Mit Datenanalyse schnell auf Nachfragewandel reagieren

Von   David Colls   |  Director, Data & AI Practice, Australien   |  ThoughtWorks
  Sue Visic   |  Director, Data & AI Practice, Australien   |  ThoughtWorks
16. Oktober 2020

Die weltweiten Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie machen sich bei allen Unternehmen in Form tiefgreifender Veränderungen der Nachfragemuster bemerkbar. Die Restriktionen unserer Bewegungsfreiheit – ob staatlich verordnet oder selbst auferlegt – haben nicht nur unser tägliches Leben auf den Kopf gestellt, sondern auch die Rolle, die Unternehmen darin spielen. Viele Firmen kämpfen mit rückläufigen Auftragszahlen oder stehen vor dem Aus, andere hingegen florieren und verzeichnen gewaltige Umsatzsteigerungen. Der öffentliche Sektor und Gemeinschaftsorganisationen haben enorm an Bedeutung gewonnen.
Um in diesem dynamischen Umfeld den richtigen Kurs zu halten, ist die effiziente Nutzung von Daten unumgänglich. Unternehmen müssen sich einerseits auf die gegenwärtige Realität einlassen, um den veränderten Kundenbedürfnissen zu entsprechen, sich andererseits jedoch für die Zeit vorbereiten, wenn das öffentliche Gesundheitswesen und die Konjunkturbelebungsmaßnahmen auf „Normalniveau“ zurückgefahren werden. Selbst solche Unternehmen, die derzeit boomen, können jetzt und künftig Daten effizienter nutzen.

Veränderte Kundennachfrage

Aktuell ist unsere Welt von Grenzkontrollen und Abstandsregeln geprägt. Modeunternehmen fertigen Masken und OP-Kittel, Brennereien produzieren Handdesinfektionsmittel und Hotels dienen als Quarantäneeinrichtungen. Dennoch geht das Leben weiter. Weitergehen wird es auch für Unternehmen, denen es gelingt, sich an die veränderte Kundennachfrage anzupassen.

Diese Market Pivots basieren auf einem breiten Spektrum an Nachfrageveränderungen: vom kompletten Geschäftsausfall – Beispiel Fluggesellschaften – bis zu einem kaum noch bewältigenden Anstieg bei Onlinebestellungen, wie ihn etwa Supermärkte verzeichneten. Andere Unternehmen müssen sich auf die Zunahme von komplexen individuellen Interaktionen mit Kunden einstellen, beispielsweise Banken, die mit Stundungsanträgen überschwemmt werden, oder Firmen, die auf andere Vertriebs- und Lieferkanäle umstellen, einschließlich der Remote-Delivery ihrer Leistungen.

Unternehmen sind oft jedoch nicht nur mit einem dieser Aspekte konfrontiert, sondern mit mehreren Szenariengleichzeitig und auch diese dürften sich im Laufe der Zeit neu strukturieren. Um effektiv auf diese Veränderungen reagieren zu können, muss unabhängig von den jeweiligen Gegebenheiten die Veränderung der Nachfrage genau verstanden werden. Sinnvoll ist es, die Nachfrageveränderungen auf einer Skala einzuordnen, von Potenziell katastrophale Geschäftsauswirkungen bis Positive Geschäftsauswirkungen. Dadurch erhalten Unternehmen eine Orientierungshilfe dafür, wie sie die Folgen abfangen und Schlimmeres vermeiden können. So lassen sich Merkmale der einzelnen Szenarien und entsprechende Beispiele folgendermaßen veranschaulichen:

Umverteilung von Personal in großem Stil

Eine der unmittelbarsten Reaktionen auf eine veränderte Nachfrage ist die umfassende Neuverteilung von Mitarbeiter:innen, sowohl innerhalb als auch zwischen Unternehmen. Zu beobachten ist diese Maßnahme in allen Szenarien, z. B. bei Flugbegleiter:innen, die im Einzelhandel aushelfen, Technologieunternehmen, die Plattformen für Arbeitssuchende erstellen oder Staubsaugerfabrikanten, die mehr Personal einstellen, um Beatmungsgeräte herzustellen.

Bei solch einer massiven Umverteilung von Personal sind Lösungen gefordert, die es ermöglichen, neue und komplexere Aufgaben wahrzunehmen, mehr Verbraucher schneller mit Dienstleistungen zu versorgen, wirksame Feedbackschleifen zu entwickeln, sowie Unternehmen bei der kontinuierlichen Anpassung an neue Bedingungen zu assistieren. Sorgfältig konzipierte datengestützte Lösungen eignen sich besonders gut, um die Tätigkeiten der Menschen zu unterstützen und zu skalieren. Damit die datengestützten Lösungen jedoch auch die gewünschte Wirkung zeigen, müssen die Unternehmen wichtige Punkte berücksichtigen.

