Am 21. Dezember 1954, Punkt Mitternacht, sollte eine vernichtende Flut alles Leben auf der Erde auslöschen. Jedenfalls war das die Prophezeiung von Dorothy Martin aus Chicago. Sie hatte diese Warnung von Außerirdischen erhalten, mit denen sie in telepathischen Kontakt stand. Aber es gab auch Hoffnung: Sie und ihre kleine Sekte, die „Seekers“, sollten von den Außerirdischen mit UFOs gerettet werden.
Eine höchst unwahrscheinliche Prophezeiung, die so zum Glück auch nicht eintrat. Dass diese skurrile Episode hier nicht endet, sondern die Geschichte erst danach interessant wird, haben wir Leon Festinger, einem damals 35-jährigen Psychologen an der University of Minnesota zu verdanken. Er bezweifelte, dass die Welt untergehen würde und wollte daher untersuchen, wie die Menschen dieser Sekte damit umgehen, dass keine Raumschiffe kommen würden, um sie zu retten. Deshalb unterwanderte er im Vorfeld des 21. Dezembers 1954 die Sekte mit seinen Mitarbeitern.
Wie verarbeiteten diese Menschen, die teilweise ihre Häuser verkauft und ihre Jobs gekündigt hatten in der Hoffnung auf die bevorstehende Rettung vor dem Untergang, eine solche Enttäuschung? Fielen sie von ihrem Glauben ab und jagten Dorothy Martin zum Teufel? Weit gefehlt. Nach einem kurzen Moment des Entsetzens fand die Sekte einen bemerkenswerten Ausweg aus ihrer misslichen Lage. Sie deuteten die Geschehnisse einfach um: Ihr unerschütterlicher Glaube hatte die Welt vor dem Untergang bewahrt und eine Rettung durch Außerirdische unnötig gemacht.
Dieses mitunter völlig irrationale Ausblenden und Umdeuten von nicht passenden Tatsachen und Geschehnissen ist zutiefst menschlich. Wenn die Realität der eigenen Überzeugung widerspricht, ist der Mensch zu erstaunlichen geistigen Verrenkungen in der Lage, um Weltbild und Realität wieder in Einklang zu bringen. Entsprechend nannte Leon Festinger dieses Phänomen die „Theorie der kognitiven Dissonanz“. Die Dissonanz zwischen Überzeugungen und Realität verursacht demnach eine unangenehme Spannung, die der Mensch aufzulösen versucht, ohne seine bisherigen Überzeugungen aufzugeben, zu hinterfragen oder grundlegend zu korrigieren.
Nüchtern betrachtet wäre es nur logisch, dem Rat von Bertolt Brecht zu folgen: „Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.“ Praktisch ist es aber dann doch nicht so einfach, zu erkennen und vor allem zuzugeben, dass man falsch lag. Da sind wir lieber konsequent und standhaft und bleiben bei unserem mühsam gezimmerten mehr oder weniger schrägen Weltbild. Insbesondere dann, wenn wir schon viel Zeit und Geld dafür investiert haben. Diese kognitive Verzerrung der versunkenen Kosten ist gut belegt und führt in unschöner Regelmäßigkeit in eine Spirale des eskalierenden Commitments, wodurch weitere Investitionen mit den schon getätigten begründet werden.
Einigen Menschen gelingt es trotzdem, ihre kognitive Dissonanz in einer Weise zu lösen, die Erkenntnis und persönliches Wachstum fördert. Sie sehen in der Abweichung der Realität von ihren Annahmen eine willkommene Chance, etwas Neues zu lernen. Wie etwa der Nobelpreisträger Daniel Kahneman, der im Podcast von Adam Grant freimütig erklärt: „I’ve really enjoyed changing my mind because I enjoy being surprised and I enjoy being surprised because I feel I’m learning something.“
Besonders wichtig wird diese Fähigkeit, sich selbst und die eigenen Überzeugungen zu hinterfragen für Führungskräfte. Deren Weltbilder sind in der Regel keine reine Privatangelegenheit, sondern betreffen und beeinflussen viele andere Menschen. Gute Führung ist gekennzeichnet durch eine Balance zwischen überzeugenden Visionen und Standhaftigkeit in der Verfolgung der Ziele einerseits und andererseits der Größe, demütig Vision und Weltbild zu hinterfragen und entsprechend zu korrigieren oder weiterzuentwickeln.
In diesem Sinne frei nach Reinhold Niebuhr: Gib mir die Stärke, meinen Standpunkt zu vertreten, wenn ich richtig liege, gib mir die Demut, meinen Fehler zuzugeben, wenn ich falsch liege und gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
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Wer A sagt, muss nicht B sagen
Von | Marcus Raitner | | Head of Agile @ Allianz | | Allianz Consulting |
8. August 2022
Marcus Raitner ist überzeugt, dass Elefanten tanzen können. Als Agile Coach begleitet er deshalb Unternehmen auf ihrer Reise zu mehr Agilität und menschlicher Lebendigkeit. In seinem Blog schreibt er seit 2010 über die Themen Führung, Agilität, Digitalisierung und vieles mehr: https://raitner.de/
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