Europa braucht digitale Eigenständigkeit – jetzt erst recht
Die Weltordnung ist ins Wanken geraten. Die USA sind nicht länger Garant für Frieden und Demokratie. Mit der zweiten Amtszeit von Donald Trump hat sich nicht nur der Ton verändert, sondern die transatlantische Zusammenarbeit generell – und das betrifft natürlich auch die Digitalisierung. Wer heute europäische Digitalpolitik gestaltet, tut gut daran, politische Risiken in technologische Entscheidungen einfließen zu lassen – und nicht länger in Routinen zu verharren.
Der Wandel kam nicht über Nacht. Doch er hat in den letzten Monaten an Tempo gewonnen. Die Rhetorik aus Washington ist unberechenbar geworden. Wirtschaftspolitische Entscheidungen erfolgen sprunghaft, sicherheitspolitische Kooperationen werden fallweise infrage gestellt. Das bleibt nicht ohne Folgen für Europas digitale Infrastruktur, die im Bereich IT-Service-Management ebenso wie im Bereich klassischer Office-Softwarelösungen sehr oft auf Cloud-Technologien und Plattformen aus Übersee aufbaut. Das Vertrauen in die Kontinuität amerikanischer Dienste ist erschüttert – und mit ihm die Gewissheit, dass digitale Abhängigkeiten folgenlos bleiben.
Die Cloud und die Vertrauensfrage
Ein zentrales Problem liegt in der Cloud-Infrastruktur, die auf den ersten Blick Effizienz, Skalierbarkeit und Verfügbarkeit verspricht. Doch hinter dieser Fassade lauert die Abhängigkeit: Auch Daten, die in europäischen Rechenzentren gespeichert werden, unterliegen oft dem Zugriff US-amerikanischer Behörden – ermöglicht durch gesetzliche Regelungen wie den Cloud Act oder den Patriot Act. US-amerikanische ITSM-Anbieter, die mit europäischer Datenschutzkonformität werben, können sich dieser Zugriffsmöglichkeiten nicht entziehen.
Dabei geht es nicht nur um Datenschutz im engeren Sinne. In Zeiten wachsender geopolitischer Spannungen kann technologische Kontrolle zur Waffe werden. Der Rückzug von US-Diensten aus strategisch relevanten Regionen – etwa der zeitweilige Stopp satellitengestützter Aufklärung in der Ukraine – hat eine neue Dimension digitaler Verwundbarkeit sichtbar gemacht. Wer sich allein auf außereuropäische Cloud-Anbieter verlässt, riskiert den Totalausfall im Krisenfall. Die digitale Souveränität Europas ist damit keine theoretische Debatte mehr, sondern eine Frage strategischer Resilienz.
Diese Erkenntnis betrifft insbesondere staatliche Institutionen und Kritische Infrastrukturen – also jene Bereiche, in denen ein Ausfall nicht nur wirtschaftliche, sondern gesellschaftliche Konsequenzen hätte: Verwaltungen, Krankenhäuser, Sicherheitsbehörden, Energieversorger. Viel zu oft dominieren dort ITSM-Lösungen aus amerikanischer Produktion. Eine echte Neubewertung der Risiken steht vielerorts aus, obwohl regulatorische Vorgaben längst in diese Richtung weisen.
Souveränität durch Open Source
Es bedarf eines Perspektivwechsels: Wer digitale Systeme plant, muss künftig fragen, wie unabhängig sie im Ernstfall betrieben werden können. Wie steht es um die Kontrollierbarkeit des Codes? Welche Optionen bestehen bei Dienstunterbrechung? Und welche Alternativen existieren, um kritische Geschäftsprozesse unabhängig aufrechtzuerhalten?
Die Antwort liegt näher, als viele denken. Europäische Softwarelösungen – insbesondere quelloffene Systeme – bieten einen Ausweg aus der transatlantischen Abhängigkeit. Ihr großer Vorteil: Sie sind nachvollziehbar, auditierbar und anpassbar. Wer auf Open Source-Modelle setzt, reduziert nicht nur die Gefahr externer Zugriffsmöglichkeiten, sondern gewinnt auch die Kontrolle über eigene Daten und Prozesse zurück. Das betrifft nicht nur die technische Ebene, sondern auch Fragen der Preispolitik und des langfristigen Betriebsmodells.