Bestehende Modelle hinterfragen

 Bei der Konzeption der Reaktionen gilt es mehr zu berücksichtigen als nur die veränderte Nachfrage von außen. Als Erstes müssen die Unternehmen den Blick nach innen richten und ggf. schwierige Entscheidungen bezüglich ihres Vorgehens treffen. Das schiere Tempo des Wandels unterstreicht das Gebot der digitalen Transformation, unverzüglich Prioritäten zu setzen, Entscheidungen zeitnah zu treffen und schnell über historisch gewachsene Aufgabenbereiche hinweg zu handeln.

Bei den Szenarien Nachfragewegfall oder Market Pivots müssen sich die Unternehmen außerdem mit verschiedenen Zukunftsaussichten auseinandersetzen und abwägen, wie lange die Situation wohl anhält, wie schnell sich die Nachfrage erholen wird und in welchem Maß. Unternehmen, die ihre Leistungen über digitale Kanäle erbringen, und solche, die einen nachhaltigen Nachfrageanstieg verzeichnen, müssen sich ebenfalls Gedanken über die Zukunft machen, wenn auch aus anderer Perspektive.

Bei komplexen individuellen Kundeninteraktionen und plötzlichen Nachfrageanstiegen begeben sich etablierte Unternehmen auf unbekanntes Terrain. Diese Unternehmen verfügen über historische Daten- und Wissensbestände, die angesichts der jüngsten Ereignisse nicht mehr von Relevanz sein dürften. Einfach ausgedrückt wurden Maschinen trainiert, das menschliche Verhalten vorherzusagen. Wenn die Menschen sich nicht wie erwartet verhalten, versagen auch die zu ihrer Unterstützung geschaffenen Modelle.

Tatsächlich können die vorhandenen Modelle und historischen Daten mehr schaden als nützen. Manche Unternehmen haben massive Schwierigkeiten, bei Alerts zu ungewöhnlichen Transaktionsvolumina den Überblick und die Kontrolle zu behalten. Zusätzlich kann die Zunahme von komplexen individuellen Kundeninteraktionen ein Indiz für den bevorstehenden Rückgang oder sogar kompletten Wegfall der Nachfrage sein. Schließlich sind plötzliche Nachfrageanstiege, wie Panikkäufe von Toilettenpapier, besser zu vermeiden; dafür werden zusätzliche Ressourcen benötigt, um diesen sprunghaften Anstiegen gerecht zu werden. Außerdem haben sie immense Auswirkungen auf die komplette Prozesskette (upstream und downstream).

Anhand der Skala für Nachfrageveränderungen, der Umverteilung von Personal und der zu beachtenden Punkte, haben wir eine Reihe datengestützter Reaktionsmaßnahmen identifiziert, die Unternehmen in Betracht ziehen sollten.

Datengestützte Reaktionen

Nachfragewegfall

In Phasen stagnierender oder nicht vorhandener Aufträge müssen Unternehmen gezielt überlegen, welche Tätigkeiten sie pausieren und wie sie ihre Arbeitskräfte anderweitig einsetzen können. Je länger die Kapazitäten aufrechterhalten werden, desto eher sind Unternehmen in der Lage mit anderen Maßnahmen zu reagieren.

Daten sollten hierbei die treibende Kraft der Modellierung von Szenarien sein. Auch wenn die Ausgangsdaten und Annahmen für die Modellierung bei COVID-19 kaum präzise die Realität abbilden, ist der Prozess der Modellierung dennoch von Nutzen. Durch den Prozess der Modellierung werden Annahmen in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang gestellt und somit Schwachpunkte innerhalb der Prozesse aufgedeckt. So können Unternehmen in einer kollaborativen Arbeitsweise mehrere mögliche Zukunftsbilder erkunden.

Market Pivots

Durch die datengestützte Untersuchung, wie die Analyse von Marktsegmentierungen, lassen sich potenzielle Market Pivots ermitteln, besonders in Kombination mit qualitativen Techniken wie User Research. ML- und KI-Lösungen ermöglichen eine schnelle Anpassung an neue Marktbedingungen. Anpassung bedeutet hier, die Grundbausteine der Warenproduktion und Dienstleistungserbringung neu zu ordnen, um der veränderten Nachfrage auf einem neuen Markt gerecht zu werden.

Menschen sind flexibel, Maschinen sind skalierbar. Bei der Anpassung gilt es also, die richtige Mischung aus Automatisierung, Erweiterung und Enablement zu finden: Automatisierung von volumenstarken oder dringenden Entscheidungen (z. B. Bewilligung von Darlehen oder Ansprüchen), Erweiterung zur Skalierung von Entscheidungen von hohem Wert (wie die Bereitstellung von erstklassigem Kundenservice) und Enablement für den Austausch von Best Practices. Wir haben zum Beispiel mit Kund:innen zusammengearbeitet, um Teams mit Werkzeugen auszustatten, die auf Computer Vision basieren und bei der Qualitätssicherung unterstützen. Dabei sollte darauf geachtet werden, so simpel wie möglich erste Lösungen zu entwickeln, um so schnell wie möglich erste Nutzen zu generieren. Danach kann aus der Lösung gelernt und diese verbessert werden. So lässt sich ein optimales Ergebnis bei schnellstmöglicher Wertschöpfung realisieren.

