Einführung
Innovation bleibt nie in erfolgreichen Konzepten verhaftet, sondern bringt ständig neue Ideen hervor: Neben der künstlichen Intelligenz hat in den letzten fünf Jahren die Quanteninformationstheorie, die zur Entwicklung des Quantenbits, kurz Qubits, führte und damit die Grundlage der aktuellen Quantencomputer bildet, eine Menge Aufmerksamkeit auch außerhalb wissenschaftlicher Kreise erregt.
Fortschritte insbesondere im vergangenen Jahrzehnt haben dazu geführt, dass IBM Stand Oktober 2020 bereits 29 programmierbare Quantencomputer außerhalb von Forschungslaboren ans Netz gebracht hat und deren Rechenleistung über die Cloud bisher mehr als 260.000 Interessenten, Kunden und Partnern zur Verfügung stellt.
Obwohl die Technologie noch in den Kinderschuhen steckt, zeigen bereits diese Systeme und das vielfältige Interesse der Nutzer das Potential von Quantencomputern zur Lösung von Problemen, die selbst die leistungsfähigsten klassischen Computer wahrscheinlich auch in Zukunft nicht werden lösen können.
Um weitere wissenschaftliche Fortschritte auf diesem Gebiet zu erzielen, kommerzielle Anwendungen zu entwickeln und Fachleute in Wirtschaft und Wissenschaft auszubilden, arbeiten wir weltweit mit mehr als 125 Unternehmen und akademischen Institutionen im IBM Q Network [1] zusammen. In Deutschland gehören dazu aktuell die Fraunhofer-Gesellschaft, die Universität des Saarlands, die Bundeswehr-Universität München, Daimler sowie der System-Integrator SVA.
Die Zusammenarbeit mit der Fraunhofer-Gesellschaft ermöglicht beispielsweise anderen Unternehmen und Forschungseinrichtungen den Zugang zu IBM-Quantencomputern in Deutschland und den USA unter dem Dach eines bundesweiten Kompetenznetzwerks. Im Rahmen der Kooperation wird dazu unter anderem ein Quantencomputer in unserem Rechenzentrum in Ehningen bei Stuttgart installiert, der unter vollständiger Datenhoheit nach europäischem Recht operiert. Das System geht im Januar 2021 in Betrieb und wird das erste seiner Art in Europa sein. Davon versprechen wir uns auch eine Initialzündung für das Thema Quantum Computing in ganz Europa, um so den Standort auch technologisch weiter voranzubringen.
Jenseits der klassischen Systeme
Für unsere Quantensysteme werden die Qubits in einem Kryostaten beinah auf den absoluten Nullpunkt abgekühlt und anschließend mit Mikrowellenimpulsen manipuliert. Damit werden sie zu Zuständen der so genannten quantenmechanischen Überlagerung, Verschränkung und Interferenz stimuliert, wie sie in der Quantenmechanik beschrieben werden.
Die Entwicklung solcher Systeme ist heutzutage noch recht aufwändig. Aber die Fortschritte insbesondere in den letzten Jahren rechtfertigen unseren Optimismus hinsichtlich eines breiten Einsatzes von Quantentechnologien. Unser Team hat allein in den letzten drei Jahren das Quantenvolumen – ein Leistungsindikator, der die Anzahl der Qubits und auch die sogenannte Fehlerrate des Systems berücksichtigt – jedes Jahr verdoppelt. Aktuell stehen wir bei einem Quantenvolumen von 64. Allein diese Erfolge kann man als frühes Anzeichen für das Quantenäquivalent des Moore’schen Gesetzes sehen. Wir bezeichnen diesen Trend liebevoll als „Gambetta’s Gesetz“ – benannt nach dem IBM Fellow und Leiter unseres Quantum-Teams bei IBM Research, Jay Gambetta.
Neben dem Quantenvolumen gewinnen auch sogenannte Quantenschaltkreise als Messgröße für die Leistungsfähigkeit eines Systems an Bedeutung. Sie bilden die grundlegende Arbeitseinheit für einen Quantencomputer. In Zukunft werden Bibliotheken von Quantenschaltkreisen für Programmierer in weit verbreiteten Programmiersprachen wie C++, python oder Java zur Verfügung stehen und optimal auf die Systeme abgestimmt sein.
