Die Meinung hält sich: Großunternehmen sind schwerfällig, Entscheidungen brauchen Zeit, Abläufe sind eingefahren. Damit entsprechen solche Unternehmen so gar nicht dem neuen Ideal des jungen, agilen, anpassungsfähigen Arbeitgebers. Stimmt das? Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte, zwischen Agilität und Tradition. Trotzdem Zeit für einen Restart, ein Company Rebuilding.
Die altehrwürdigen Unternehmen haben ein Problem. So wird immer wieder behauptet, sie würden so gar nicht mehr in das Beuteschema von jungen Talenten passen. Der Nachwuchs suche nach dem Coolnessfaktor, meide Hierarchien und angestaubtes Miteinander. Kein „Sie“ mehr, keine Anzüge, keine überkommenen Wertevorstellungen. Das fatale Ergebnis: Im Kampf um die besten Nachwuchskräfte haben die alteingesessenen Unternehmen das Nachsehen.
Wie gesagt: angeblich. Bei einem Blick auf Listen der besten Arbeitgeber in Deutschland bekommt das Bild einen Kratzer. Trendence, nach eigenen Angaben ein unabhängiges Beratungs- und Marktforschungsunternehmen, das Arbeitgebern „Insights bei anstehenden Entscheidungen im Personalbereich“ zur Verfügung stellt, fragt jährlich mehr als 90.000 junge Bewerber nach den attraktivsten Arbeitgebern. Die Ergebnisse erstaunen: Bei den Wirtschaftswissenschaftlern landen Urgesteine wie Daimler, BMW, Audi oder Bosch auf den ersten zehn Plätzen. Sie gehören auch bei den Informatikern zu den Top Ten, wenn auch hinter Google, Microsoft oder Apple. Und bei den Ingenieuren sind sie wieder ganz vorn: Audi, Daimler oder BMW.
Talente für sich gewinnen
Seltsam. Wo sich doch der Markt völlig gedreht hat: Talente wählen sich heute ihren Arbeitgeber selbst aus. Angebote gibt es genug. Start-up statt Konzern scheint die Devise. Wie schaffen es etablierte Unternehmen also, diese Talente für sich zu gewinnen? Sind es flexible Arbeitszeitmodelle, die Work-Life-Balance, Aufstiegschancen oder doch das Gehalt? Haken dran, das bieten alle an, ob groß oder klein, jung, alt oder Hidden Champion. Ein Grund ist: Einige Großunternehmen haben erkannt, dass sie zumindest Teile ihrer Organisation adaptieren müssen. Nicht allein um an die digitalen Talente zu kommen. Das Wettbewerbsumfeld hat sich total verändert. Konkurrenz kommt jetzt nicht mehr nur von den bisherigen Wettbewerbern, mit denen die Dinos der Wirtschaft sich schon immer befassen. Die Quereinsteiger, die Agilen, die Neuen bringen zusätzliche Wettbewerbsrisiken rein. Und die Digitalisierung an sich. Also sind manche der Großen dabei, sich zu restrukturieren. BMW, Adidas oder Deutsche Bahn bilden agile Teams und brechen die bisher als starr und langsam geltenden Strukturen auf. Angesagt sind Open Source, Co-Kreation und Co-Innovation, in der durch eine optimale Kombination von Talenten und Technologie immer wieder neue Stars entstehen.
Was sollten Großunternehmen tun, um den Zug nicht zu verpassen? Allen agilitätshemmenden Ballast abwerfen. Groß ist nicht länger unbedingt ‚beautiful‘ und hilft kaum, die ehemals dominante Marktposition für ein weiteres Jahrzehnt zu sichern. Nicht mehr zeitgemäße Strukturen und jede Menge Overhead – nicht von ungefähr haben die meisten Großkonzerne schon mehrere Effizienz- und Restrukturierungsprogramme hinter sich. Um aber wettbewerbsfähig zu bleiben, wird das nicht ausreichen.
Lehmschicht auflösen, wertschöpfend arbeiten
Denn häufig wurden dabei leider die Zentralfunktionen weiter aufgebläht. Eine neue Hierarchiestufe folgte der nächsten. Sieben, acht Managementebenen keine Seltenheit, wovon ein Großteil die sogenannten Lehmschichten ausmacht. Gute Ideen von unten bleiben auf ihrem Weg nach oben stecken. Und die Offenheit des Topmanagements für innovative Ideen sickerte nicht nach unten durch. Die Lehmschicht gab nur das weiter, was ihre Position stärkte. Agilität, Anpassungsfähigkeit, Spielraum für Kreativität und radikale Innovationen? Fehlanzeige. Alles soll so bleiben wie es ist.
