Cybersicherheit braucht gemeinsame Standards
NIS2 bringt Cybersicherheit auf die europäische Agenda – und das ist gut so. Die Richtlinie setzt klare Impulse: für Verantwortung in der Führungsetage, für schnellere Reaktionszeiten und für eine neue Sicht auf Lieferkettenrisiken. Doch damit aus Vorgaben auch Wirkung entsteht, braucht es mehr als nationale Alleingänge und formale Pflichterfüllung. Ohne gemeinsame Standards droht ausgerechnet das zu fehlen, was NIS2 eigentlich schaffen soll: echte Resilienz.
Sicherheit wird endlich zur Führungsaufgabe
Die Richtung stimmt. Sicherheit ist kein reines IT-Thema mehr, sondern wird klar in der Unternehmensführung verankert. Durch die Pflicht zu Schulungen und die Benennung von Verantwortlichen im Top-Management entsteht ein neues Bewusstsein für die Bedeutung von Cyberrisiken und -Sicherheit. Die gestaffelte Incident-Meldung sorgt dafür, dass Vorfälle nicht länger unter der Oberfläche bleiben, sondern sichtbar und damit bearbeitbar werden.
Auch der Fokus auf die Lieferkette ist längst überfällig: Wer digitale Produkte verantwortet, trägt auch Verantwortung für deren Zulieferer. Sicherheit darf nicht als externe Variable behandelt werden: Sie beginnt beim Design und endet nicht beim Deployment.
Risiken durch fehlende Einheitlichkeit
Trotz dieser positiven Entwicklungen offenbart sich in der Praxis eine wachsende Herausforderung: die uneinheitliche Umsetzung in den EU-Mitgliedstaaten. Jedes EU Land definiert eigene Anforderungen, Meldeportale und Fristen. Das führt zu Unsicherheit und in vielen Fällen zu doppeltem oder dreifachem Aufwand, ohne zusätzlichen Sicherheitsgewinn.
Was als Harmonisierung gedacht war, läuft so Gefahr, in nationale Alleingänge zu zerfallen. Unternehmen, die grenzüberschreitend tätig sind, sehen sich mit einem Flickenteppich an Vorgaben je nach Land konfrontiert. Die Folge ist ein wachsender bürokratischer Aufwand bei gleichzeitig sinkender Übersichtlichkeit.
Wenn Compliance zur Pflichtübung wird, ohne die Sicherheitslage wirklich zu verbessern, droht ein gefährlicher Zielkonflikt. Denn kein Formular – so korrekt es auch ausgefüllt sein mag – verhindert einen tatsächlichen Cyberangriff. Und keine Deadline für die Meldung eines Vorfalls erhöht automatisch die Reaktionsgeschwindigkeit, wenn die Prozesse dahinter nicht klar abgestimmt sind.
Was NIS2 braucht, um Wirkung zu entfalten
Damit NIS2 nicht zum zahnlosen Papiertiger wird, braucht es europäische Lösungen, über nationale Regelungen hinaus. Die Richtlinie hat das Potenzial, den Standard für Cybersicherheit in Europa nachhaltig zu prägen. Doch dafür muss sie praktikabel und einheitlich werden.
Einheitliche Meldekanäle statt 27 Parallelwelten
Aktuell existieren in jedem EU-Mitgliedstaat eigene Meldeportale, Fristen und Kategorien. Das ist für Unternehmen mit internationalem Geschäft nicht nur unübersichtlich, es führt auch zu ineffizienten Doppel- oder Dreifachmeldungen.
Ein zentraler, EU-weit abgestimmter Zugangspunkt mit gemeinsamer Taxonomie würde hier entscheidend helfen: Ein Vorfall müsste nur einmal eingestuft, beschrieben und gemeldet werden – auf Basis eines europaweit anerkannten Vorfalltypsystems. Das spart Zeit, reduziert Unsicherheiten in der Kommunikation und verbessert gleichzeitig die Datenlage für alle Beteiligten: Von Unternehmen über Behörden bis hin zu Aufsichtsinstanzen. Einheitlichkeit schafft Transparenz und verhindert, dass Sicherheit an Zuständigkeitsgrenzen scheitert.
Ein gemeinsamer Standard für Lieferkettensicherheit
Viele Unternehmen stehen außerdem vor der Herausforderung, hunderte oder gar tausende Zulieferer regelmäßig zu bewerten. Oft mit unterschiedlichsten Anforderungen je nach Land, Branche oder Zertifizierungsstelle. Das erzeugt erneut unnötige Komplexität und verhindert einen konsistenten Überblick über die tatsächliche Risikolage.