Quantensysteme mit ein paar Qubits können nur etwa so viel Information verarbeiten wie ein klassischer 512-Bit-Computer. Da sich die Leistungsfähigkeit eines solchen Systems aber unter anderem durch das Hinzufügen von Qubits im Idealfall exponentiell erhöht, verschiebt sich das Kräfteverhältnis sehr schnell zu Ungunsten klassischer Computer. Bei perfekter Stabilität könnten Quantenrechner mit 300 Qubits in der Lage sein, mehr Datenwerte zu repräsentieren als es Atome im beobachtbaren Universum gibt. Das geht weit über die Fähigkeiten einer beliebigen Bit-basierten IT-Architektur hinaus.
Die IBM Quantum Roadmap 2021 – 2023
Wir haben uns für die nächsten drei Jahre eine sehr ehrgeizige Agenda gesetzt, um die notwendigen Technologien für den breiten Einsatz von Quantencomputern zu entwickeln.
Dazu wird sich ein multidisziplinäres Team unserer Forscher der Lösung von Problemen in den Bereichen Herstellung, Kryogenik und Elektronik sowie der Verbesserung von Software-Fähigkeiten, wie beispielsweise der Fehlerkorrekturkodierung, widmen.
Unsere Planungen sehen vor, dass wir 2021 erstmals einen 127-Qubit-Chip mit dem Codenamen „Eagle“ einsetzen. „Eagle“ wird über mehrere Upgrades zur Reduzierung von Qubit-Fehlern verfügen. Dazu gehört sein einzigartiges Layout, das eine Skalierung der Anzahl der Qubits ermöglicht, die als logische Qubits zusammenarbeiten – die „fehlertoleranten“ Qubits, die zum Erreichen der so genannten Quantum Advantage erforderlich sind.
Diese Skalierung werden wir im Jahr 2022 fortsetzen, wenn unser Team den 433-Qubit-„Osprey“-Prozessor vorstellt. „Osprey“ wird die Grenzen der Herstellungstechniken und die Möglichkeit, kleinere Chips mit mehr logischen Qubits zu bauen, erweitern, ohne dass die Leistung darunter leidet.
Unser Chip mit dem Codenamen „Condor“ wird im Jahr 2023 mit seinen 1121 Qubits ein Meilenstein für die Weiterentwicklung rauschärmerer Qubits sein. Mit ihm werden wir zeigen können, dass Quantencomputer für den Einsatz in der Wirtschaft bereit sind.
Die zusätzlichen Verbesserungen in der Kryogenik und der Qubit-Kontrolle für diesen Chip sowie des dazu gehörigen rund drei Meter hohen und zwei Meter breiten Kühlelements namens „Goldeneye“ ermöglichen nach unserer Vorstellung auch die für eine vollständige Fehlertoleranz erforderliche Skalierung für Systeme, die Millionen Qubits ansteuern können.
Wohin wird uns das über das Jahr 2023 hinaus hinführen? Wir können uns vorstellen, dass es Quantenverbindungen zwischen Systemen mit den oben erwähnten Millionen-Prozessor-Chips geben wird – ähnlich den Intranets, die heute bereits in Rechenzentren die Supercomputing-Prozessoren miteinander verbinden. Es wäre die Schaffung eines massiv parallelen, fehlertoleranten Quantencomputers, der in der Lage ist, die Welt zu verändern und die Basis für eine eigenständige Quantenindustrie zu bilden.
Mögliche Anwendungen
Die enorme Rechenleistung von Quantencomputern hat das Potenzial, exponentielle Fortschritte beim Thema künstliche Intelligenz freizusetzen.
KI-Systeme arbeiten umso genauer, je größer die Datenmengen sind, die von den Algorithmen des maschinellen Lernens, die sie trainieren, klassifiziert und analysiert werden können.
Je präziser diese Daten nach bestimmten Charakteristika oder Merkmalen eingeordnet werden können, desto präzisere Ergebnisse werden im Anschluss durch die KI geliefert.
Beim maschinellen Lernen sind vor allem sogenannte Merkmalsräume interessant – mathematische Räume, die ein Objekt durch seine Messwerte in Bezug auf dessen besondere Eigenschaften bestimmen. Quantensysteme bieten alternative Wege, um einen solchen Raum zu betrachten.
Unser Team erforscht auch, wie Qubits mit Neuronen inspirierten Algorithmen für maschinelles Lernen gepaart werden können. Dafür haben sie bereits einen binären Klassifikationsalgorithmus entwickelt, der bis zu 100 Prozent Genauigkeit auf einem künstlichen Datensatz erreicht.
Mit Hilfe von Quantenrechnern werden aber nicht nur bekannte, bisher unlösbar erscheinende Probleme geknackt werden, sondern auch grundlegend neue Entdeckungen möglich sein.
Nehmen wir zum Beispiel die Chemie. Die Simulation selbst einer relativ einfachen Verbindung wie Koffein würde ein klassisches IT-System mit so vielen Bits erfordern, wie es Atome in der Milchstraße gibt.
