Wie Unternehmen Barrierefreiheit für höheres Umsatzwachstum nutzen können

Mit der Richtlinie zur Web-Barrierefreiheit (WAD) will die EU erreichen, dass alle digitalen Produkte und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen zugänglich sind. Bislang sind ausschließlich Behörden oder staatlich finanzierte bzw. kofinanzierte Website-Betreiber zur Barrierefreiheit verpflichtet – doch: Ab 2025 wird die Vorgabe für Online-Shops und E-Book-Anbieter ebenfalls bindend sein. Unternehmen, die die Barrierefreiheitsanforderungen nicht erfüllen, müssen mit rechtlichen Konsequenzen rechnen. Nichteinhaltung kann zu Strafen und rechtlichen Klagen führen.
Von   Marion Ranvier   |  Geschäftsführerin   |  Contentsquare Stiftung
31. Mai 2024

Eine der Hauptherausforderungen sind die Kosten für die Umsetzung der Richtlinie. Unternehmen müssen jetzt in Ressourcen investieren, um die erforderlichen Änderungen an ihren digitalen Angeboten vorzunehmen – das bedeutet Entwicklungsausgaben, Designaufwand und Tests. Darüber hinaus kann die Gewährleistung der Kompatibilität zwischen bestehenden Systemen und den Barrierefreiheitsrichtlinien komplex sein. Die mit den entsprechenden Aufgaben betrauten Teams müssen Aktualisierungen und Anpassungen vornehmen, um sicherzustellen, dass ihre digitalen Angebote den Anforderungen der WAD entsprechen.

Ein weiteres Problem besteht oftmals bei der technischen Expertise innerhalb der Unternehmen. Oft ist es schwierig, Mitarbeiter mit dem erforderlichen Wissen und den Fähigkeiten zur Umsetzung der Barrierefreiheitsrichtlinien zu finden; der Fachkräftemangel verschlechtert die Situation zunehmend. Dementsprechend müssen Unternehmen in Schulungen und Fachpersonal investieren – was natürlich grundsätzlich empfehlenswert, jedoch langwierig und in Zeiten des „Big Quit“ prekär ist; oder externe Expertise in Anspruch nehmen, um die gesetzlichen Kriterien zu erfüllen.

Kriterien für inklusive digitale Erlebnisse

 

Um ein inklusives digitales Erlebnis für alle zu schaffen, sollten Webseiten folgende Kriterien erfüllen:

  •  klare und präzise Seitennavigation
  • einfaches und sauberes Design
  • sinnvolle Inhaltsstruktur samt klarer Überschriften
  • Kontrastverhältnis von 4,5:1 für Text und Elemente
  • Schriftgröße von mindestens 14px auf allen Seiten
  •  keine Kursiv- und Majuskelschrift
  •  links- oder zentral ausgerichteten Text jedoch kein Blocksatz
  •  barrierefreie Formulare & Links
  •  Alternativtext bei allen Bildern
  •  klare Sprache mit ausgeschriebenen Abkürzungen und Akronymen (mindestens einmal pro Seite)
  •  korrekt großgeschriebene Hashtags
  •  Untertitel oder Bildunterschriften bei allen Videoinhalten
  •  Visuelle Benachrichtigungen, die sich nicht nur auf den Ton verlassen
  •  Gebärdensprache-Optionen für Videoinhalte
  •  klare Fokusindikatoren
  •  volle Tastaturunterstützung für eingebettete Inhalte
  •  hilfreiche Bilder, wo immer möglich

Die Bedeutung regelmäßiger Tests und Evaluierungen

 

Dabei gilt das Prinzip Langfristigkeit: Regelmäßige Benutzertests und Evaluierungen sind für die dauerhafte Sicherstellung der Zugänglichkeit digitaler Produkte und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen unerlässlich – denn technologische Ökosysteme sind ja durch agile Entwicklung dynamischer denn je. Unternehmen sind demnach gut beraten, ihre Systeme und Verfahrensweisen den sich wandelnden Richtlinien kontinuierlich anzupassen, einschließlich integrierter Tools und Dienstleistungen Dritter.

Jenseits der Technik ist im Rahmen dieses Prozesses auch eine gründliche Sensibilisierung der Teams in puncto gesetzlicher Bestimmungen und Best Practices entscheidend. Es gilt zudem, das richtige Gleichgewicht zwischen weiteren Aspekten wie Kosten, Design und Funktionalität zu finden, um das bestmögliche Benutzererlebnis für wirklich alle Webseitenbesucher zu gewährleisten. Überdies sind passende Metriken und Bewertungsmethoden einzuführen, um den Erfolg der Bemühungen effektiv überwachen zu können; gerade wegen der Ökosystem-Thematik kann diese Aufgabe komplexer sein als zunächst vermutet. Die Verantwortlichen sollten sie daher von Anfang an mit den entsprechenden Ressourcen einplanen.

