Wozu braucht es den Menschen noch in einer digitalisierten Welt?

In einer Zeit rasanter technologischer Umbrüche und wachsender Komplexität fordert dieser Beitrag ein radikales Umdenken: Weg von vor allem technikgetriebenen Effizienzlogiken – hin zu einer neuen Haltung zur Arbeit, zum Mensch-Sein und zur Führung. Der Text beleuchtet zentrale Herausforderungen wie Fachkräftemangel, Innovationsstau, der mentale Druck durch die Künstliche Intelligenz und Motivationsverlust und plädiert für drei zentrale Paradigmen-wechsel: 1. Lernen als Haltung: Zukunftskompetenz entsteht nicht nur durch Wissen, sondern durch innere Reife, Umgang mit Unsicherheit und Freude am Gestalten. 2. Transformation neu denken und erproben: Organisationen brauchen Sinn, Resonanz und Co-Kreation statt reiner Output-Steigerung. 3. Führung als Ermöglichung: Orientierung, Beziehungsqualität und empathische Navi-gationskompetenz ersetzen Kontrolle durch Kennzahlen und Top-down-Handeln. Noch bleibt dem Menschen – gerade im Zusammenspiel mit KI – der zentrale Resonanzraum für Sinn, Ethik und Kontext. Der Artikel ruft Führungskräfte dazu auf, den Wandel aktiv mit zu ge-stalten: zwar mit digitalen Tools, doch verstärkt mit einem neuen Menschenbild und einer Klar-heit gegenüber der KI. Daher liegt das eigentliche Innovationspotenzial schon jetzt vor allem im Menschen selbst und dann in der Technik.
Von   Michael Beilmann   |  Geschäftsführer   |  Atelier zur Selbstwirksamkeit
25. September 2025

Wozu braucht es den Menschen noch in einer digitalisierten Welt?

 

 

Einleitung

Das Zukunftsforum 2025 des Fraunhofer-Instituts stellte eine spannende Doppeldeutigkeit in den Mittelpunkt: „Arbeit EINFACH machen“ oder „Arbeit einfach MACHEN“. Je nach Betonung eröffnen sich unterschiedliche Denkräume für die Zukunft. Wie lässt sich Arbeit in Zeiten wachsender Unsicherheit überhaupt noch sinnvoll gestalten? Blicken wir bei Zukunftsszenarien separiert auf technologische Innovationen, gesellschaftliche Umbrüche oder wirtschaftliche Marktmechanismen? Oder ist es an der Zeit, den holistischen Blick zu schärfen, um das eigene Überleben zu sichern?

Ich nähere mich dieser Frage als pragmatischer Visionär, Trainer und Autor und mit einer Haltung, die Arbeit aus dem Mensch-Sein heraus betrachtet. Was sagt etwa das Produktivitätsparadoxon über unsere Arbeitswelt oder uns Menschen aus? Trotz hoher Investitionen in IT stagnieren die Produktivitätsgewinne. Oder: Warum fehlt vielen Menschen die Freude an ihrer Arbeit? Laut Gallup-Studie 2024 machen 78 % der Befragten lediglich „Dienst nach Vorschrift“ und 9 % fühlen sich emotional mit ihrem Arbeitgeber verbunden (1). Oder: Was überwindet das Konkurrenzverhalten und führt Teams zu Co-Kreation, wenn die Annahme stimmen sollte, dass menschliches Verhalten auf Vergleich programmiert ist?

 

Wir stehen vor vielen Veränderung (2):

  • Der demografische Wandel: In den nächsten Jahren scheiden sieben Millionen Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt aus.
  • 163 Engpassberufe – insbesondere in MINT-Fächern und der Pflege – bleiben unbesetzt.
  • Die Bürokratie in Deutschland verursacht laut Schätzungen jährlich 143 Milliarden Euro wirtschaftlichen Verlust.
  • 96.000 juristische Einzelnormen bremsen Innovationen und verlangsamen Prozesse.
  • Beim Netzausbau mit 30 % hinkt Deutschland dem EU-Durchschnitt mit rund 64 % hinterher

Angesichts dieser Auswahl an Herausforderungen scheint es mir mehr als neue digitale Tools oder noch effizientere Prozesse zu benötigen. Es braucht eine neue innere Haltung – einen bewussten und konsequenten Perspektivwechsel, der in „Laboren zur eigenen Selbstwirksamkeit“ (3) auf das, was Arbeit künftig bedeuten soll, erprobt wird. Denn viele Unternehmen in Deutschland sind weiterhin tief geprägt von klarem Strukturdenken, hohem Sicherheitsbedürfnis und der Angst vor Veränderung – statt von einer Kultur des Ausprobierens und Fehlermachens.

