Gemeinwohl-Ökonomie: Größer denken statt nur an sich selbst

Was sind die größten Herausforderungen für Unternehmen im digitalen Zeitalter? Die Antworten auf diese Frage lassen sich in den meisten Fällen wohl auf begrenzte Ressourcen zurückführen – ob es sich um Rohstoffe, Bauteile oder Fachkräfte handelt. Das spiegelt sich zunehmend auf dem Arbeitsmarkt wider: Die Menschen streben nicht mehr nur nach einer Work-Life-Balance, sondern auch nach Sinnhaftigkeit ihres Tuns und danach, die Welt zu verbessern. Unternehmen, die offene Stellen besetzen müssen, kommen also nicht mehr umhin, sich den Anforderungen der Arbeitnehmer*innen zu stellen, flexibler in der Arbeitsgestaltung zu werden und sich Gedanken um Themen wie Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung zu machen. Das Konzept der Gemeinwohl-Ökonomie ist ein vielversprechender Ansatz, um dem Wandel auf dem Arbeitsmarkt zu begegnen.
Von   Rita Ehses   |  Managing Director   |  Novatec Consulting GmbH
22. November 2022

Zahlreiche Unternehmen stehen vor der Herausforderung, Stellen nicht mit entsprechend ausgebildeten Fachkräften besetzen zu können. Der Fachkräftemangel ist ein zunehmendes Problem in fast allen Branchen: Dem KfW-ifo-Fachkräftebarometer im Mai 2022[1] zufolge sehen mittlerweile zwei von fünf Unternehmen ihr Business durch den Fachkräftemangel beeinträchtigt. Fakt ist aber auch: Heutzutage suchen sich Arbeitnehmer*innen selbst aus, wo und unter welchen Bedingungen sie arbeiten wollen. Für Unternehmen heißt das, verstärkt mit Mehrwerten zu punkten, die über die üblichen Erwartungen hinsichtlich Arbeitszeiten, Urlaub oder Home-Office-Möglichkeiten hinausgehen. Hier gilt es, größer zu denken als bisher und den Blick auf das Gemeinwohl zu richten.

Gemeinwohl-Ökonomie – ein neuer Plan?

Der Gedanke, als Unternehmen nicht nur an Gewinnmaximierung zu denken, sondern den Erfolg zu teilen, etwas an die Welt zurückzugeben und Verantwortung für Gesellschaft und den Planeten zu übernehmen, ist nicht neu. Die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ), eine Reformbewegung aus Österreich, Bayern und Südtirol, geht noch einen Schritt weiter. Sie postuliert ein alternatives Wirtschaftssystem, in dessen Fokus Kooperation, Verantwortung, Nachhaltigkeit, Solidarität und Vertrauen stehen – anstelle von Gewinnsteigerung, Ausbeutung und Ellenbogen-Mentalität.

Gemeinwohl als Fixstern in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft

Das Gemeinwohl kann und soll zu einer wichtigen Stellschraube in allen Bereichen werden: Auf politischer Ebene schafft die GWÖ die ideale Basis, um verantwortungsvoll mit Mensch und Umwelt umzugehen sowie gemeinschaftlich für den Erhalt aller Lebewesen und der Erde zu sorgen. In der Wirtschaft bietet sie Unternehmen aller Größen die Chance, ihre betrieblichen Entscheidungen an gemeinwohl-orientierten Werten auszurichten. Weite Teile der Gesellschaft halten diese Werte bereits hoch: Immer mehr Verbraucher*innen bevorzugen nachhaltige Produkte, faire Fertigung und transparente Lieferketten. Nahezu alle Unternehmen bekommen also seitens ihrer Kundschaft oder innerhalb der Lieferketten deutlich zu spüren, dass sich etwas verändern muss.

Eine Frage der Werte

Verantwortungsvoller, nachhaltiger und transparenter zu agieren, ist für Unternehmen leichter gesagt als getan. Hier gilt es, sich mit den Konzepten von Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility (CSR) ebenso auseinanderzusetzen wie mit den Ansprüchen der eigenen Stakeholder – ob Partner oder Lieferanten, Kunden oder Mitarbeiter. Bei der Gemeinwohl-Ökonomie handelt es sich um eine Matrix aus vier Werten:

·        Menschenwürde,

·        Solidarität und Gerechtigkeit,

·        ökologische Nachhaltigkeit,

·        Transparenz und Mitbestimmung.

Auswirkungen auf Berührungsgruppen

Anhand dieser Werte lassen sich jedwede Entscheidungen und Maßnahmen beurteilen, indem Unternehmen deren Auswirkungen auf alle Stakeholder analysieren. Stakeholder sind:

·        Kund*innen,

·        Lieferant*innen und Geschäftspartner*innen,

·        Mitarbeiter*innen,

·        Eigentümer*innen und Finanzpartner*innen sowie

·        das gesellschaftliche Umfeld.

So lässt sich beispielsweise überprüfen, ob die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder hybrider wie vollelektrischer Dienstfahrzeuge finanziell zu unterstützen, das nachhaltige Verhalten (Wert) von Mitarbeitenden (Stakeholder) fördert. Auch wird ersichtlich, inwieweit dies die ökologischen Auswirkungen (Wert) auf die Umwelt (Stakeholder) reduziert. Lässt sich dadurch womöglich sogar echte Solidarität und Gleichberechtigung (Wert) innerhalb der Mitarbeitenden (Stakeholder) erzielen? Oder gibt es noch mehr Potenzial, um „unökologisches Verhalten“ der Mitarbeitenden zu reduzieren? All dies lässt sich mithilfe der Werte-Stakeholder-Matrix der Gemeinwohl-Ökonomie beurteilen.