Zahlreiche öffentliche Einrichtungen haben diesen Weg bereits eingeschlagen. Einige Landesregierungen setzen ebenfalls auf quelloffene Software, teils strukturell, teils in Modellprojekten. Andere beschreiten hybride Pfade: durch Kombination europäischer Cloudanbieter mit lokaler Datenhaltung. Solche Ansätze schaffen Redundanz, ermöglichen Ausfallsicherheit und eröffnen neue Handlungsoptionen – gerade im Fall politischer oder wirtschaftlicher Verwerfungen.
Welchen Weg schlägt Europa ein?
Europa steht an einem Scheideweg. Wer sich auf seine Werte beruft, muss sie auch technisch verteidigen. Das bedeutet nicht Isolation oder Abschottung, sondern bewusste Diversifikation. Die Vorstellung, Technologiepolitik könne von der geopolitischen Lage entkoppelt werden, ist eine Illusion. Digitalisierung ist heute ein Feld strategischer Auseinandersetzung – nicht nur zwischen Unternehmen, sondern zwischen politischen Ordnungen.
Die digitale Resilienz Europas lässt sich nicht importieren. Sie muss hier entwickelt, betrieben und politisch geschützt werden. Dazu gehören nicht nur Technologien, sondern auch neue Standards, Bildungsprogramme, Fördermechanismen – kurz: eine strategische Industriepolitik für den digitalen Raum. Europa hat das Potenzial, seine eigene digitale Handschrift zu entwickeln. Was fehlt, ist der Wille, dies konsequent zu tun.
Dabei sind die europäischen Werte kein Hemmnis, sondern eine Chance. Gerade in Zeiten zunehmender technischer Überwachung, algorithmischer Intransparenz und kommerzieller Monopolisierung kann Europa ein Gegenmodell bieten – eines, das Datenschutz, Nachvollziehbarkeit und Nutzerorientierung in den Mittelpunkt stellt. Doch dieses Modell muss aktiv gestaltet werden. Wer nur reagiert, verliert. Es braucht einen klaren politischen Auftrag, flankiert von einer innovationsfreundlichen Regulierung und strategischen Förderprogrammen, bei denen der Staat gezielt als Nachfrager solcher Lösungen auftritt.
Auch wirtschaftlich birgt eine europäisch geprägte Digitalinfrastruktur enormes Potenzial. Regionale Anbieter können spezifischere Lösungen entwickeln, auf nationale Anforderungen und langfristige Partnerschaften eingehen. Besonders im ITSM-Bereich, der lange von US-Riesen beherrscht wurde. Die oft zitierten Skaleneffekte der Tech-Giganten verlieren an Bedeutung, wenn Vertrauen, Datensicherheit und Servicequalität zur zentralen Währung digitaler Wertschöpfung werden.
In der Bildungslandschaft sollte digitale Souveränität ebenfalls stärker verankert werden. Informatik-Studiengänge, aber auch berufliche Weiterbildungen, müssen künftig stärker auf Open-Source-Kompetenzen, Datenschutzgrundlagen und IT-Sicherheitsfragen eingehen. Nur so entsteht eine Generation von Fachkräften, die technologische Entscheidungen nicht nur konsumiert, sondern kritisch einordnen und strategisch mitgestalten kann.
Nicht zuletzt ist auch die Zivilgesellschaft gefordert. Digitale Selbstverteidigung, Verschlüsselung, Plattformkritik – all das sind Felder, in denen Bürgerinnen und Bürger aktiv werden können. Ein aufgeklärter öffentlicher Diskurs über die Risiken und Chancen der Digitalisierung ist Grundvoraussetzung für mündige Entscheidungen – auf individueller wie politischer Ebene.
Ein erneuertes digitales Europa bedeutet nicht, auf technologische Zusammenarbeit zu verzichten. Es bedeutet vielmehr, diese Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu führen. Wer eigene Kompetenzen, Infrastrukturen und Standards etabliert, kann international partnerschaftlich agieren, ohne sich erpressbar zu machen. Autonomie und Kooperation schließen sich nicht aus – sie bedingen einander.
Die kommenden Jahre werden zeigen, ob Europa den Mut zur Neujustierung aufbringt. Die Weichenstellungen erfolgen heute. Und sie reichen weit über die IT-Welt hinaus. Denn in einer zunehmend vernetzten Gesellschaft entscheidet digitale Unabhängigkeit letztlich über wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, politische Handlungsfähigkeit und gesellschaftliche Selbstbestimmung.
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