Machine Learning kann mehr leisten als Optimierung

Von   Julian Bathelt   |  Consultant   |  Sopra Steria
31. August 2020

Unternehmen setzen große Stücke auf Machine Learning. Die meisten Anwendungsszenarien gehen bislang vor allem in Richtung Optimierung von Prozessen und bestehender Geschäftsmodelle. Doch damit wäre die Technologie unterfordert.
Machine Learning ist spätestens seit den Erfolgen von AlphaGo ein Wachstumsmarkt. 2025 werden mit 126 Milliarden Dollar umgesetzt werden, prognostiziert der Markforscher Tractica. 2018 waren es zehn Milliarden. Die Einsatzmöglichkeiten reichen von Computerspielen, „mitdenkenden“ Robotern, selbststeuernden Fahrzeugen, Bild- und Mustererkennung bis zu virtuellen Assistenten, die natürlichsprachlich mit Menschen kommunizieren (Conversational AI). Mehrere Einflussfaktoren tragen dazu bei, dass die Technologie seit einigen Jahren den Weg vom Forschungsgebiet in die praktische Anwendung findet:

  1. Die Digitalisierung im Allgemeinen sorgt dafür, dass immer mehr Daten zur Verfügung stehen. Es wird geschätzt, dass die verfügbare Datenmenge im Jahr 2020 59 Billionen Gigabyte umfasst. Durch die Entwicklung des Internet-of-Things (IoT) sind zudem immer mehr Geräte miteinander vernetzt.
  2. Die Leistungsfähigkeit der Infrastruktur ist gestiegen – einerseits durch schnellere Prozessoren, andererseits durch die Entwicklung spezieller Machine Learning Chips. Diese Halbleiter verkürzen durch ihre Clusterarchitektur die Berechnungszeit erheblich.
  3. Schnellere Datenübertragungsraten ermöglichen es darüber hinaus, Echtzeitdaten zu sammeln und in kurzer Zeit auszuwerten sowie weiterzuverarbeiten.
  4. Diese schnelleren Datenübertragungswege erlauben zudem, Machine-Learning- Microdienste bekannter Technologiekonzerne zu verwenden. Sie werden als fertiger Service bereitgestellt und nach Aufwand (Pay per Use) bezahlt. Aufwändige Investitionen in leistungsfähige IT-Infrastruktur sind nicht mehr zwingend notwendig.

Machine Learning als Digitalisierer von Geschäftsmodellen

Diese Entwicklungen ebnen Unternehmen den Weg, mit Hilfe von Machine Learning die eigene Arbeit zu verbessern und zu optimieren – beispielsweise Prozesse zu beschleunigen, Arbeiten zu geringeren Kosten durchzuführen und die Qualität von Produkten und Dienstleistungen zu steigern. Darüber hinaus eignet sich die Disziplin als Grundlage, das eigene Geschäftsmodell zu digitalisieren. Drei verschiedene Machine-Learning-Konzepte, auf dem ein digitales Geschäftsmodell basieren kann, lassen sich unterscheiden:

  1. Verarbeitung von strukturierten Informationen: Strukturierte Informationen beschreiben dabei mehrdimensionale Daten, die typischerweise in Datenbanken oder Datenformaten wie csv oder json abgelegt sind. Mit diesen Daten können Verfahren zur Mustererkennung, Clustering, Generierung einer Empfehlung oder eines vorhergesagten Wertes genutzt werden.
  2. Verarbeitung von unstrukturierten Daten: Gemeint sind Daten wie Texte, Bilder, Videos oder Tonaufnahmen. Durch Algorithmen, die neuronale Netze verwenden, ist es möglich, Inhalte dieser Dokumente zu erkennen. Auf diesem Konzept basieren Anwendungen wie Conversational AI, Stimmungsanalysen und die Objekterkennung in Bildern und Videos.
  3. Verwendung von selbstlernenden Systemen: Bei der Verwendung von Reinforcement Learning werden dem System Ziele implementiert. Bei jeder Iteration wird der aktuelle Zustand des Systems bewertet und in Richtung der gegebenen Zielstellung optimiert.

Potenzial von Machine Learning ausschöpfen

In der Praxis ging es bislang häufig darum, mit Machine-Learning-Verfahren bestehende Prozesse und ein etabliertes Geschäftsmodell zu optimieren und eigene Kosten zu senken. Ein Beispiel dafür ist die Betrugsbekämpfung, etwa beim Kreditkartenbetrug im Banking, beim Versicherungsbetrug oder beim Betrug durch falsche Reisekostenabrechnungen. Dabei werden zunächst Modelle aus Vergangenheitsdaten trainiert, die betrügerisches Verhalten abbilden. Wenn tatsächliche Vorgänge nun von diesem Modell als auffällig klassifiziert werden, werden diese Anomalien markiert, um eine genauere Untersuchung durchzuführen.

Ein weiteres Beispiel für die Weiterentwicklung von Produkten ist die Verwendung von Conversational AI, um den Kundendialog persönlicher zu gestalten. Dabei steuern Kunden im Voice Banking ihr Konto per Sprache oder starten im Auto per Dialog eine Navigation. Zudem kann in einem Livechat Conversational AI zur Teilautomatisierung eingesetzt werden.

