Wer will schon Digitalisierung im Bewerbungsprozess? Niemand, könnte man glauben, wenn man dem wissenschaftlichen Artikel im Fachjournal „Personnel Assessment and Decision“ [1] von vor vier Jahren Glauben schenken darf. Heute sieht es anders aus. Das belegen aktuelle Umfrageergebnisse.[2] Es zeigt sich, dass das Gegenteil der Fall ist: Bewerber*innen nutzen digitale Tools überaus gerne, um den Bewerbungsprozess zu beschleunigen, beispielsweise durch One-Klick-Bewerbungsmöglichkeiten oder automatisierte Formulare. Geht es allerdings um das gegenseitige Kennenlernen, ist das Bild differenzierter: Video-Interviews werden zwar von fast jedem als hilfreich eingestuft und Plattformen zur Selbsteinschätzung bzw. Online-Assessments mag immerhin noch jeder zweite. Von einem digitalen Recruiter jedoch wollen nur die wenigsten eingestellt werden.
Anschreiben sind überbewertet
Ein Bewerbungsanschreiben aufzusetzen dauert lange. Noch dazu ist seine Aussagekraft weniger hilfreich als von den meisten Entscheider*innen angenommen wird.[3] Warum es also nicht einfach weglassen und stattdessen für Bewerber*innen eine Möglichkeit schaffen, das Unternehmen und die zukünftigen Aufgaben im Rahmen einer digitalen Fallstudie praktisch kennenzulernen, ganz bequem von zu Hause aus? Und anschließend zu einer Unterhaltung mit dem zukünftigen Teamleiter einladen – ohne Standardfragen, sondern im gezielten Austausch über das, was Spaß macht am Job, was besonders leichtfällt und auf welche Themen sich der oder die Kandidat*in zukünftig fokussieren möchte? Aber auch: Wo braucht es Unterstützung und Ergänzung durch andere? Wieder digital – dieses Mal als Videocall. Und wenn es nicht zur Einstellung kommt, trotzdem eine differenzierte Rückmeldung austauschen? Möglich wird das erst durch ein digitales Einzel-Assessment.
Digitales Einzel-Assessment: Just do IT
Technisch gesehen sind für ein digitales Einzel-Assessment nur zwei Dinge nötigt: Eine Content-Plattform sowie eine Möglichkeit zur automatisierten Informationsauswertung und -aufbereitung. Wie geht das? Automatisierte Auswertungen können bei entsprechendem Knowhow etwa durch die Open Source Software R erstellt werden. Mit dieser Scriptsprache werden durch die Eingabe von Befehlen in eine Konsole Assessment-Ergebnisse eingelesen, ausgewertet und graphisch dargestellt, vergleichbar zu Excel. Während man in Excel allerdings für jeden Datensatz die Auswertung neu vornehmen muss, kann das einmal erstellte Skript in R beliebig oft per Knopfdruck ausgeführt werden.
Aber es kommt noch besser: Mittels entsprechender Zusatzpakete lassen sich mit R nicht nur Grafiken, sondern auch vollständige Reports erstellen. Einzelne Textbausteine werden automatisch eingefügt, je nachdem wie die Assessmentergebnisse ausfallen. Darüber hinaus lassen sich aus einer eigens dafür erstellen Datenbank Interviewfragen in den Report einfügen, die thematisch zu den individuellen Interessen, Stärken und Entwicklungs- oder Ergänzungsbedarfen der Kandidat*innen passen.
Sh*t in – sh*t out: Auf die Qualität der Inhalte kommt es an
Inhaltlich gilt für ein digitales Einzel-Assessment was für jede Analysemethode gilt: Sh*t in – sh*t out. Deswegen ist fundiertes Recruiting Knowhow notwendig, um einen Prozess zu gestalten, der sowohl den Kandidat*innen wie auch den Entscheider*innen Mehrwerte bringt. Grundlegend dafür ist die Erkenntnis, das Kennen nicht gleich Können ist. Nur weil ein Unternehmen verspricht, einen bestimmten Gestaltungsspielraum oder eine bestimmte Art von Lernerfahrung zu ermöglichen, heißt das noch lange nicht, dass das im Tagesgeschäft dann auch wirklich so ist. Gleiches gilt für die Entscheidenden: Nur weil ein Kandidat oder eine Kandidatin erfolgreich von sich behauptet, etwas zu beherrschen, heißt das nicht, dass er oder sie diese Aufgaben schlussendlich erfolgreich bewältigen kann.
