Exnovation als strategisches Werkzeug für die deutsche Automobilindustrie
Die deutsche Automobilindustrie steht vor einem fundamentalen Wandel, der durch disruptive Marktveränderungen und den Aufstieg neuer Wettbewerber, insbesondere aus China, geprägt ist. Vor diesem Hintergrund wird Exnovation – als Instrument zur schrittweisen Ablösung veralteter Strukturen und Prozesse – zu einem zentralen strategischen Instrument. Nur durch die Neudefinition ihrer Produkte und Dienstleistungen und das Aufbrechen gestriger Strukturen und Arbeitsweisen können deutsche Hersteller ihre globale Führungsrolle zurückgewinnen und die Mobilität der Zukunft gestalten.
Die deutsche Automobilwirtschaft wird gerade einem Wandel unterzogen. Die passive Formulierung dieses Satzes ist bewusst gewählt, hat man doch den Eindruck, dass die Vertreter dieser für Deutschland so wichtigen Industrie den massiven Veränderungen in ihrem Markt kaum mehr entgegenzusetzen wissen als Sparmaßnahmen und die für sie typische Ingenieurskunst. Und so wichtig Letzteres auch ist (Qualität bleibt schließlich ein zeitloser Wert), ist sie heute eben doch nur noch ein Aspekt des Wettbewerbs – und nicht mehr DER eine entscheidende.
Deutsche Autos gelten als grundsolide, zuverlässig und sicher. Leider spielen diese Attribute in der Kaufentscheidung vieler Kunden nur noch eine untergeordnete Rolle. Ihr Wertverständnis definiert sich hauptsächlich über die Innovativität, Konnektivität und Adaptierbarkeit von Fahrzeugmodellen. Diese Faktoren werden jedoch eher der Konkurrenz, inbesondere aus China, zugeschrieben.
Um im Wettbewerb mit diesen neuen Anbietern bestehen zu können, reicht es nicht aus, das, was man bereits gut macht, marginal und nur schrittweise zu verbessern. Wer am Markt bestehen will, kommt nicht umhin, sich auf neues Terrain zu begeben. Doch gehen damit natürlich auch Unsicherheiten einher. Um diese zu managen, muss man agil sein – und um agil zu sein, muss man sich von Altlasten trennen, die einen in der Vergangenheit gefangen halten. Dazu gehören die eigenen „Legacy-Systeme“, aber auch veraltete Denkweisen und Methoden in der Innovationsarbeit.
Es geht nicht nur darum, Neues zu entwickeln, sondern – und dieser Schritt wird allzu oft vernachlässigt – die Voraussetzungen zu schaffen, damit sich das Neue überhaupt entfalten kann. Bevor wir uns also über Innovationen austauschen, sollten wir zunächst über Exnovationen sprechen – und damit über den Prozess des bewussten Verlernens nicht mehr zeitgemäßer Praktiken, des Aufräumens alter Systeme und des Einstellens überflüssiger Funktionen. Sonst scheitert der Versuch, mit dem Entwicklungstempo der sehr viel agileren Konkurrenz Schritt zu halten, an der schieren Komplexität der eigenen Gegenwart. Was dann noch bleibt ist ein weitreichender Bedeutungsverlust… und ein paar Erinnerungen an bessere Zeiten.
Exnovation – als strategisches Werkzeug – hilft den Automobilherstellern, sich von organisatorischem und technologischem Ballast zu befreien und ihre Kräfte auf die Entwicklung zukunftsweisender Technologien zu konzentrieren: von KI-gestützten In-Car-Services über die Erhebung und Nutzung von Echtzeitdaten bis hin zur Hyper-Personalisierung von Kundenerlebnissen innerhalb und außerhalb des Fahrzeugs. Nur so können deutsche Automobilhersteller Fahrzeuge entwickeln, die sich nahtlos in die zukünftigen Lebenswelten ihrer Kunden integrieren – und nur so bleiben sie relevant.