Es geht auch anders. Dazu ein Blick in die Natur. Bei der Zellteilung werden die Bestandteile der Mutterzelle auf die Tochterzellen aufgeteilt. Dazu teilt sich zunächst der Zellkern der Mutterzelle. Dies sorgt dafür, dass die Tochterzellen das gleiche Erbgut haben wie die Mutterzelle. Der Company-Rebuilding-Ansatz funktioniert ähnlich. Das organisatorische Wachstum wird über Plattformen gesteuert, die die Basis für die neue Organisation und mehr Innovationskultur bilden.
Schlagkräftige Teams dank Zellteilung
Den Startpunkt bildet ein Nukleus-Team, also die Mutterzelle. Sie setzt sich aus einem Gründerteam und Experten zusammen, welche die Umsetzung erster Produkte und Prototypen ermöglichen. Hat sich dieses Team um eine Idee herum gebildet, gilt es, diese zu formulieren und mit einem konkreten Kundennutzen zu hinterlegen. Dies ist quasi die Geburtsstunde eines neuen Ökosystems. Dabei ist ganz entscheidend, den spezifischen Nutzen so attraktiv herauszuarbeiten, dass dieser zum Anziehungspunkt für weitere Wertschöpfungspartner wird: Kunden, Talente und Topexperten. Großunternehmen, die sich neu erfinden, machen das häufig so. Entweder sie bauen eine neue Zelle neben der bisherigen Organisation auf, die sich dann unabhängig entwickeln kann – und darf. Oder sie suchen nach agilen Mutterzellen, also Start-ups, und lassen sie auch als Teil des Unternehmens weiterarbeiten wie bisher – nur gefüttert mit Ressourcen.
Ein wichtiger Schritt bei der Bildung des Nukleus und dem Aufbau der Organisation besteht darin, klare Regeln für das weitere Wachstum festzulegen: Unternehmenskultur, Werte, klare Kommunikationswege und Regeln der Zusammenarbeit oder Kontrollmechanismen. Spalten sich Tochterzellen ab, übernehmen sie die in der Mutterzelle angelegten Regeln und das gemeinsame Wertegerüst. Die organisch neu geschaffenen Einheiten haben also quasi ein und dieselbe DNA. Immer haben diese Zellen Kunden und Mitarbeiter gleichermaßen im Auge und beseitigen jegliche Art von nicht-wertschöpfenden Strukturen und Aktivitäten.
Kunden in den Mittelpunkt rücken
Zu welchem Zeitpunkt sollte sich die Mutterzelle teilen? Das kann von der Größe oder vom Kundenbedarf abhängen. Die konkrete Ausprägung jeder neuen Einheit erfolgt – analog biologischer Zellen – angepasst an das jeweilige Umfeld. So wird sichergestellt, dass zum Beispiel lokale Gegebenheiten oder spezifische Kundenbedarfe berücksichtigt werden. Allen organisch gewachsenen Einheiten ist gemein, dass sie regelmäßig relevante Veränderungen des Marktes zurückmelden, um im Zweifelsfall eine Anpassung der Vision herbeizuführen. Die Zeiten der klassischen Visions- und Strategieentwicklung für die nächsten zehn Jahre sind vorbei und bedürfen regelmäßiger Rückkopplung.
Der Company-Rebuilding-Ansatz bietet Großunternehmen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Startups und Neugründungen. Dafür braucht das Nukleus-Team ein ausreichendes Maß an Vielfalt und Ressourcen. Die restliche, also alte Organisation darf nicht auf die Ressourcen des Teams zugreifen, der Nukleus aber auf den Konzern. Denn der bietet gegenüber dem Start-up einen enormen Vorteil: Ressourcen! Monetär, Umsetzungserfahrungen und die Fähigkeit aus der Idee ein vom Kunden akzeptiertes Produkt zu bauen.
Alle Aktivitäten der Einheit sollten darauf ausgerichtet sein, Kunden- und Mitarbeiterwert zu erzeugen. Das Ökosystem muss so attraktiv und erstrebenswert sein, dass es Kunden, Talente und Partner wie einen Magneten gleichermaßen anzieht. Nicht wertschöpfende Aufgaben wie Recruiting oder kaufmännische Themen werden je nach Stärke auf die Mitarbeiter verteilt. Nicht kreatives Chaos ist angesagt, sondern klare Regeln. Und dies betrifft nicht nur die Zusammenarbeit innerhalb der Zellen, sondern insbesondere auch die mit weiteren Zellen oder externen Wertschöpfungspartnern. Mit Company Rebuilding sind Unternehmen definitiv in der Lage, ihre starren Organisationsstrukturen und Lehmschichten aufzubrechen. Wer den erforderlichen Mut und die Konsequenz mitbringt, diesen Weg zu gehen, der wird belohnt. Zum Beispiel durch zufriedenere Mitarbeiter und einen guten Ruf, der dem Recruiting zugutekommt.
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