Der Designprozess des Einzel-Assessments beginnt mit verschiedenen Fragen: Was macht ein Stelleninhaber*in während der Arbeitswoche? Was muss er oder sie intellektuell, zwischenmenschlich oder handwerklich leisten? In welcher Zeit und mit welcher Unterstützung gelingt das? Auf diesen Fragen aufbauend werden digitale Arbeitsproben erstellt, die den Arbeitsalltag und die dazugehörigen Leistungsanforderungen möglichst realistisch wiedergeben. Account Manager sollten zum Beispiel einen produktspezifischen Argumentationsleitfaden ausarbeiten oder ein Software Engineer im Rahmen einer Coding-Challenge entsprechende Fähigkeiten unter Beweis stellen. Weil sich unsere Arbeitswelt schnell ändert, sind Kandidat*innen gefragt, die nicht nur aktuelle Aufgaben erfolgreich bewältigen, sondern auch zukünftige Herausforderungen meistern können. Interessant ist beispielsweise zu erfahren, wie gut neue fachliche Zusammenhänge gemerkt oder wie schnell logische Aussagen auf ihre Richtigkeit überprüft werden können. Deswegen benötigen Unternehmen einen zweiten Zugang zu den Fertigkeiten der Bewerber*innen: Diesen erhält man, indem die digitalen Arbeitsproben durch Selbsteinschätzungs- und kognitive Leistungsaufgaben ergänzt werden.
Die Auswertung von digitalen Arbeitsproben erfordert die Einschätzung durch jemanden, der die Arbeit der zu besetzenden Stelle gut kennt. Ergänzende Aufgaben können meistens automatisiert ausgewertet werden. Durch die aktive Auseinandersetzung mit den Aufgaben haben sowohl Kandidat*in wie auch Entscheider*in die Möglichkeit im geschützten Rahmen, konkrete Erfahrungen mit der Aufgabenbewältigung zu machen. Im darauffolgenden Videocall können dann die Ergebnisse und Erfahrungen ausgetauscht, ergänzt oder vertieft werden. Hilfreich sind dabei Fragen, die mit Hilfe des automatisierten Reportings passgenau auf die Kandidat*innen abgestimmt werden. Darüber hinaus kann ein erster gegenseitiger, persönlicher Eindruck gewonnen werden. Ziel ist es, gemeinsam abzuschätzen, ob ein „face-to-face“-Kennenlernen sinnvoll ist – und zwar für beide Seiten.
An der digitalen Schmerzgrenze
„Speed is king in Recruiting“, deswegen wollen Unternehmen möglichst sofort nach dem ersten persönlichen Kennenlernen eine Entscheidung treffen. Aber: Jeder hat seine Vorlieben und das ist ungünstig, wenn diese dazu führen, dass Berufsmöglichkeiten verwehrt bleiben und den Unternehmen Gewinne entgehen, wie der Diversity wins [4] Bericht der Unternehmensberatung McKinsey nahelegt.