Ein europaweit anerkannter, minimaler Standard für die Sicherheitsbewertung von Zulieferern – z. B. auf Basis eines abgestuften Selbst-Assessments – könnte hier Abhilfe schaffen. Solch ein Standard müsste nicht alles abdecken, aber könnte eine belastbare Basis schaffen: technisch, organisatorisch und regulatorisch. Ein gemeinsames Grundniveau würde Vertrauen schaffen und wiederkehrende Prüfprozesse effizienter machen.
Gemeinsame Spielregeln für NIS2, DORA und GDPR
Die regulatorischen Anforderungen im Bereich Datenschutz, IT-Resilienz und Cybersicherheit überschneiden sich zunehmend. Unternehmen, die DORA-konform sein müssen, unterliegen meist auch NIS2 und GDPR, mit jeweils eigenen Terminologien, Prozessen und Berichtspflichten.
Wer diese Vorgaben getrennt behandelt, produziert nicht nur Redundanzen, sondern riskiert auch Widersprüche. Ein Vorfall, der unter NIS2 gemeldet wird, muss ggf. auch unter GDPR gemeldet werden – jedoch mit anderen Fristen und Formalitäten.
Ein integrierter Umsetzungsrahmen, mit abgestimmten Definitionen, Schnittstellen und Workflows, würde es Unternehmen ermöglichen, Vorfälle durchgehend konsistent zu behandeln. Nicht drei Vorgaben, drei Systeme, drei Reports, sondern ein einheitlicher Incident-Workflow. So ließe sich regulatorische Komplexität entschärfen und die operative Sicherheit stärken.
Erfolg zeigt sich nicht auf dem Papier
Zuletzt: Regulatorische Vorgaben wie NIS2 entfalten ihre Wirkung nicht durch ihre bloße Existenz – sie müssen im täglichen Handeln lebendig werden. Ein ausgefülltes Formular mag rechtlich erforderlich sein, doch es sagt nichts darüber aus, wie gut ein Unternehmen tatsächlich auf Cyberbedrohungen vorbereitet ist. Der wahre Maßstab für den Erfolg von NIS2 ist nicht die Erfüllung formaler Pflichten, sondern eine messbar gestärkte Widerstandsfähigkeit gegenüber realen Risiken.
Die zentrale Frage lautet daher: Hat sich durch NIS2 tatsächlich etwas verbessert? Wird heute schneller reagiert, sicherer agiert und nachhaltiger gelernt als zuvor? Entscheidend ist, ob Unternehmen in der Lage sind, Vorfälle frühzeitig zu erkennen, effizient einzugreifen und aus Fehlern systematisch zu lernen. Denn nur dann wird aus Compliance echte Resilienz.
Wirklicher Fortschritt ist messbar – und muss auch gemessen werden. Dafür braucht es klare Kennzahlen, die über kosmetische Reporting-Pflichten hinausgehen. Einige Beispiele:
- Wird ein Vorfall schneller erkannt? (Mean Time To Detect – MTTD): Frühzeitige Erkennung ist der erste Schritt zu wirksamem Schutz. Wer schneller sieht, kann schneller handeln.
- Wird er effizienter behoben? (Mean Time To Recover – MTTR): Nicht die Existenz eines Vorfalls entscheidet, sondern die Geschwindigkeit und Qualität der Reaktion.
- Werden Ursachen systematisch analysiert und wiederkehrende Muster erkannt? Nur durch strukturierte Ursachenanalysen lassen sich langfristige Schwachstellen beheben.
- Wie viele Sicherheitslücken in der Lieferkette bleiben trotz Maßnahmen bestehen? Diese Zahl zeigt, ob externe Risiken ernsthaft gemanagt oder lediglich verwaltet werden.
Diese Kennzahlen können zeigen, ob die richtigen Strukturen geschaffen wurden oder nur neue Berichtspflichten. Nur wenn diese Werte sich verbessern, erfüllt NIS2 sein Versprechen. Entscheidend ist, dass Sicherheitsverantwortliche entlastet und nicht belastet werden. Reporting darf kein Selbstzweck sein.
NIS2 ist ein notwendiger Schritt in Richtung digitaler Resilienz, aber es darf nicht der letzte sein. Nur wenn die EU über nationale Umsetzungshürden hinweg klare, praktische und einheitliche Strukturen schafft, kann die Richtlinie ihr volles Potenzial entfalten. Und der Maßstab dafür ist nicht die Papierlage, sondern operative Wirksamkeit.



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