Die Sackgassen in der deutschen Digitalisierungsstrategie

Eine Negativmeldung jagt die Nächste – das ist der Alltag beim Netzausbau, den digitalen E-Services oder 5G-Anschlüssen. Bürokratische Auflagen und die unzureichende strukturpolitische Förderung lähmen die Digitalisierung in Deutschland. Der Blick in die historische Entwicklung zeigt die kulturellen Ursachen der deutschen Digitalisierungsskepsis und die Grenzen des „Wirtschaftswunder“-Modells. Durch das europäische Engagement und eine richtungsweisende Strategie entsteht aktuell Platz für Leuchtturmprojekte und die Perspektive eines langfristigen Wandels.
Von   Alain Blaes   |  CEO   |  PR-COM
2. Februar 2024

Die zweite Halbzeit der Ampelkoalition läuft, doch der Fortschrittsbalken in vielen Digitalisierungsprojekten steht vielfach ganz am Anfang – die Bilanz des Bitkom Monitors 2023 hat dieses Jahr die erlebte Realität von Unternehmen und Betroffenen mal wieder trefflich in Zahlen transformiert. Die Statistik reiht sich in eine Kette von Negativmeldungen ein, die Deutschland im letzten Jahrzehnt das Image einer zaudernden und verblassenden Bürokratienation verpasst haben. Gerade bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung und der Entwicklung zum E-Government rutscht Deutschland Jahr für Jahr ins Hintertreffen. Und das ist keine gefühlte Wahrheit, sondern zeigte sich in vielen Studienergebnissen: so beispielweise mit Platz 21 von 35 im eGovernment Benchmark 2022 der EU-Kommission und Platz 22 von 58 in der E-Government Survey 2022 der UN. Die Vision vom digitalen Staat, den etwa Malta oder Estland erfolgreich umgesetzt haben, scheitert bereits am Startpunkt. 

Als institutionelle Pfadabhängigkeit wird in politischen Systemen die Tendenz bezeichnet, am Status quo von Regelsystemen und Prozessen festzuhalten und Transformationsprozesse dadurch bis zum Stillstand auszubremsen. In den behördlichen Strukturen in Deutschland erweist sich die Vermischung aus Pfründe-Sicherung, komplexen Ablaufroutinen und Formblättern immer wieder als anreizvernichtendes Instrument, wenn es um die Etablierung einer Transformationskultur geht. Hinzu kommt ein Rechtsverständnis, das im Vergleich zu anderen Staaten die individuellen Schutzrechte und die staatliche Kontrolle von disruptiven Innovationen stark gewichtet. Es wirft allerdings auch die Frage auf, weshalb die Digitalpolitik trotz aller Regulierungskompetenz und wirtschaftlicher Potenziale mit geradezu stiefmütterlicher Dynamik betrieben wird. 

Transformationsdynamiken in der Digitalwirtschaft

Hier lohnt sich der Blick in die Geschichte. Zum einen beruht der Wohlstand des deutschen Wirtschaftswunders auf Tugenden, die im Rahmen der digitalen Revolution eine immer geringere Bedeutung haben: Fleiß, Präzision und Handwerk. Industrielle Hochqualitätsprodukte, wie sie beispielsweise im Maschinenbau das Label „Made in Germany“ geprägt haben, werden in immer besserer Qualität auch international gefertigt. Zugleich sinkt die Rentabilität, wenn die digitale Fertigungskompetenz nicht mit der internationalen Entwicklung Schritt halten kann. Ein passendes Beispiel hierfür ist sicherlich die Fahrzeugindustrie. In weniger als zwanzig Jahren hat sich die ehemals belächelte globale Konkurrenz, vor allem aus China, zu einem technisch konkurrenzfähigen und preislich attraktiveren Anbieter positioniert. Das zeigt deutlich, weshalb die digitalpolitische Dynamik für die Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Wirtschaftsstandorts von Bedeutung ist.