Hier können Algorithmen zu einer fairen Auswahl verhelfen. Die Kernannahme besteht darin, dass ein Algorithmus weniger Vorlieben hat als ein Mensch [5] und deswegen unvoreingenommenere Entscheidungen treffen kann. Tatsächlich zeigen zwei weitreichende wissenschaftliche Studien, dass Einschätzungen durch Algorithmen um etwa 10 Prozent zutreffender sind als Einschätzungen, die auf einer gemeinsamen Ergebnisdiskussion basieren. Die erste diesbezügliche Untersuchung wurde vor 20 Jahren von Professor W. Grove und seinem Team an der University of Minnesota durchgeführt. Die Auswertung 136 einzelner Studien kam zu dem Ergebnis, das eine regelbasierte Entscheidungsfindung fast immer so gut oder besser ist, wie eine Entscheidungsfindung durch gemeinsamen Austausch.[6] Die Untersuchung wurde neun Jahre später von einem Team um Professorin S. Aegisdottir wiederholt. Dieses Mal wurden strengere Kriterien zur Auswahl der einzelnen Studien verwendet. Die ausgewerteten 76 Studien zeigen, dass die mechanische Entscheidungsfindung zu 13 Prozent genauere Vorhersagen macht als gemeinsam diskutierte Einschätzung [7]. Trotz dieser starken Fakten rebelliert das Bauchgefühl: Es kann doch nicht richtig sein, eine so wichtige Entscheidung weitestgehend aus der Hand zu geben. Beim näheren Hinsehen wird schnell klar: Ganz unbegründet sind die Bedenken nicht. Die eingangs zitierte Studie zur Kandidat*innen-Wahrnehmung von Digitalisierung im Bewerbungsprozess macht klar: Kaum jemand will von einer Maschine eingestellt werden; mit Candidate Experience hat ein mechanisches Vorgehen zumindest auf den ersten Blick also nichts zu tun. Aber es gibt noch einen Grund: Die Nutzung eines Tools setzt das Eingeständnis des Entscheidenden voraus, dass ihre oder seine gedanklichen Fertigkeiten nicht oder nur begrenzt ausreichen, um wichtige Geschäftsentscheidungen zu treffen. Für Menschen, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, Entscheidungen zu treffen, dürfte das eine nur schwer zu akzeptierende Situation sein. Aktuell ist hier also eine Akzeptanzgrenze der digitalen Helfer im Bewerbungsprozess erreicht. Bleibt die Frage: Was lernt man daraus?
Das Beste aus zwei Welten
Die menschliche Wahrnehmung ist durch Vorlieben geprägt. Das ist nicht leicht zu akzeptieren, aber wie sieht es mit der Entscheidungsfähigkeit grundsätzlich aus? Angenommen es liegen einigermaßen vergleichbare Informationen über einen Kandidaten oder eine Kandidatin vor – wer kann dann besser entscheiden: der Mensch oder der Algorithmus? Tatsächlich gibt es gute Gründe anzunehmen, dass das menschliche Gehirn die bessere Entscheidung trifft als ein mathematisches Verfahren. Professor Gigerenzer vom Max-Planck-Institut in Berlin argumentiert, dass das menschliche Gehirn insbesondere bei unzureichenden oder vagen Informationen in der Lage ist, präzisere Einschätzungen abzugeben als die statistisch-mathematischen Prognosen. Dabei nutzen Menschen lediglich sehr einfache, robuste Pi-mal- Daumen-Regeln. Wiederholte Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Argumentation dem Praxistest sehr gut standhält [8]. Ein digitales Einzel-Assessment hilft also persönliche Präferenzen hinten an zu stellen. Und beim Entscheiden? Da sind einfache, nachvollziehbare Regeln und der Mensch als Entscheider wohl die bessere Wahl.
Und wozu das Ganze?
Bisher sind die meisten Unternehmen mit etwas Menschenkenntnis bei Bewerbungen sicher ganz gut gefahren – in kleiner Anzahl, in regionaler Abdeckung. Wir bei der KGS Software GmbH haben zwar einen festen Standort, stellen jedoch deutschlandweit ein. Viele Kolleg*innen arbeiten dann nach der Einarbeitung aus dem Home-Office. Ein Umstand, der immer mehr für Unternehmen zum Alltag wird, befinden wir uns doch in einem von der Corona-Krise noch stärker angeheiztem Wandel hin zur Homeoffice-Welt. Da es also keine Rolle spielt, wo jemand beheimatet ist, werden Kandidat*innen-Pools deutlich größer. Für Kandidat*innen bringt es natürlich einen größere Zeitbedarf mit sich – etwa durch die lange Anfahrt für persönliche Termine. Um den Bewerbungsprozess dennoch schnell zu gestalten, ist ein digitales Einzel-Assessment für uns zunehmend ein wichtiges Werkzeug. Auf diese Weise können wir den Kandidat*innen sehr schnell nach Bewerbungseingang einen ersten Einblick in potentiell zukünftige Aufgaben geben und gleichzeitig gemeinsam herausarbeiten, wo Stärken liegen.Die Zeitersparnis liegt aber nicht nur auf Seiten der Anwärter*innen. Auch das Unternehmen spart sich Zeit.[9] [10]
Es stellt sich dann die Frage: Schreckt ein digitales Assessment-Verfahren nicht auch Kandidaten ab? Unsere Erfahrung ist: Gute Kandidat*innen haben kein Problem damit, ihr Können unter Beweis zu stellen. Nur wenn man nicht ausreichend Informationen über das geplante Vorgehen bereitstellt, entsteht Ablehnung – und dann aus meiner Sicht, zu Recht. Wir bei KGS informieren Bewerber*innen zum Beispiel bewusst darüber, worauf wir bei der Auswertung achten und wie wir die Informationen im weiteren Prozess nutzen. Wenn Kandidat*innen trotz dieser umfänglichen Informationen Stärken nicht ausspielen können, ist meistens für beide Seiten klar, dass eine Zusammenarbeit zu diesem Zeitpunkt nicht gewinnbringend wäre.