Drei zentrale Aspekte für sinnstiftende Arbeit der Zukunft:

 

1. Lernen als Haltung leben

„Lebenslanges Lernen“ ist längst mehr als ein Schlagwort. Neben klassischen Seminarformaten gewinnen kontinuierliches Selbsttraining durch Re-Skilling (Neues lernen), Up-Skilling (bestehende Fähigkeiten erweitern) und Cross-Skilling (bereichsübergreifendes Lernen) an Bedeutung. Dafür braucht es Neugier, Mut zur Mehrdeutigkeit und die Fähigkeit, mit Ungewissheit umzugehen – gerade in einer Welt ständiger Reizüberflutung und Beschleunigung. Lernen heißt heute vielmehr: Mit Komplexität und Unsicherheit umgehen können. Vertrauen fassen und Bildung weniger weiter als reine Wissensvermittlung, sondern als Haltung zu einem selbstbestimmten Leben verstehen zu lernen.

 

2. Wandel in Organisationen als Chance begreifen

Organisationen stehen an einem Wendepunkt. Während viele Unternehmen bereits flexible Arbeitsmodelle, New-Work-Ansätze oder auch transparente Gehaltsstrukturen einführen, bleiben die dahinterliegenden Steuerungsmodelle oft traditionell: leistungsorientiert, zahlengetrieben und effizient. Diese Parameter haben die Vergangenheit geprägt – doch durch die digitale Entwicklung und den globalen Markt reicht dies nicht mehr aus. Künftig geht es darum, die Tiefe der Veränderungen innerlich zuzulassen – bis hin zur Neubewertung von Wachstum, Leistung und Kooperationsstrukturen.

Der Fokus verschiebt sich: weg vom rein messbaren Output (mehr Umsatz, bessere Rendite etc.), hin zu Resonanz, hin zu Sinn und Co-Kreativität für neue Lösungen. Klassischer Erfolg wird als „glokaler“ Impact (Verbindung lokaler und globaler Projekte) verstanden. Das bedeutet die lokalen Interessen unternehmerischer Produktentwicklung, der CSR oder auch lokaler Vereinsaktivitäten mit den Bedarfen globaler Herausforderungen in Verbindung zu bringen. In die Konzeptionsentwicklungen Vor Ort fließen frühzeitig die Möglichkeiten globaler Partner mit ein. So verbinden sich die Anliegen des eigenen Seins, des Teams mit internationalen Strukturen und weben ein neues Verantwortungsnetz.

 

3. Führung neu denken – Orientierung statt Kontrolle

Führung in unsicheren Zeiten braucht weniger die einsame Spitze und enge Kontrolle, sondern mehr eine ausgerichtete Haltung. Verschiedene der bekannten Führungsinstrumente (z. B. Feedback oder vertrauensbildende Maßnahmen) greifen oft zu kurz. Auch verfehlen Top-down-Prozesse, Leitbilder oder Zielvereinbarungen häufig ihre motivierende Wirkung, da sie systemische Zusammenhänge zu wenig berücksichtigen. Auch die KI-Systeme, die Avatare und Chatbots beeinflussen Beziehungen immer stärker. Mitarbeitende erwarten daher heute eher Orientierung – weniger durch Zahlen, sondern mehr mit Sinn und neuer Beziehungsqualität. So verändern sich die Aufgaben von Führung: Vom Entscheider zum Ermöglicher, vom Wissensvorsprung zum Resonanzraum für Entwicklung. Schafft es der Mensch als empathischer Navigator zu agieren? Als jemand, der noch besser als die KI weiß, wann viele der Ergebnisse der KI in die Praxis eingewoben werden sollen?

 

 

Und nun? Arbeit einfach MACHEN oder EINFACH machen?

Die genannten Veränderungen werfen eine wesentliche Frage auf: Hat der Mensch in der digitalisierten Welt noch die Kraft, sich zu ermächtigen? Die Anforderungen steigen durch selbstlernende Systeme oder Homeoffice, und eine Arbeitsverdichtung führt zur Aktivität im Hamsterrad der Anforderungen. Weiter beschleunigen die stärker werdende KI-Konkurrenz und die globalen Absatzmärkte die Arbeit um ein Vielfaches. All dies erzeugt Druck – kognitiv wie emotional – und bleibt aktuell oft unbeachtet.

Nötige „Future Skills“ werden zwar propagiert, doch sie bleiben vielfach abstrakt. Die Herausforderung ist weniger das Können, sondern vor allem das Wollen. Dies hat erneut mit der Haltung zu tun. Die klassische Personalentwicklung reagiert oft noch mit Fragezeichen auf die Veränderungen. Die Verantwortlichen dort bewegen sich zwar stetig im Spannungsfeld von Wollen, Können und Müssen von Mensch und Beziehung. Aktuell kommt ein neuer unberechenbarer Akteur hinzu: die allgegenwärtige KI, die viele Aufgaben, z. B. im Recruiting, als Ratgeber und Experte übernimmt.

