegmente hoch. Auch wenn die Automobilverkäufe in vielen Märkten stabil bleiben, müssen Hersteller sich darauf fokussieren, ihren Marktanteil angesichts des starken Wettbewerbs zu sichern. Gleichzeitig sind sie gefragt, sich an die veränderten Mobilitätsansprüche anzupassen.

Betrachtet man die neuen Mobilitätstrends, lässt sich leicht ein düsteres Bild für die Zukunft der Automobilhersteller zeichnen. Es bieten sich aber Möglichkeiten, das traditionelle Geschäft des Autoverkaufs zu festigen und gleichzeitig neue Geschäftsfelder voranzutreiben, um den zukünftigen Bedürfnissen des Mobilitätsmarktes gerecht zu werden. Für Automobilhersteller ist es daher unabdingbar, sich mit der Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen auseinanderzusetzen, um das Kerngeschäft so gut wie möglich zu schützen.

Auf der einen Seite sind sich Autobauer darüber bewusst, dass sie ihr Produktangebot schlanker und effizienter gestalten müssen. Sie müssen ihr Portfolio danach ausrichten, welche Produkte für welche Märkte am wertvollsten sind. Überflüssige Modelle und Fahrzeugvarianten gilt es zu reduzieren. Die Entwicklung eines Autos ist langwierig und kann heute von der ersten Idee bis zum Produktionsstart bis zu 60 Monate dauern. Der Standardprozess erfordert von den Autoherstellern, Zielparameter wie Gewicht, Geschwindigkeit, Volumen, Preis oder Liefermengen festzulegen und diese zu erreichen. Während des siebenjährigen Lebenszyklus nach der Produktion lässt sich nicht viel am Fahrzeug ändern, geschweige denn neue Wertschöpfungspotenziale generieren. Telematik-Lösungen [9] werden in Zukunft jedoch den Wandel von einer hardwarebasierten zu einer softwaregetriebenen Kundenbeziehung vorantreiben, die die Offline- und Online-Welt verbindet.

Auf der anderen Seite arbeiten Automobilhersteller heute mit Hochdruck daran, relevante Services für die Verbraucher zu entwickeln. Die Entwicklung eines Services unterscheidet sich grundlegend von der eines Fahrzeugs. Sie erfordert kontinuierliche, iterative Anpassungen und regelmäßige Updates, ähnlich wie die Aktualisierung von Betriebssystemen und Apps. Die Entscheidungsprozesse bei der Gestaltung von Services müssen schnell und schlank sein. Services haben den Vorteil, dass sie einen direkten und regelmäßigen Zugang zum Kunden ermöglichen. Autohersteller sind dadurch in der Lage, ihre Kunden besser zu verstehen und Customer Experiences kontinuierlich zu verbessern.

Fünf Handlungsempfehlungen für Autobauer

Folgende Schwerpunkte sollten Entscheider der Automobilindustrie jetzt setzen, um auch künftig wettbewerbsfähig zu sein und neue Wertschöpfungspotenziale zu erschließen:

      1. Das Kerngeschäft optimieren: Es gilt, das aktuellen Portfolio zu reduzieren und die Effizienz zu steigern.
      2. Die Vorteile der Telematik nutzen: Telekommunikation und Informatik lassen sich kombinieren, um Daten zu sammeln und nutzbar zu machen, das Kundenerlebnis zu verbessern und neue Einnahmequellen zu generieren.
      3. In Mobilitätsdienste investieren: Autobauer sollten eine eigenständige Marke für Services schaffen oder mit einer bestehenden Plattform kooperieren, um schnell skalieren zu können und in der Lage zu sein, kontinuierlich neue Partner und Dienste hinzuzufügen.
      4. Den Handel integrieren: Die Händler sollten als Partner im Ökosystem der Mobilitätsdienstleistungen eingebunden werden.
      5. Fahrzeuge als offene Plattformen gestalten: Fahrzeuge sollten zu offenen Plattformen werden, die von externen Partnern in einem offenen API-Ansatz genutzt werden können.

Auf der Überholspur in die Mobilität der Zukunft

Kundenzentrierung ist der Schlüssel zum Erfolg, unabhängig davon, welche Strategie ein Automobilhersteller verfolgt. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Autobauer sich an veränderte Verbraucherpräferenzen anpassen und die Kundenbindung forcieren. Besitzmodelle sind nur eine Möglichkeit, den Kundenerwartungen gerecht zu werden. Um echten Mehrwert zu schaffen, müssen Automobilhersteller ihre Kunden verstehen. Für die Entwicklung von Services und die Optimierung des Portfolios ist es daher elementar, kontinuierlich zu testen und zu lernen. Risiken lassen sich minimieren, indem innovative Konzepte verprobt und iterativ verbessert werden, bevor sie skaliert werden. Es gilt, jedes Produkt und jeden Services als Beta zu betrachten, weil erst ständige Innovation die Zukunftsfähigkeit ausmacht.

Quellen und Referenzen

[1] http://berliner-strassen-fuer-alle.de

[2] https://www.gov.uk/government/news/government-kick-starts-work-on-future-of-mobility-grand-challenge

[3] https://guidehouseinsights.com/news-and-views/mobility-as-a-service-consolidation-to-multi-modal-platforms-strengthens-market

[4] https://www.sixt.de/app/#/

[5] https://www.your-now.com/de

[6] https://gorevel.com/austin/

[7] https://maymobility.com

[8] https://www.maven.com

[9] https://www.publicissapient.com/insights/connected-ecosystems-the-main-driver-for-future-success-in-automotive

 

Matthias von Alten verantwortet bei Publicis Sapient die globalen Management-Consulting-Aktivitäten für die Automobil- und Mobilitätskunden des Beratungsunternehmens. Der Fokus seiner Arbeit liegt auf der Identifikation und Transformation von kundenzentrierten Geschäftsfeldern.

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