Wertschätzung lässt sich nicht durch Technologie ersetzen
Im Mittelpunkt steht der Mensch! Leider ist das oft eher ein Lippenbekenntnis. Gerade deshalb bergen automatisierte Prozesse die Gefahr, dass sich Kandidat*innen als personelle Ressource fühlen. Schöner wäre doch, wenn sich die neuen technischen Möglichkeiten nutzen ließen, um Mehrwerte für alle zu bieten. Durch noch mehr Tools lässt sich das allerdings nicht herstellen – vielmehr braucht es ein neues Verständnis: Dass sich Kandidat*innen und Unternehmen auf Augenhöhe begegnen, sollte eine Selbstverständlichkeit sein.
Mir persönlich geht es um noch etwas anderes: Früher hat das Unternehmen geprüft, ob Kandidat*innen zu ihm passen – Bewerber*innen waren passive Informationsgeber. Heutzutage bewerben sich die Unternehmen bei ihren Kandidat*innen! Im gemeinsamen Termin wird kräftig die Werbetrommel gerührt. Besser wäre jedoch eine Perspektive, in der Kandidat*innen und das Unternehmen gemeinsam herausfinden, mit welchem Aufwand und welchen Erfolgsaussichten die anstehenden Aufgaben gemeistert werden können. Der Fokus sollte dabei auf den Stärken liegen und inwieweit diese zur ausgeschriebenen Stelle oder ggfs. einer anderen Stelle passen. In jedem Fall sollte Bewerber*innen durch einen schnellen, mehrwertorientierten Bewerbungsprozess ein Nutzen entstehen – unabhängig davon, ob er oder sie eingestellt wird oder nicht.
Quellen und Referenzen:
[1] Blacksmith, N., Willford, J. C., & Behrend, T. S. (2016). Technology in the employment interview: A meta-analysis and future research agenda. Personnel Assessment and Decisions, 2(1), 2.
[2] https://www.stepstone.de/wissen/stepstone-bpm-digitales-recruiting/
[3] https://pubpsych.zpid.de/pubpsych/Search.action?stats=PAV&isFullView=true&q=ID%3ADFK_0347686
[4] https://www.mckinsey.com/featured-insights/diversity-and-inclusion/diversity-wins-how-inclusion-matters#
[5] https://en.wikipedia.org/wiki/Algorithmic_bias
[6] Grove, W. M., Zald, D. H., Lebow, B. S., Snitz, B. E., & Nelson, C. (2000). Clinical versus mechanical prediction: a meta-analysis. Psychological assessment, 12(1), 19.
[7] Ægisdóttir, S., White, M. J., Spengler, P. M., Maugherman, A. S., Anderson, L. A., Cook, R. S., … & Rush, J. D. (2006). The meta-analysis of clinical judgment project: Fifty-six years of accumulated research on clinical versus statistical prediction. The Counseling Psychologist, 34(3), 341-382.
[8] Gigerenzer, G. (2008). Why heuristics work. Perspectives on psychological science, 3(1), 20-29.
[9] https://www.wirtschaftspsychologie-aktuell.de/nachrichten/nachrichten-20131203-online-assessments-zahlen-sich-aus.html
[10] https://hbr.org/2013/11/when-hiring-first-test-and-then-interview
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