In den vergangenen dreißig Jahren Digitalisierungsgeschichte ist Deutschland vor allem als Skeptiker und Nachzügler aufgetreten. Das hat sicherlich kulturelle Gründe, weil der Qualität von analogen Prozessen in den 70er- und 80er-Jahren ein internationales Vorzeigemerkmal war. Es beruht jedoch auch auf der Tatsache, dass die New Economy und ihr unternehmerisches Ökosystem wie beispielsweise das Silicon Valley in Deutschland mehr oder weniger verschlafen wurden. Schon in den 1990er Jahren übten die Unternehmerverbände immer wieder harte Kritik an der deutschen Digitalpolitik. Die 2006 implementierte Hightech-Strategie der Bundesregierung war wie ein erster Weckruf mit dem Ziel, die digitale Infrastruktur und Vernetzung zu fördern. Sie hechelte der internationalen Entwicklung hinterher. Eine größere Dynamik hat sich erst in den letzten fünf Jahren gezeigt, etwa durch die Einberufung des Digitalrates zur Vernetzung von Bundesregierung und Digitalunternehmen, dem KI-Aktionsplan der Bundesregierung, dem Digitalpakt Schule oder gesetzlichen Vorgaben wie dem Onlinezugangsgesetz und IT-Sicherheitsgesetz 2.0. Doch immer noch fallen die institutionelle Ebene und die reale Umsetzung auseinander. Wie könnte hier mehr Wirksamkeit erzielt werden?

Bürokratie und fehlende Hands-on-Mentalität im EU-Vergleich

Als ein Erfolgsfaktor haben sich in den letzten Jahren die Bemühungen der EU-Kommission erwiesen, Europa zum Vorreiter für die Digitalisierung zu transformieren. Sowohl beim Datenschutz wie auch vor wenigen Wochen bei der KI-Regulierung hat sich Europa als Zugpferd positioniert. Die DSGVO ist zum Vorbild für viele nationale Regulierungen geworden. Und auch die Digitalagenda 2010 und 2020 haben konkrete Hindernisse am europäischen Markt abgebaut. Dadurch profitieren Verbraucher wie Unternehmen von europaweitem Roaming, IKT-Kompetenzförderung und digitalen Diensten. Dass Deutschland dennoch zum Schlusslicht beim 5G-Anschluss der Haushalte mutiert, ist allerdings wiederum ein Beispiel für das Umsetzungsdefizit – und das zeigen besonders die Deltawerte der vergangenen fünf Jahre. 

Noch brisanter wird die Situation mit Blick auf die Netzabdeckung des Mobilfunknetzes. Hier zeigen sich tausende blinde Flecken auf der Landkarte, die nicht durch 4G oder 5G erschlossen worden sind. Und sie beschränken sich keineswegs auf dünn besiedelte Gebiete in Ostdeutschland. Auch die Landkreise im Münchner Speckgürtel und damit an den Randzonen des von der Bayrischen Staatsregierung stolz als „Silicon Valley Europas“ bezeichneten Gebietes haben einen hohen Anteil an schlecht erschlossenen Bereichen. Dazu kommen unzureichende Datenverbindungen im Nah- und Fernverkehr. Die Ursache dieser Lücken sind neben Umweltschutzaspekten vor allem bürokratische Hürden und ein langsam arbeitender Verwaltungsprozess, die zu langen Genehmigungsfristen führen.

Unternehmergeist und Leuchtturmprojekte in Deutschland

Der digitale Wandel erfordert daher von der öffentlichen Verwaltung bis zum Bildungssektor ein großes Maß an Agilität und unternehmerisches Denken. Das ist entscheidend, um den Investitionsstau zu stoppen und eine Dynamik der Veränderung zu erzielen. Das Bewahren des Status quo und das Sichern der eigenen Pfründe ist keine zielführende Strategie. Es wird aber spätestens dann zu einem Ende gelangen, wenn die Boomer-Generation flächendeckend in Rente geht. 

Von großer Bedeutung sind daher zum jetzigen Zeitpunkt die Erfolgsmeldungen aus Unternehmen und Gesellschaft, die den Wandel hin zur digitalen Gesellschaft beschleunigen. Hier besteht die Aufgabe vor allem darin, die lokalen Leuchtturmprojekte zu einer bundesweiten Wirkung auszuweiten – beispielsweise Smart-City-Projekte, Bürgerbeteiligungssoftware wie CONSUL, oder eben lokale Start-Up-Communities. Das wird dazu beitragen, die Defizite im Bereich Venture Capital und tragfähiger Netzwerke zu füllen und damit eine langfristiges „Window of Opportunity“ für den digitalen Wandel schaffen.

„Damit die Digitalisierungspolitik erfolgreicher sein kann, braucht es mehr Unternehmergeist an Stelle von bürokratischen Auflagen“, bestätigt Alain Blaes, CEO von PR-COM.

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