Automatisierung im Mittelstand – von Insellösungen zur Strategie

Automatisierung im Mittelstand scheitert oft nicht an der Technik, sondern an fehlender Strategie. Statt integrierter Lösungen entstehen Insellösungen, die Prozesse fragmentieren statt entlasten. Um echte Effekte zu erzielen, braucht es einen systematischen Blick auf Strukturen, Abläufe und Ziele – jenseits kurzfristiger Trends. Automatisierung wird dann wirksam, wenn sie ganzheitlich gedacht, operativ verankert und als Teil unternehmerischer Weiterentwicklung verstanden wird.
Von   Eduard Kobert   |  Managing Partner   |  finatycs
6. August 2025

Automatisierung im Mittelstand – von Insellösungen zur Strategie

 

Theorie vs. Realität: Warum Automatisierung oft am Alltag scheitert

In der Theorie ist vieles klar: Prozesse sollen standardisiert, Systeme nahtlos integriert, Mitarbeitende frühzeitig eingebunden und Automatisierung entlang klar definierter Ziele umgesetzt werden. Doch in der Realität mittelständischer Unternehmen sieht es oft anders aus. Zwischen Zeitdruck, Ressourcenkonflikten und organisatorischer Komplexität entstehen Lösungen, die weniger geplant als improvisiert wirken – notdürftig zusammengefügt, um schnelle Entlastung zu schaffen. Die Folge sind Insellösungen, die weder operativ greifen noch langfristig tragfähig sind. Eine aktuelle Studie von McKinsey zeigt, dass 61 Prozent der Mittelständler sich zwar gut auf die Digitalisierung vorbereitet sehen, doch meist ist damit nur die IT-Perspektive gemeint, etwa die Einführung neuer Softwarelösungen oder die Modernisierung der IT-Infrastruktur. Aspekte wie digitale Geschäftsmodelle, veränderte Kundenbedürfnisse oder die Transformation von Unternehmenskultur und Prozessen bleiben dabei häufig außen vor. Entsprechend wertet nur etwa jeder zweite die Digitalisierung überhaupt als echte Chance.

Was verloren geht, ist der Blick aufs Ganze. Was als Verbesserung gedacht ist, wird zum blinden Reagieren – nicht auf Ursachen, sondern auf die lautesten Nebeneffekte. Es fehlt an der operativen Tiefenschärfe, Prozesse werden digitalisiert, ohne vorher zu verstehen, was sie eigentlich antreibt. Gleichzeitig orientieren sich strategische Entscheidungen zu oft an kurzfristigen Trends oder methodischen Buzzwords wie „agiler Führung“, ohne die eigentliche Systemlogik zu durchdringen.

Die Folge: statt flexibler wird die Organisation fragmentierter, statt Ressourcen zu sparen, bindet sie neue. Deshalb braucht es einen Schritt zurück – zu den Prinzipien sinnvoller Automatisierung. Dazu gehören Fragen, die oft übergangen werden: Was soll verändert werden? Warum dieser Prozess? Und welches Ziel wird langfristig verfolgt? Erst wenn diese Grundlagen geklärt sind, kann Automatisierung echten strategischen Mehrwert bieten – als Weiterentwicklung, nicht als digitale Symptombehandlung.

 

Wenn Routine zur Bremse wird – Prozessrealität im Mittelstand

Neben der technischen Systemlandschaft stellen auch die alltäglichen Arbeitsabläufe in vielen mittelständischen Unternehmen eine zentrale Hürde dar, wenn es um Automatisierung geht. Prozesse sind häufig über Jahre gewachsen, wurden schrittweise digitalisiert oder durch pragmatische Lösungen ergänzt. Das Ergebnis: analoge Teilschritte, manuelle Übergaben und eine Vielzahl redundanter Tätigkeiten, die zwar funktionieren, aber kaum Effizienzreserven bieten.

Gerade in administrativen Bereichen wie Finanzwesen, Personal oder Einkauf zeigt sich, wie hoch der Aufwand für wiederkehrende Aufgaben ist – vom händischen Abgleich von Daten über doppelte Eingaben bis hin zu papierbasierten Freigaben. Solche Prozesse kosten Zeit – und damit Geld, Verzögerungen und Fehler, die in Summe eine reibungslose Zusammenarbeit erschweren. Wie groß das Potenzial zu Automatisierung sein kann, zeigt eine Studie von PwC aus dem Jahr 2020: Dort erzielten Unternehmen im Accounting durch den Einsatz von Robotic Process Automation (RPA) Zeitersparnisse von bis zu 84 Prozent. RPA eröffnet die Möglichkeit, Prozesse ganzheitlich neu zu denken.