Zeitenwende: Warum deutsche Automobilhersteller jetzt handeln müssen
Laut CJO Global überholte China im Jahr 2023 Deutschland als weltweit zweitgrößten Autoexporteur – mit Fahrzeugen, die perfekt auf die heutigen Kundenbedürfnisse zugeschnitten sind. Während in Deutschland primär über die mit Elektrofahrzeugen einhergehenden Einschränkungen und Risiken diskutiert wird, hat die chinesische Konkurrenz Fakten geschaffen und den Raum für innovative Lösungen im Bereich der Digitalisierung neu definiert. Das ist ein echter „Make or Break“-Moment für die deutschen Automobilhersteller. Gerade für diese Marken ist Exnovation unerlässlich, um veraltete Strukturen zu beseitigen und die Basis für nachhaltiges Wachstum zu schaffen.
Befreiungsschlag: Den Weg für neues Wachstum ebnen
Exnovation ist mehr als eine Strategie – sie ist der notwendige erste Schritt, um in einem sich rasch wandelnden Marktumfeld wieder auf Wachstumskurs zu kommen. Altsysteme und traditionelle Organisationsstrukturen schaffen oft Engpässe, die es erschweren, neue Technologien und Innovationsansätze zu integrieren. Hier kommt das Konzept von Martec’s Law ins Spiel, das beschreibt, wie technologischer Wandel exponentiell verläuft, während organisatorische Veränderungen meist nur logarithmisch, also deutlich langsamer, erfolgen. Deutsche Automobilhersteller stehen daher vor der strategischen Entscheidung, welche technologischen Entwicklungen sie in ihre Systeme integrieren wollen, um nicht von der immer schnelleren Entwicklung überrollt zu werden.
Alles geht nicht – und wer sich durch seine Altsysteme blockieren lässt, kommt nicht voran. Prozesse, die für Verbrennungsmotoren konzipiert wurden, passen nicht zwangsläufig zu den Anforderungen eines digital orientierten, servicegetriebenen Marktes. Dem gilt es Rechnung zu tragen.
Es braucht Neues – und es müssen Grundlagen geschaffen werden, damit das Neue sichtbar werden und seine Wirkkraft entfalten kann. Dabei geht es nicht nur um Investitionen, auch Desinvestitionen spielen eine wichtige Rolle.
Innovationstreiber: Von maschineller Exzellenz zu digitalen Begeisterungsmerkmalen
Kaum ein Markt steht momentan so unter Druck wie die deutsche Automobilwirtschaft. Allerdings können nicht alle Fehlentwicklungen einfach durch staatliche Subventionen ausgeglichen werden – so wichtig die Unterstützung dieser Kernindustrie auch ist. Vielmehr muss die aktuelle Krise als Sprungbrett genutzt werden, um aktiv Strukturen zu schaffen, die eine Neupositionierung überhaupt möglich machen.
Das Kano-Modell bietet uns eine wertvolle Perspektive, um die Veränderungsprozesse in der Automobilindustrie besser zu verstehen und den Handlungsdruck sichtbar zu machen. Ursprünglich in den 1980er Jahren von dem japanischen Professor Noriaki Kano entwickelt, unterscheidet das Modell zwischen verschiedenen Arten von Produktmerkmalen, die unterschiedlich stark zur Kundenzufriedenheit beitragen. Es zeigt insbesondere , wie sich die Kundenerwartungen im Laufe der Zeit verändern und was dies für Unternehmen bedeutet, die ihre Zielabnehmer langfristig an sich binden wollen.
Historisch betrachtet galten Attribute wie deutsche Ingenieurskunst und Verbrennungskraft als „Begeisterungsmerkmale“ im Kano-Modell – Eigenschaften, die die Erwartungen der Kunden übertrafen und zur Kundenloyalität beitrugen. Diese Differenzierungsfaktoren halfen deutschen Herstellern, sich als Premium-Marke zu positionieren. Doch das Kano-Modell zeigt auch, dass sich Merkmale abnutzen: Ein ursprünglich als „Delighter“ (= Begeisterungsmerkmal) definiertes Feature wird im Zeitverlauf zu einem „linearen Zufriedenheitsfaktor“, der zwar immer noch positiv wahrgenommen wird, aber keine Begeisterung mehr auslöst. Ähnlich verhält es sich mit den „linearen Zufriedenheitsfaktoren“, die irgendwann zu „Must-haves“ werden, also zu Grundanforderungen, die schlicht die Basisanforderungen der Käufer widerspiegeln.