Der nächste Schritt, den Unternehmen nun langsam wagen ist, neue intelligente Angebote auf Basis von Machine Learning zu entwickeln, die Kunden zusätzliche Mehrwerte bieten. Ein guter Einstieg ist dabei, zunächst einen Service zu entwickeln, der das bestehende Geschäftsmodell vertikal erweitert. Eine Leistung oder ein Produkt erhält beispielsweise eine neue Funktionalität auf Basis von Machine Learning. Dabei werden die Daten, die vom Basisprodukt generiert werden, anschließend analysiert und dem Kunden zur Verfügung gestellt, wodurch ein Mehrwert geschaffen wird. Beispiele für dieses Szenario sind die Skywise Plattform von Airbus sowie der Sam Digital Hub des Industrieunternehmens Samson, der die Auswertung von IoT-Daten ermöglicht. Statt vorhandene Daten durch vortrainierte Modelle zu untersuchen, können Unternehmen auch eigene Machine-Learning-Modelle als Service bereitstellen. Dieses Szenario verfolgen IT-Konzerne wie Microsoft und Google, die ihre Cloud-Plattformen durch KI-Dienstleistungen erweitern.

Machine Learning eignet sich zudem als Einstieg in Geschäftsmodelle, die sich ohne Hilfe von Algorithmen nicht rechnen würden. Häufig werden dabei unstrukturierte Daten wie Texte oder Bilder verarbeitet, die bisher ohne Künstliche Intelligenz nicht automatisch verarbeitet werden konnten. Durch Machine Learning und Deep Learning ändert sich das. Das Unternehmen DeepL bietet beispielsweise an, Texte in hoher Qualität zu übersetzen. Ebenso lässt sich der Kundenkontakt durch Chatbot-Plattformen wie IBM Watson und die Plattform Cognigy automatisieren, indem eine KI-Lösung Anfragen der Kunden eigenständig beantwortet. Robo Advisor ermöglicht Finanzdienstleistern zudem die automatisierte Beratung bei der Geldanlage. Die Unternehmen können so ihr Geschäft auf Zielgruppen ausweiten, für die die Leistung der Vermögensberatung andernfalls nicht profitabel wäre.

Darüber hinaus kann Machine Learning auch Ausgangspunkt für gänzlich neue Geschäftsmodelle sein. Bei der Automatisierung von Geschäftsprozessen werden Machine-Learning-Modelle erstellt, die das bisherige Prozesswissen enthalten. Dieses Prozesswissen lässt sich monetarisieren. Technologiekonzerne haben begonnen, Frameworks zu der Automatisierung von Entwicklerprozessen bereitzustellen. Darunter fällt Facebooks Prophet-Framework, das Zeitreihenanalysen automatisiert. Banken oder Versicherungen können sich hier etwas abschauen und beispielsweise ihr Know-how auf dem Gebiet der Betrugserkennung vermarkten.

Transparenz steigert Akzeptanz

Jedoch können nicht alle erfolgsversprechenden Anwendungen umgesetzt werden oder sorgen sofort für Begeisterung bei Kunden. Zum einen müssen bei jedem Case die berechtigten Datenschutzinteressen berücksichtigt werden. Zum anderen hindern ein geringes Vertrauen in die Ergebnisse der Algorithmen und zu wenig Verständnis für die Materie den Erfolg. Diese Black-Box-Modelle, die schwer nachzuvollziehen sind, schrecken Kunden ab und damit auch die Unternehmen, ihr Engagement auszuweiten.

Forscher versuchen mittlerweile, KI-Modelle erklärbarer zu machen. Ziel ist, die berechtigten Sorgen um Vertraulichkeit und Verlässlichkeit zu lindern. Auf bestehende Modelle kann zum Beispiel das Python-Package SHAP (SHapley Additive exPlanations) aufgesetzt werden. Dieser Ansatz versucht, die verhältnismäßige Aussagekraft der verschiedenen Input-Parameter zu erklären. So soll etwa die Investmentstrategie eines Robo Advisors nachvollzogen werden, indem das Verhältnis zwischen Risiko und Rendite von verschiedenen Anlagen veranschaulicht wird. Die großen Cloud-Anbieter mit ihren umfassenden KI-Lösungen haben den Wert der Modellerklärbarkeit ebenfalls erkannt. Sie haben begonnen, Explainable AI Tools in ihre Angebotspakete aufzunehmen.

Neue Geschäftsmodelle erfordern systematischen Kreativprozess

Mit dem wachsenden Vertrauen in die Technologie und zunehmender Erfahrung werden Unternehmen in neue Ideen investieren und das Potenzial von Machine Learning ausschöpfen. Wichtig für das Innovationsmanagement ist ein Denken über den Tellerrand des aktuellen Geschäfts hinaus. Das erfordert einen systematischen Kreativprozess in Unternehmen, der mehr als nur punktuelle Design Thinking Workshops umfasst. Zudem sollte aus der Idee schnell ein Proof of Concept entstehen, an dem Unternehmen testen können, ob die Anwendungsidee funktioniert. Fertige KI-Services großer IT-Anbieter helfen dabei, diese schnellen Ergebnisse zu erzielen. Neben der technischen und wirtschaftlichen Machbarkeit kommt es darauf an, Kunden früh in den Entwicklungsprozess einzubeziehen. Zur Entwicklung eines marktreifen Produkts sollte anschließend mit einem erfahrenen Data-Science-Team ein eigenständiges Machine-Learning-Modell entwickelt werden, das speziell an die identifizierten Anwendungsfälle angepasst wird.

 

ist Consultant im Bereich Künstliche Intelligenz (KI). Im AI-Lab von Sopra Steria begleitet er Kunden bei Strategie und Umsetzung – von der Identifikation von KI-Anwendungsfällen bis zum produktiven Prototypen. Sein Fokus liegt dabei auf den Themen Conversational AI und Data Science.

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