Hohes wirtschaftliches Potenzial durch Barrierefreiheit

 

Nun ist es allerdings nicht so, dass Unternehmen allein für Ruhm, Ehre und Gesetz in Barrierefreiheit investieren sollten: Neben den moralischen und rechtlichen Verpflichtungen winken durch eine damit einhergehende Vergrößerung der Zielgruppe bzw. einer besseren Erreichungsquote derselben positiven finanziellen Auswirkungen. Tatsächlich weist die Marktgröße von Menschen mit körperlichen Einschränkungen innerhalb der EU und weltweit enormes Potenzial auf, das nicht Wenige unterschätzen dürften.

Dementsprechend ist das Volumen in Europa größer als der gesamtdeutsche Markt; das globale Potenzial entspricht dem von China allein. So leben nach Angaben der EU-Kommission innerhalb der EU 87 Millionen Einwohner mit einer Form der Behinderung; weltweit sind es 1,85 Milliarden Menschen, die gemeinsam laut einer Organisation, die mit über 500 Partnern Inklusion unterstützt, über ein jährlich vorhandenes Einkommen von 1,9 Billionen Dollar verfügen. Barrierefreiheit ist nicht nur ein Menschenrecht, sondern auch ein Gebot der wirtschaftlichen Vernunft – mit dem gewünschten Ergebnis, dass auch hinter dem Bildschirm alle gleich sind.

Kundenloyalität durch bessere Nutzerfreundlichkeit

 

Diese wirtschaftliche Vernunft muss durch Taten gestützt werden: Nach Angaben des digitalen Barrierefreiheit-Experten Stardust verlassen 71 Prozent der Kunden mit Handicaps eine Website, wenn sie schwer zu nutzen ist. 82 Prozent der körperlich beeinträchtigten Anwender zahlt mehr Geld für denselben Artikel auf der Website eines Konkurrenten, wenn diese für sie leicht zugänglich ist. Werden diese Potenziale nicht genutzt, gehen bis zu 30 Prozent des potenziellen Publikums verloren – unabhängig davon, wie kreativ eine Startseite oder eine Marketingkampagne aufgebaut ist. Klare, präzise und rechtskonform gut strukturierte Websites fördern zudem die Kundenloyalität und soziale Inklusion.

Durch die zunehmende Nutzerfreundlichkeit im Netz verschärft sich auch in diesem Umfeld der Wettbewerb. Dazu trägt ganz entscheidend bei, dass Webseiten, die den Barrierefreiheitsstandards entsprechen, bessere Platzierungen bei einer Suchmaschine erhalten. Mehr des kostbaren organischen Traffics ist die Folge. Der Gedanke ist bestechend: Die Umsetzung von Web-Barrierefreiheit kommt ja schlicht nicht nur Menschen mit Beeinträchtigungen zugute, sondern allen – das beinhaltet ältere Mitbürger genauso wie Menschen mit temporären körperlichen Beeinträchtigungen. Schließlich bedeutet barrierefreies Webdesign weniger Reibungspunkte und Frustrationen.

Fazit

 

Um die Förderung der digitalen Barrierefreiheit samt Richtlinien zu erfüllen und eine umfassende Zugänglichkeit ihrer digitalen Produkte und Dienstleistungen sicherzustellen, stehen Unternehmen vor einigen Herausforderungen. Allerdings drängt sich der Verdacht auf, dass sie dabei zu ihrem Glück gezwungen werden müssen. Doch die Investition in Ressourcen, die Gewährleistung der Kompatibilität, die Schulung von Mitarbeitern, die regelmäßige Evaluierung und die Einhaltung der sich ändernden Richtlinien helfen nicht nur, eine inklusive digitale Gesellschaft zu schaffen – sie verhelfen auch zu einer größeren, zufriedeneren und loyaleren Kundenbasis. Umsatzsteigerungen inklusive.

Marion Ranvier ist Geschäftsführerin der Contentsquare Stiftung. Die Stiftung ist eine gemeinnützige Organisation, die sich der Förderung des digitalen Zugangs in den Bereichen Bildung, Technologie und gesellschaftliche Unternehmensverantwortung widmet. Marion Ranvier ist selbst von einer leichten Dyslexie betroffen. Ihre persönliche Erfahrung mit dieser sogenannten ‚unsichtbaren‘ Behinderungen bringt sie in ihre tägliche Arbeit mit ein.

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