Wissensarbeiter in der Autonomie-Falle

Von   Marcus Raitner   |  Head of Agile @ Allianz   |  Allianz Consulting
6. Juli 2021

Der von mir mit Abstand am meisten zitierte Autor ist sicherlich Peter F. Drucker, der große Vordenker modernen Managements und der Erfinder des Begriffs der Wissensarbeit. Wenn nun der von mir in letzter Zeit auch häufiger zitierte Cal Newport, Informatik-Professor und Autor von so großartigen Büchern wie „Deep Work“ und „Digital Minimaism“, sich kritisch mit der Produktivität von Wissensarbeitern auseinandersetzt und in seinem neuen Buch „A World without E-Mail“ gekonnt herleitet, wie das völlig korrekte Postulat von der Autonomie der Wissensarbeiter bei Peter F. Drucker uns Wissensarbeiter in die Falle lokal optimierter Produktivität geführt hat, dann sind das gleich mehrere triftige Gründe darüber intensiver nachzudenken. Aber der Reihe nach.

Von Taylor zu Drucker

Den Begriff der Wissensarbeit führte Peter Drucker 1959 ein, um damit Tätigkeiten, die hauptsächlich den Einsatz von kognitiven Fähigkeiten erforderten, abzugrenzen von der damals noch vorherrschenden weitgehend manuellen Industriearbeit, die Frederick Winslow Taylor seit 1913 mit seinem „Scientific Management“ revolutioniert hatte. Die bahnbrechende Erkenntnis von Taylor war es, die Arbeit zu analysieren, sie in kleine Arbeitsschritte zu zerlegen, diese dann zu optimieren und zu einem optimalen Arbeitsfluss zusammenzusetzen. Diese anspruchsvolle kognitive Leistung war die Aufgabe des Managers. Taylor trennte ganz bewusst Denken und Handeln und machte dadurch die damals weitgehend ungelernten Arbeitskräfte für die Industrie nutzbar. Der Effekt dieser Arbeitsteilung des Taylorismus war ein beeindruckender Anstieg der Produktivität in der manuellen Arbeit um einen Faktor 50, wie Peter F. Drucker selbst schreibt. Gleichzeitig sieht Drucker eine der wesentlichen Herausforderungen für das Management, die Produktivität der Wissensarbeiter in ähnlicher Weise zu steigern. Er erkannte als Erster, dass sich seit den Zeiten von Taylor sowohl die Art der Tätigkeit als auch das Ausbildungsniveau der Mitarbeiter verändert hatten. Die rein manuelle Arbeit nahm ab und immer mehr Mitarbeiter waren sogenannte Wissensarbeiter, deren Beitrag zur Wertschöpfung hauptsächlich in kognitiver Leistung bestand.

Ein großes Verdienst von Peter F. Drucker war es, auf die daraus resultierenden fundamentalen Unterschiede in der Führung von Wissensarbeitern im Vergleich zu den ungelernten manuellen Arbeitern des Taylorismus aufmerksam zu machen. Zu Zeiten von Taylor war der Manager der einzige Wissensarbeiter und die Arbeiter zur mehr oder weniger stumpfsinnigen Ausführung verdammt (eine entmenschlichende Konsequenz, die insbesondere Karl Marx zu Recht kritisierte). Aus dieser Zeit rührt ein klares Machtgefälle von Chef zu Mitarbeiter und ein Abhängigkeitsverhältnis des Arbeiters zur Organisation. Das alles ist in der Wissensarbeit anders. Die Organisation braucht den Wissensarbeiter mehr als der Wissensarbeiter die Organisation. Der Wissensarbeiter ist der Experte und wenn er in seiner Domäne nicht mehr weiß als der Chef, ist das ein Fehler. Führung ist wichtig, aber keine Frage der Position. Führung bedeutet nicht mehr Überordnung und Unterordnung, sondern geschieht als Dienstleistung auf Augenhöhe. Letztlich tragen die Wissensarbeiter ihre Produktionsmittel im Kopf und können sie überallhin mitnehmen. Daher braucht Wissensarbeit Autonomie und die Wissensarbeiter müssen sich selbst führen.

Die Autonomie-Falle

Soweit die grundsätzlich absolut zutreffende Analyse von Peter Drucker. Als Konsequenz davon sieht Cal Newport die Wissensarbeiter aber mit ihrer Produktivität allein gelassen. Produktivität, so sein Argument, wurde durch diese Forderung nach Autonomie zur persönlichen Angelegenheit. Wo im Taylorismus der Manager alles bis ins Kleinste bestimmte, herrscht in der Wissensarbeit ein Vakuum, das jeder Wissensarbeiter nach bestem Wissen und Gewissen zu füllen versuchte. Diese teilweise verzweifelten Versuche, wenigstens ein lokales Optimum an persönlicher Produktivität zu finden, nennt Cal Newport die Autonomie-Falle der Wissensarbeit.