Traditionell lag der Fokus in der Gestaltung von Transformationsprozessen auf der Produktebene (smarte, digitale Lösungen) oder der Organisation (Agilität, Kulturwandel). Die Motivation dahinter war und ist letztlich: Die Effizienz, Rendite und das Wachstum des Humankapitals steigern. Künftig braucht es eher integrative Lösungen, die dem Menschen in seiner Tiefe seinen neuen Platz zuweisen.

Es stellen sich Fragen wie:

  • Was ist menschliche Leistung wert, wenn KI der neue Maßstab ist?
  • Wie bewahren wir als Menschen den Mut zum kreativen Experimentieren in einer Welt, die scheinbar immer effizienter wird?
  • Was bleibt vom Mensch-Sein, wenn die Produktion ohne ihn funktioniert?

KI bietet beeindruckende Möglichkeiten – von virtuellen Testpersonen in der Marktforschung (5) bis hin zu bildgebenden Verfahren zur passgenauen Raumgestaltung (6). Aus der Perspektive des Menschen greifen diese Antworten dennoch oft zu kurz. In vielen der Beiträge auf dem Zukunftstag 2025 hieß es, „der Mensch stehe trotz aller Fortschritte von KI und humanoider Roboter weiter im Mittelpunkt“. Ich frage mich hier: Warum muss das betont werden? Mag es daran liegen, weil wir Menschen die Gefahr spüren und diese Frage aus unserem Verhalten ausblenden? Wenn wir der Faszination für die, oft subtilen Manipulation der Technologie erliegen? Wenn wir den Alltag weiter beschleunigen und die Bewusstheit dem organischen Leben gegenüber so wenig ernst nehmen?

Prof. Sumantra Ghoshal spricht vom „smell of the place“, über den „Geschmack des Ortes“, der während des aktuellen Wandels neu zu finden sei. Darum scheint es in Zukunft zu gehen: Was für ein Spür-Klima brauchen wir als Menschen, damit Arbeit mit und ohne KI und die nötige Leistungserbringung sich stimmig anfühlt? Und hier geht es weniger um Worklife Balance, Gender oder Wokeness, sondern über Silogrenzen hinweg generationenübergreifend zu lernen. Und zu erforschen welche Bedeutung der Mensch gegenüber der lange Zeit vorherrschenden Technisierung überhaupt noch hat.

 

Der Mensch als Resonanzkörper für zukünftige Szenarien?

Regelmäßige Gehaltsanpassungen, Jobräder oder gesundes Essen sind in vielen Unternehmen wichtige Angebote. Diese externen Motivatoren reichen nicht mehr aus, um den Fachkräftemangel und die Arbeitsmoral zu erhöhen. Es geht um die Haltung zu Fragen wie: Was tut jeder von uns konkret, wenn die KI uns auffordert, gewohntes Wissen und Verhalten loszulassen? Folgen wir ohne Widerspruch? Oder: Welche Bedingungen fördern die Freude am Neuen? Ist es der Schmerz oder die Einsicht? Oder: Wie transformieren wir Angst und Scham in Mut, um die Zeiten des Wandels aktiv und weniger reaktiv zu gestalten? Ist dies im Selbsttraining oder in der Gruppe sinnvoll?

Wir stehen am Ende einer Ära stabiler Sicherheiten. Die vierte industrielle Revolution setzt sich durch KI und Automatisierung tiefgreifend fort. Studien wie die von Osborne (7) prognostizieren den Wegfall etablierter Berufsgruppen. Die vernetzte KI überfordert in seiner Geschwindigkeit und Mustererkennung unser hochkomplexes Gehirn. Sie beeinflusst wesentlich Entscheidungsprozesse und baut schon längst das neue Metaverse als digitale Alternative zur physischen Welt. Weiter arbeiten Roboter in der Produktion rund um die Uhr.

In all dem ahnen wir Menschen nicht, was in Zukunft durch Programme wie Grok, Deep Seek oder die Entwicklung der Humanoiden Roboter noch auf uns Menschen zukommt.

Auch deshalb wird eine Fähigkeit immer entscheidender: Die eigene Haltung zum Mensch-Sein im Verhältnis zur KI. Nicht nur als individuelle Einstellung, sondern als sozial-empathische Kompetenz. Darin liegt der wahre Innovationsschub in den Szenarien der Zukunft von Arbeit. Weder EINFACH noch MACHEN, sondern in der Authentizität und Fähigkeit des Menschen, das Ganze und seine Teile neu zu sortieren. Die technologische Entwicklung ist sowieso nicht aufzuhalten, nur der Umgang mit ihr.