Und genau hier liegt die Herausforderung: Häufig fehlt der klare Überblick über Abläufe, Zuständigkeiten und Potenziale zur Verbesserung. Prozesse laufen abteilungsintern nach unterschiedlichen Logiken, Standards sind selten definiert. Das erschwert die Automatisierung nicht nur technisch, sondern auch organisatorisch – denn ein nicht strukturierter Prozess lässt sich kaum digital abbilden.

 

Von Potenzial zur Umsetzung – Automatisierung mit Struktur und Substanz

Sobald erkannt und verstanden ist, dass Automatisierung mehr als ein technisches Upgrade ist, beginnt die eigentliche Arbeit: die Vorbereitung. Statt direkt zur Lösung zu greifen, braucht es zunächst eine systematische Analyse der bestehenden Strukturen und Prozesse. Dabei stehen zentrale Fragen im Fokus:

  • Wo entstehen in unserem Prozess vermeidbare Aufwände?
    Welche Schritte kosten übermäßig viel Zeit oder erfordern manuelle Eingriffe?
  • Was ist die eigentliche Ursache wiederkehrender Probleme?
    Geht es um fehlende Schnittstellen, unklare Zuständigkeiten oder um Prozesslogiken, die nicht mehr zur Realität passen?
  • Wie tief reichen diese Ursachen ins System hinein?
    Sind einzelne Abläufe betroffen oder zeigt sich ein strukturelles Problem, das mehrere Bereiche durchzieht?
  • Was verändert sich, wenn ein Prozess angepasst wird?
    Welche Auswirkungen hätte die Veränderung auf vor- oder nachgelagerte Schritte und wo könnten dadurch neue Brüche, Abhängigkeiten oder Schnittstellenprobleme entstehen?

Gerade im Mittelstand ist es verlockend, pragmatisch zu agieren: „Mal sehen, wie weit wir kommen.” Aber: Der ganzheitliche Blick ist entscheidend, denn Automatisierung entfaltet ihr volles Potenzial nur als Teil eines durchdachten Gesamtkonzepts – mit einem klaren Ziel, nachvollziehbarem Mehrwert und der Offenheit, nicht nur bestehende Systeme, sondern auch gewohnte Denkweisen mit in den Blick zu nehmen.

Dazu gehört auch, sich bewusst mit Fragen der Umsetzung auseinanderzusetzen:

  • Wie tiefgreifend soll das neue System integriert werden?
  • Welche Schnittstellen sind notwendig?
  • Wie intuitiv muss es für Mitarbeiter sein?
  • Wie anschlussfähig muss es für zukünftige Entwicklungen sein?

 

Prozesse im Realitätscheck: Was sich wirklich automatisieren lässt

Die operative Grundlage erfolgreicher Automatisierungsprojekte liegt in der präzisen Prozessanalyse. Im Fokus steht die Identifikation von Routinen, die durch Regelmäßigkeit, klar definierte Entscheidungspunkte oder hohes Volumen geprägt sind. Typische Beispiele sind die Belegerfassung in der Finanzbuchhaltung, das Onboarding neuer Mitarbeiter oder die systematische Freigabe von Bestellungen. Wichtig ist, diese Abläufe nicht nur technisch zu erfassen, sondern sie gemeinsam mit den Fachabteilungen in ihrer gelebten Realität sichtbar zu machen – inklusiver Umwege, Excel-Schritten, E-Mail-Schleifen und individuellen Workarounds, die sich etabliert haben. Entscheidend dabei: Die Analyse darf nicht an Abteilungsgrenzen enden. Nur eine End-to-End-Betrachtung zeigt auf, wo Prozesse wirklich beginnen und enden, welche Übergaben stattfinden und an welchen Stellen eine punktuelle Automatisierung am Ende mehr Fragmentierung als Effizienz schafft.