Im Jahr 2003 stellte eine in Communications of the ACM erschienene Studie ernüchternd fest, dass die beobachteten Wissensarbeiter durchschnittlich nach 1 Minute und 44 Sekunden auf eine ankommende E-Mail reagierten. In den meisten Fällen ging es aber noch viel schneller, denn bei 75 % der ankommenden E-Mails dauerte die Reaktion höchstens 6 Sekunden. Das war 2003 und wurde mit Instant Messaging und Group Chat nicht besser seither.

Eine neuere Studie von RescueTime kommt zu dem Ergebnis, dass der durchschnittliche Wissensarbeiter seine E-Mails oder Instant Messaging alle 6(!) Minuten prüft, und als Konsequenz daraus schaffen 40 % der Wissensarbeiter weniger als 30 Minuten konzentrierter Arbeit am Stück. Und Adobe stellte in ihrer „Adobe Email Usage Study“ 2019 fest, dass die ca. 1.000 befragten US-Amerikaner mehr als drei Stunden ihres Arbeitstags mit E-Mail verbringen (und zusätzlich noch zwei Stunden in ihrer privaten Inbox). Wegen der von Peter F. Drucker geforderten Autonomie, so Cal Newport, stand zu wenig die übergreifende Optimierung von Arbeitsabläufen und Rahmenbedingungen im Fokus, wie sie im Taylorismus noch die klare Aufgabe des Managements war. Die Wissensarbeiter waren mit der Frage ihrer Produktivität allein gelassen, was letztlich zu dem heutigen „Arbeitsprozess“ führte, der darin besteht, sich gegenseitig Präsentationen und Tabellenkalkulationen zu schicken. Von der kompletten Regulierung im Taylorismus schwang das Pendel also über das sinnvolle Maß an Autonomie hinaus in diese Autonomie-Falle und zu dem, was Cal Newport dann als „hyperaktives Schwarmbewusstsein“ („hyperactive hivemind“) bezeichnet. Gemeint ist damit allseits bekannte unstrukturierte Zusammenarbeit auf Basis von ad-hoc Kommunikation, mit der die Produktivität von Wissensarbeitern täglich beeinträchtigt wird.

Das war sicher nicht im Sinne des Erfinders, denn Peter F. Drucker hat eben nicht nur richtigerweise mehr Autonomie in der Führung von Wissensarbeitern gefordert. Gleichzeitig und trotzdem hat er dem Management aufgetragen, die Produktivität der Wissensarbeiter im 21. Jahrhundert in ähnlicher Weise zu steigern, wie es die Produktivität der manuellen Arbeit vorher steigerte. Aufgabe des Managements bleibt also nach wie vor, sich um optimale Arbeitsabläufe zu kümmern, wenn auch nicht wie ein Schachmeister zu Zeiten Taylors, sondern eher mit der Haltung eines Gärtners.

Wie das dann aussehen kann, zeigt sich beispielsweise an Methoden aus der agilen Software-Entwicklung, allen voran Scrum. Ein Teil des Erfolgs von Scrum geht meiner Meinung nach allein darauf zurück, dass der Arbeitsablauf recht rigide strukturiert wird, und viel weniger auf das konkrete Wie. Im Scrum ist die Arbeit des Teams über- sichtlich geordnet in Backlog-Items, die entweder physisch auf Karten geschrieben sind oder virtuell in Tools wie JIRA verwaltet werden. An welchen Items davon konkret gearbeitet werden soll, wird zu Beginn eines Sprints im Sprint-Planning entschieden. Was dann im Detail zu tun ist, beschreibt das Team dann in einzelnen Tasks je Back- log-Item (und hat dabei volle Autonomie!) und hält alles auf einem Task-Board fest. Jeden Tag im sogenannten Daily trifft sich das Team vor diesem Board und spricht kurz selbstorganisiert darüber, welche Tasks abgeschlossen wurden und wer was als Nächstes macht und wer wobei Hilfe benötigt.

Wenn man sich darauf einlässt, ersetzt diese Struktur viele E-Mails und viele Besprechungen. Und damit bleibt mehr Zeit für das, was Software-Entwickler wie alle anderen Wissensarbeiter am meisten brauchen, um gute Arbeit zu leisten: Fokus und Konzentration.

Marcus Raitner ist überzeugt, dass Elefanten tanzen können. Als Agile Coach begleitet er deshalb Unternehmen auf ihrer Reise zu mehr Agilität und menschlicher Lebendigkeit. In seinem Blog schreibt er seit 2010 über die Themen Führung, Agilität, Digitalisierung und vieles mehr: https://raitner.de/

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