Selbstkritische Betrachtung, um GWÖ zu etablieren

Das genannte Beispiel verdeutlicht, dass viele Unternehmen durchaus schon Maßnahmen ergreifen, die auf eine der Werte-Säulen der Gemeinwohl-Ökonomie einzahlen. Auch wer beispielsweise auf ein papierloses Büro setzt, schont ökologische Ressourcen, befreit die Mitarbeitenden von dokumentenlastigen Prozessen und spart obendrein vermutlich sogar Heizkosten ein, weil keine Büro-Fläche für die Unterbringung von Aktenschränken nötig ist. Der erste Schritt zur GWÖ ist daher eine Analyse der Ist-Situation: Wo steht ein Unternehmen im Hinblick auf die genannten Werte? Der zweite Schritt ist es, Ziele zu definieren: Was soll zum Standard werden? Hier können sich Unternehmen an den Bilanz-Beispielen und GWÖ-Berichten anderer Firmen orientieren[2]. Wenn klar ist, welches Ziel ein Unternehmen erreichen möchte, kann es den Weg dahin skizzieren, Meilensteine festlegen und Verantwortlichkeiten regeln. Dabei sind ein gesundes Maß an Selbstkritik und die ehrliche Betrachtung aller Aspekte unverzichtbar, um Schritt für Schritt die Gemeinwohl-Orientierung im Unternehmen zu etablieren und nachhaltig danach zu handeln.

GWÖ zahlt sich im Kampf um Fachkräfte aus

Hat das Unternehmen seine Ziele oder wichtige Meilensteine erreicht, kann es sich einer GWÖ-Auditierung unterziehen und damit eine GWÖ-Bilanz sowie ein Zertifikat für seine Gemeinwohl-Orientierung erwerben. Das macht die Mentalität und die Bestrebungen des Unternehmen nach außen sichtbar. Dies ist vor allem für stark umworbene Fachkräfte und potenzielle Mitarbeitende ein relevanter Mehrwert. Denn neben Gehalt und dergleichen spielen zunehmend auch tiefergehende Werte im beruflichen Kontext eine Rolle. Dann wird auch ein Pendler-Ticket für den ÖPNV zum Pluspunkt gegenüber einem Dienstwagen-Angebot – für potenzielle Bewerbende wie für die bestehende Belegschaft.

Chancen und Hürden der GWÖ im Unternehmen

Gelebte Gemeinwohl-Ökonomie macht Unternehmen attraktiv und sorgt für ein positives Image. Dies begeistert nahezu alle Stakeholder. Darüber hinaus können sich steuerrechtliche Vorzüge ergeben und die Unternehmen haben unter Umständen sogar einen Vorteil bei der Vergabe von Fördergeldern. Doch der Weg dahin ist nicht ohne Stolpersteine: Eine Umstrukturierung zu einem gemeinwohlorientierten Unternehmen beginnt in den Köpfen der Manager*innen und der Mitarbeitenden. Dieser mentale Wandel benötigt ebenso Zeit wie die Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen. Folglich gilt es, die gesamte Belegschaft, alle Führungskräfte und die Geschäftsleitung gleichermaßen von Beginn an einzubeziehen. Dass es dabei unbequem werden kann und womöglich liebgewonnene Privilegien verloren gehen, ist vielen nicht von vornherein klar. Ebenso wenig, dass es kein Gemeinwohl ohne Transparenz – etwa hinsichtlich Finanzierung oder Gehaltszahlungen – geben kann. Daher sind fortwährende Benefits und Anreize wichtig, um das Thema permanent zu rechtfertigen und in den Köpfen dauerhaft präsent zu halten. Denn die GWÖ kein Einmal-Projekt, wie viele denken, sondern ein Prozess, der nachhaltig und daher langfristig ausgelegt ist.

Den großen Wandel klein beginnen

Um dauerhaft Fachkräfte, Partnerschaften und Kundenbeziehungen zu pflegen sowie auszubauen, müssen Unternehmen sich über ihr Portfolio hinaus positionieren. Die GWÖ als zukunftsweisendes Konzept ist ein möglicher Weg – wenn auch nicht ohne Hürden und Kritik, was die Praktikabilität betrifft. In jedem Fall ist sie ein optimaler Startpunkt für eine große und vermutlich unabwendbare Veränderung. Dennoch sollten Unternehmen zunächst klein anfangen und erste Impulse sammeln, bevor sie sich gezielt und dauerhaft der Realisierung einer Gemeinwohl-Ökonomie widmen.

Quellen

[1] https://www.kfw.de/PDF/Download-Center/Konzernthemen/Research/PDF-Dokumente-KfW-ifo-Fachkr%C3%A4ftebarometer/KfW-ifo-Fachkraeftebarometer_2022-05.pdf
[2] https://www.novatec-gmbh.de/wp-content/uploads/NOVAT-3526_Gemeinwohlbericht_RZ_2018.pdf

Als Managing Director leitet Rita Ehses die Ressorts „People, Culture & Organization“ und „Sales & Marketing“. Sie setzt sich auch dafür ein, dass die Mitarbeitende nach den Prinzipien der Gemeinwohl-Ökonomie leben und handeln: 2020 wurde Novatec als erstes deutsches IT-Unternehmen GWÖ-zertifiziert.

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