Der Mensch und die KI – gibt es ein neues Miteinander?

Was wäre, wenn der Mensch sich sein Sein als ein „virtuelles-Drei-Hand-System“ vorstellt und mit diesem synergetisch zu agieren lernt? Wenn er mit Hilfe des KI-Einsatzes (2. Hand) das eigene Bewusstsein (3. Hand) bewusst transformiert. Dafür nutzt er seine Kompetenz, die Lernprozesse mit einer veränderten Haltung zu optimieren (1. Hand)?

Mit seiner Gabe der technischen Neugier öffnete der Mensch zu Beginn der Moderne die Büchse der Pandora. Vor rund 40 Jahren lud er unwissend ob der Folgen einen neuen Akteur in das Spielgeschehen seines Lebens ein. Entweder fühlt er sich nun als Verlierer und wendet sich resigniert ab oder er erkennt, dass er als Mensch gerade jetzt ein sinnvoller Teil von etwas Größerem darstellen kann.

Noch MACHT die KI einfach. Der Mensch hingegen verleiht dem Ergebnis der KI Bedeutung. Dieser bündelt aus den Ergebnissen Sinn und setzt den Zeitpunkt der Implementierung fest. Damit bleibt er der Resonanzraum, der Kontextgeber, der ethische Kompass dessen, was auch als seine Aufgabe in der Zukunft der Arbeit verstanden werden könnte. Die eigene Arbeit beginnt dort, wo der Mensch sich seiner selbst bewusst wird – als Mitgestalter, nicht als Getriebener und erst recht nicht als Opfer. Aus einer solch inneren Haltung heraus entsteht ein neues „Einfach machen“: nicht aus Angst oder Zwang, sondern aus Klarheit und Verantwortung. Nicht als Reaktion, sondern als bewusste Entscheidung. Liegt genau darin die eigentliche Aufgabe unserer Zeit? Arbeit enkeltauglich ausrichten und gestalten – mit den Möglichkeiten aller technologischen Umwälzungen?

 

 

(1) https://www.gallup.com/de/472028/bericht-zum-engagement-index-deutschland.aspx#ite-657683)

(2) Prof. Dr. Hölzle – Leiterin des Instituts für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement IAT der Universität Stuttgart und das Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO – Vortragsunterlagen

(3) Im Rahmen der Vision einer Possibility biete ich sogenannte „Selbstwirksamkeitslabore“ an, die auf der Basis einer bestimmte Didaktik und Methodik tiefes Wissen erforscht und gleichzeitig pragmatisch umsetzbare Lösungen erprobt.

(4) Vortragsunterlagen Herr Dr. Thomas Fischer und Tim Beichter, Team Business, Education und Innovation, Frauenhofer IAO, Stuttgart

(5) Vortragsunterlagen Dr. Matthias Peissner, Leiter Forschungsbereich Mensch-Technik-Interaktion

(6) Vortragunterlagen Guido Schmitt, creative Coder, FIEL.IO Berlin GmbH

(7) https://www.oxfordmartin.ox.ac.uk/publications/the-future-of-employment

Ich war rund 15 Jahre angestellt und interimistisch tätig, beispielsweise als Niederlassungsleiter und Ge-samtprojektleiter Deutschland bei bofrost* Tiefkühlheimdienst. Weitere Stationen waren Werkstattleiter für Menschen mit Behinderung und im Leitungsteam bei Trainingszentren für psychisch erkrankte Menschen. Zudem leitete ich das Marketing und den Vertrieb beim Marktführer für pharmazeutische Rohstoffe. Etwa zwölf Jahren war ich selbstständig: mit der change – Agentur für Sozialmarketing (u.a. Organisations-entwicklung) und gründete den Würdekompass e.V.. Außerdem entwickelte ich diverse Projekte wie die Future Card, Tinyhäuser als Alterswohnsitz und das Zukunftsforum Rhein-Neckar. Aktuell bin ich als Trainer, Autor und Visionär sowie als Herausgeber des Magazins zur Selbstwirksamkeit WÜRDE Impulse im Atelier zur Selbstwirksamkeit unterwegs. Meine Arbeit basiert auf Kenntnissen in agilen Unternehmens- und Organisationsentwicklungsmethoden, Wirtschaft und Leadership. Darüber hinaus bin ich systemischer Coach, Social Marketer, Diplom-Sozialarbeiter, Diplom-Organisationsentwickler und Tischlergeselle.

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