Gerade diese informellen Elemente zeigen, wo digitale Unterstützung sinnvoll ansetzen kann, denn Automatisierung sollte mehr als nur den Idealprozess abbilden. Sie muss auch die Realität strukturieren, ohne sie zu überfrachten. Erst auf dieser Basis kann beurteilt werden, welche Prozessschritte sich sinnvoll standardisieren lassen, welche Eingriffe automatisierbar sind und an welchen Stellen menschliche Entscheidungen weiterhin notwendig bleiben.

Wichtig dabei: Automatisierung darf nicht bei der Überbrückung technischer Lücken stehen bleiben. Gerade im Mittelstand ist der Reiz groß, punktuell mit Lösungen wie RPA schnelle Entlastung zu schaffen, was jedoch oft bestehende Schwächen zementiert. Strategisch sinnvoll ist Automatisierung erst dann, wenn sie dort ansetzt, wo Prozesse ursprünglich gedacht und gesteuert werden: im ERP-System, im FIBU-Tool, in der digitalen Dokumentenverarbeitung oder im Controlling-Cockpit. Wenn die Kernsysteme selbst automatisierungsfähig und sauber angebunden sind, kann Effizienz dauerhaft entstehen und Automatisierung wird zur tragfähigen Weiterentwicklung, nicht zum Reparaturmodus.

Ein Beispiel aus der Praxis zeigt diesen Übergang deutlich: In einem mittelständischen Unternehmen mit dezentraler Buchhaltung wurden Eingangsrechnungen anfangs über einen RPA-Bot erfasst: Der Bot öffnete E-Mail-Postfächer, speicherte Anhänge ab und übertrug Basisdaten manuell in das Buchungssystem. Die Maßnahme sorgte kurzfristig für Entlastung, war jedoch fehleranfällig, schwer wartbar und abhängig von Oberflächenänderungen. In Phase 2 entschied sich das Unternehmen für die Einführung eines dokumentenbasierten Workflow-Systems mit direkter Anbindung an das ERP-System. Rechnungen wurden nun automatisch klassifiziert, Belegdaten extrahiert, mit Bestellungen abgeglichen und über ein zentrales Freigabesystem direkt zur Buchung übergeben. Die frühere RPA-Lösung wurde abgelöst und mit ihr viele manuelle Notlösungen, die nötig waren. Der Unterschied: Während RPA Symptome überdeckte, ermöglichte die systemintegrierte Lösung eine strukturelle Verbesserung der gesamten Prozesskette.

 

Automatisierung als Wegbegleiter – nicht als Selbstzweck

Diese konkreten Anwendungen zeigen: Automatisierung ist dann wirksam, wenn sie nicht nur technische Prozesse ersetzt, sondern den Menschen dabei unterstützt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren – und Systeme schafft, die sich an den Alltag anpassen, nicht umgekehrt.

Die daraus resultierenden Effekte lassen sich in der Praxis klar benennen: stabilere Abläufe, kürzere Durchlaufzeiten, weniger Fehlerquellen und deutlich entlastete Teams. Darüber hinaus bietet Automatisierung einen nachhaltigen Nutzen: automatisierte Prozesse schaffen Transparenz über Zuständigkeiten, Abläufe und Datenflüsse. Sie ermöglichen es Unternehmen, schneller auf Veränderungen zu reagieren, Engpässe frühzeitig zu erkennen und auf verlässlicher Datenbasis zu entscheiden. Besonders im Mittelstand, wo Ressourcen oft begrenzt und Rollen breit gefächert sind, wird Automatisierung zum strategischen Hebel: für Wachstum, Skalierbarkeit und Zukunftsfähigkeit.

Automatisierung ist kein Selbstzweck – sie ist ein strategischer Weg in die Zukunft. Wer diesen Weg aktiv und vorausschauend gestaltet, schafft mehr als effizientere Prozesse: Festlegung des Grundsteins für eine anpassungsfähige, resiliente Organisation. Erfolgreiche Unternehmen nutzen Automatisierung als Chance, ihre Strukturen weiterzuentwickeln, Kompetenzen auszubauen und Raum für kontinuierliches Lernen zu schaffen. Der Aufruf ist klar: Jetzt ist der Moment, Automatisierung nicht nur technisch, sondern unternehmerisch zu denken. Denn nur wenn neue Lösungen auch mitwachsen dürfen, entfalten sie ihren vollen Nutzen.

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