Komplexe individuelle Kundeninteraktionen

 Die Nutzung von Daten zur Bewertung von komplexen individuellen Kundeninteraktionen war noch nie so wichtig wie heute. Wenn Unternehmen schnell über die Art der Nachfrage Bescheid wissen, können sie auch das Volumen besser bedienen sowie nicht wertschöpfende Tätigkeiten mittels proaktiver Automatisierung reduzieren. So könnten Banken beispielsweise frühzeitig erkennen, welche Kunden auf einen finanziellen Engpass zusteuern und diesen vorab entsprechende überbrückende Services anbieten.

Das Kundenbetreuungsteam wird zunehmend um Chatbots erweitert, die gängige Anfragen abwickeln. So bleibt den Mitarbeiter:innen mehr Zeit, sich komplexeren Aufgaben zu widmen, die ein höheres Urteilsvermögen erfordern.

Plötzlicher Nachfrageanstieg

Auch hier ist das Abflachen der Kurve oberstes Gebot. Strommärkte sind ein gutes Beispiel für die Steuerung einer oft recht schwankenden Nachfrage. Verwendet man eine Kombination vielfältiger Datenquellen, ist die daraus resultierende Vorhersage robuster und die Nachvollziehbarkeit, welche Maßnahmen diese plötzlichen Nachfrageanstiege ausgleichen oder glätten steigt immens. Gerät die Nachfragesteuerung an ihre Grenzen, reagieren Strommärkte u. a. mit zusätzlichen Kapazitäten. Hier können wieder ML- und KI-Lösungen eingesetzt werden, um vorhandene Kapazitäten zu erweitern.

Remote-Delivery

Derzeit nutzt offenbar so gut wie jeder Haushalt irgendeine Form der Remote-Delivery. Kinder erhalten Tanzstunden und Karatetraining per Videoschaltung, der Online-Handel erfährt einen beispiellosen Boom, und sogar soziale Kontakte werden digital gepflegt.

Digitalen Unternehmen fällt es selbstverständlich leichter, sich schnell auf die aktuellen Gegebenheiten einzustellen. Wer bei der Digitalisierung nachhinkt, muss aber nicht verzweifeln, denn schließlich gibt es Partnernetzwerke: Social-Media-Kanäle, digitale Ladenfronten und Lieferservices. Mithilfe von Daten können Unternehmen ihre Kundenbeziehungen auf diesen neuen Vertriebs- und Lieferkanälen fortführen und sicherstellen, dass das digitale Kundenerlebnis dem physischen in nichts nachsteht.

Nachhaltiger Nachfrageanstieg

Ein unerwartetes und anhaltendes Wachstum der Nachfrage bietet Unternehmen die einzigartige Chance, vermehrt in die Resilienz und Skalierbarkeit der zugrunde liegenden Systeme zu investieren. Die Bewertung der aktuellen technischen Architektur und die Planung der Migration auf eine moderne Datenarchitektur [1] bieten die Chance, die Datenintegration zu modernisieren und das Potenzial erweiterter Analysefunktionen noch besser auszunutzen.

Durch die Skalierung leistungsstarker Analysefunktionen können Entscheidungsträger in mehr Bereichen ihres Unternehmens aus komplexen Daten in Echtzeit Informationen ableiten und diese zeitnah in sinnvolle Maßnahmen für ihre Kunden umsetzen. Begleitende Praktiken wie Modelle für Continuous Delivery for Machine Learning (CD4ML/MLOps) tragen dazu bei, ein Ökosystem für nachhaltiges Wachstum aufzubauen, das auch in Zukunft Bestand hat.

Zusammenfassung

Die verschiedenen Dimensionen der veränderten Kundennachfrage wirken sich in den einzelnen Unternehmen sehr unterschiedlich aus. Allen gemein ist jedoch, dass sich jedes Unternehmen neuartigen Veränderungen gegenübersieht. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die vorhandenen Möglichkeiten einfallsreich und erfinderisch zu nutzen – wie die guten alten Pioniere.

Unternehmen müssen in der Lage sein, blitzschnell zu reagieren, Entscheidungen in Sekundenschnelle zu treffen und in völlig neuen Formen umzusetzen. Daten und ML-/KI-Lösungen sind dabei unverzichtbar. Nur so können wir hier und jetzt reagieren, entscheiden und handeln, um für die Zukunft gerüstet zu sein.

Lösungen, die sich szenarienübergreifend iterativ und vernetzt erstellen lassen, ermöglichen es den Unternehmen schnell, effektiv und wohlbehalten ans Ziel zu gelangen.

 

Quellen und Referenzen

[1] https://www.thoughtworks.com/clients/psma-australia

 

Als Director, Data and AI Practice leitet David Colls bei ThoughtWorks die Entwicklung von Data- und KI-Services. Um die Herausforderungen der Kunden zu lösen nutzt er seine Erfahrung bei der Realisierung komplexer Technologielösungen und seine Leidenschaft für kundenorientierte Ergebnisse.

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