Die Verbraucher erwarten heute eine hohe mechanische und maschinelle Qualität – diese ist für sie ein Muss und kein „Begeisterungsmerkmal“ mehr. Das Differenzierungspotenzial hat sich verschoben, und die Hersteller müssen neue Wege finden, um sich vom Wettbewerb abzuheben. Die neuen Treiber der Kundenzufriedenheit liegen heute in anderen Bereichen. Dazu zählen:
- In-Car-Konnektivität: Der Markt für vernetzte Autos wird bis 2028 voraussichtlich auf 191,83 Milliarden Dollar anwachsen (CJO Global). Moderne Verbraucher erwarten, dass sich Autos nahtlos in ihr digitales Leben integrieren und sich mit Smartphones, Smart Homes und größeren digitalen Ökosystemen verbinden lassen. Die Priorisierung dieser Konnektivität ermöglicht es Automobilherstellern, Fahrzeuge als zentrale Knotenpunkte in einer umfassenderen digitalen Landschaft zu etablieren, die Kundenbindung zu stärken und sich abzuheben.
- KI-gesteuerte Personalisierung: Mit einer prognostizierten jährlichen Wachstumsrate von 38,8 % bis 2030 (JATO Dynamics) wird Künstliche Intelligenz (KI) zur Schlüsseltechnologie für personalisierte Fahrerlebnisse. Verbraucher erwarten Funktionen, die auf ihre individuellen Vorlieben zugeschnitten sind – von personalisierten Klimaeinstellungen bis hin zu vorausschauenden Wartungsbenachrichtigungen. Personalisierung bietet echten Mehrwert und hebt die Kundenzufriedenheit im digitalen Zeitalter auf ein neues Niveau.
- Autonomes Fahren: Der globale Markt für autonome Fahrzeuge soll bis 2026 auf 556,67 Milliarden Dollar anwachsen (Clean Energy Wire) und markiert einen entscheidenden Wandel in der Mobilität. Autonome Fahrtechnologien ermöglichen es dem Fahrer, die Zeit im Auto produktiv oder entspannend zu nutzen, so dass das Fahrzeug über seine reine Transportfunktion hinaus zu einem wertvollen Raum für Erholung oder berufliche Zwecke wird.
Fazit: Eine neue Ära deutscher Automobil-Exzellenz
Exnovation – als Werkzeug – hilft den Automobilherstellern dabei, organisatorischen und technologischen Ballast abzuwerfen, um Ressourcen gezielt für die Entwicklung KI-gestützter In-Car-Services, für Echtzeit-Analysen und Datennutzung sowie für die Hyper-Personalisierung von Kundenerlebnissen zu bündeln. Erst das Aufbrechen veralteter Systeme und Denkweisen schafft die Grundlage, um Kapazitäten für digitale Innovationen freizusetzen und die Wettbewerbsfähigkeit langfristig zu sichern.
Das Kano-Modell zeigt, dass der zukünftige Erfolg davon abhängt, Begeisterungsmerkmale zu schaffen, die über klassische Ingenieurskunst hinausgehen. Wenn es gelingt, Fahrzeuge zu entwickeln, die sich nahtlos in das digitale Leben der Kunden integrieren, kann die deutsche Automobilindustrie ihre Marktführerschaft zurückgewinnen und Maßstäbe für die Mobilität des 21. Jahrhunderts setzen. Dazu braucht es Mut – und genau dieser Mut, Altes loszulassen und Neues zu schaffen, wird in Zukunft der wesentliche Differenzierungsfaktor im Markt sein.
Um einen Kommentar zu hinterlassen müssen sie Autor sein, oder mit Ihrem LinkedIn Account eingeloggt sein.