Wir haben eine Methode entwickelt, bei der Quantensysteme so eingesetzt werden können, dass dort rechnerisch schwierige Aufgaben ablaufen, während die anderen Teile einer Simulation weiterhin auf klassische Rechner ausgelagert und verarbeitet werden.
So kann beispielsweise heute schon das Verhalten von kleinen Molekülen wie Lithiumhydrid simuliert werden. Wenn eines Tages Hunderte oder gar Tausende von Qubits zusammenarbeiten, um Informationen zu verarbeiten, könnten diese Maschinen alle möglichen natürlichen Systeme simulieren, die wir heute bestenfalls annähernd kennen. Wir könnten sofort wissen, wie sich ein bestimmtes Medikament auf unseren Körper auswirkt. Wir könnten effizientere Batterien bauen, um ein nachhaltigeres Energienetz zu schaffen oder bessere Düngemittel, um die weltweite Nahrungsmittelversorgung zu verbessern.
Quantensysteme könnten auch eingesetzt werden, um effiziente Logistikabläufe zu schaffen, Finanzportfolios dynamisch zu optimieren oder die Materialforschung voranzutreiben.
Gemeinsam Nutzen schaffen
Ein wichtiger Teil des Weges hin zu einer Zukunft mit Quantenrechnern ist der Aufbau einer entsprechenden Interessensgemeinschaft. Wir müssen ein kollektives Gespür und Wissen dafür entwickeln, was Quantum Computing bedeutet und was es kann.
Denn: Ein klassischer, analytischer Algorithmus ist so etwas wie ein Rezept. Er folgt einer Reihe von Schritten, und am Ende erhält der Anwender ein Ergebnis. Ein Quantenalgorithmus ist anders: Hier arbeitet man mit probabilistischen Algorithmen, die keine eindeutigen Ergebnisse, sondern Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Ergebnisse liefern.
Hunderttausende von Interessierten haben in den letzten Jahren bereits die IBM Quantum Experience genutzt, um dort erste Erfahrungen zu sammeln. Mehr als 250 wissenschaftliche Arbeiten wurden infolgedessen veröffentlicht. Kurz: Die Interessensgemeinschaft zum Thema wächst.
Und wo Interessierte und Wissenschaftler vorangehen, folgen oft auch Unternehmen: In den letzten zwei Jahren wurden weltweit etwa 100 Startups im Bereich Quantum Computing gegründet. Eine Analyse der Boston Consulting Group sagt voraus, dass Quantencomputing bis 2024 einen Markt von fünf Milliarden Dollar, bis 2029 von 50 Milliarden Dollar und ein Jahrzehnt später von 450 Milliarden Dollar darstellt.
Wir haben unter anderem deshalb den Bereich IBM Quantum aufgebaut, der sich darauf konzentriert, wissenschaftliche und kommerzielle Anwendungen von vielen globalen Unternehmen wie JPMorgan Chase und Daimler auf diesem Gebiet zu unterstützen. Der deutsche Autobauer nutzte einen Quantencomputer, um beispielhaft das Dipolmoment von drei Lithium-haltigen Molekülen zu modellieren. Das kann uns alle einen Schritt näher an die nächste Generation von Lithium-Schwefel-Batterien (Li-S) bringen, die leistungsfähiger, langlebiger und billiger als die heute weit verbreiteten Lithium-Ionen-Batterien für Elektrofahrzeuge sein werden.
Viele unserer Kooperationspartner im oben erwähnten IBM Q Network nutzen die Möglichkeit, mit unseren Forschern zusammenzuarbeiten, um potenzielle Anwendungen für die Technologie auszuloten und mit Hilfe von Qiskit [2], einer modularen Open-Source-Programmierumgebung, auf unsere Quantensysteme zuzugreifen.
Zusammenfassung
Klassisches, Bit-basiertes Computing hat unsere Welt in den letzten 50 Jahren vollständig verändert. Wir sind überzeugt, dass Quantencomputing Möglichkeiten eröffnen wird, die weit darüber hinaus gehen.
Wir stehen erst am Anfang eines langen Weges. Aber die theoretische Untermauerung und das Fundament der Technologie sind sehr solide. Die Herausforderung besteht jetzt darin, die Leistungsfähigkeit unserer Systeme weiter auszubauen, zu lernen, sie effizient zu programmieren und sie zur Lösung der dringlichsten Herausforderungen in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft einzusetzen.
Quellen und Referenzen
[1] https://www.ibm.com/quantum-computing/
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